Briefe über den Yoga. Sri Aurobindo
Читать онлайн книгу.Nebel mit dem Sonnenlicht einer klaren Schau zu vertreiben, so wie es hier geschah. Alles, was hier über modernen Humanismus und Humanitarismus gesagt wird, über die vergeblichen Bemühungen des sentimentalen Idealisten und des erfolglosen Intellektuellen, über synthetischen Eklektizismus und ähnliche Dinge, ist bewundernswert klarsichtig und trifft ins Schwarze. Nicht durch diese Mittel kann die Menschheit zur radikalen Veränderung ihrer Lebensweise gelangen – die so dringlich geworden ist –, sondern allein dadurch, dass sie das Grundgestein der Wirklichkeit dahinter erreicht – nicht durch bloße Ideen und mentale Formungen, sondern durch eine Bewusstseinsveränderung, durch eine innere und spirituelle Wende. Doch für diese Wahrheit würde man in dem gegenwärtigen Tosen aus vielstimmigem Lärm und aus Wirrnis und Katastrophe schwerlich Gehör finden.
Eine Unterscheidung, diejenige, die hier sehr deutlich gemacht wird zwischen der Ebene der phänomenalen Vorgänge, also der äußeren Prakriti, und der Göttlichen Wirklichkeit, steht an erster Stelle unter den Worten innerer Weisheit. Die Wende, die sie auf diesen Seiten nimmt, ist mehr als eine geniale Erklärung; sie drückt wohlüberlegt eine jener klaren Gewissheiten aus, denen du begegnest, wenn du die Grenzlinie überschreitest und die äußere Welt aus der Sicht der inneren spirituellen Erfahrung betrachtest. Je mehr du dich nach innen oder nach oben wendest, desto mehr verändert sich die Sicht der Dinge, und das äußere, von der Wissenschaft geordnete Wissen erhält seinen eigentlichen und sehr begrenzten Platz. Die Wissenschaft, wie das meiste mentale und äußere Wissen, vermittelt dir nur die Wahrheit des Vorgangs. Ich möchte hinzufügen, dass sie dir nicht einmal die volle Wahrheit des Vorganges geben kann;denn du ergreifst einige Wägbarkeiten, doch das überaus wichtige Unwägbare entgeht dir; du erfährst kaum das Wie sondern lediglich die Bedingungen, unter denen die Dinge in der Natur geschehen. Nach all den Triumphen und Wundern der Wissenschaft bleibt das erklärende Prinzip, das Rationale, die Bedeutung des Ganzen ebenso dunkel wie geheimnisvoll, wenn nicht geheimnisvoller denn je. Das Schema, das diese von der Evolution aufstellt – der Evolution dieser reichen, weiten, mannigfaltigen stofflichen Welt, des Mentals und seines Wirkens, des Lebens und Bewusstseins, als einer Evolution aus einer rohen Masse von Elektronen, identisch und verschieden nur in Anordnung und Zahl – ist irrationale Magie und verwirrender, als jede zuhöchst mystische Vorstellung es sich vergegenwärtigen könnte. Wissenschaft führt uns letzten Endes in ein fertiges Paradoxon, in einen geordneten und geradlinig determinierten Zufall in eine Unmöglichkeit, die irgendwie möglich wurde; sie hat uns eine neue, eine stoffliche Maya gezeigt, aghatana-ghatana-patiyasi, die sehr geschickt das Unmögliche zuwege bringt, ein Wunder, das logischerweise nicht sein kann und doch irgendwie wirklich ist, unfehlbar geordnet, aber dennoch irrational und unerklärlich. Der Grund hierfür ist offensichtlich darin zu suchen, dass die Wissenschaft etwas Essentielles verfehlt hat; sie hat erkannt und geprüft, was geschah und wie es geschah, doch sie hat ihre Augen vor etwas geschlossen, das dieses Unmögliche zuwege brachte, etwas, das es auszudrücken gilt. Die Dinge haben keine grundlegende Bedeutung, wenn du die Göttliche Wirklichkeit nicht erkennst, denn dann bleibst du in einer gewaltigen Oberflächenkruste einer manipulierbaren und nutzbaren Erscheinungswelt eingeschlossen. Du versuchst, den Zauber des Zauberers zu analysieren, doch erst wenn du das Bewusstsein des Zauberers erlangst, kannst du zu einer anfänglichen Erfahrung der wahren Ordnung, der Bedeutung und der Kreise der lila gelangen. Ich sage „anfänglich“, da die Göttliche Wirklichkeit nicht so einfach ist, dass du sie bei der ersten Berührung gleich zu erkennen oder in eine einzige Formel zu pressen vermagst; sie ist das Unendliche und öffnet vor dir unendliches Wissen, gegenüber dem alle Wissenschaft zusammengenommen nur eine Bagatelle ist. Du berührst das Wesentliche, das Ewige hinter den Dingen, und im Licht von jenem wird alles zuinnerst leuchtend und verständlich werden.
Ich habe dir früher schon einmal gesagt, was ich davon halte, wenn gewisse Wissenschaftler, die es gut meinen, an der Oberfläche – oder der scheinbaren Oberfläche – der spirituellen Wirklichkeit, die hinter den Dingen steht, sinnlos herumkritisieren, und ich brauchte es daher nicht nochmals zu tun. Viel wichtiger sind die Vorzeichen einer größeren Gefahr, die durch den neuen Angriff des Gegners, nämlich des Skeptikers, gegen die Gültigkeit spiritueller und überphysischer Erfahrung aufkommt – seine neueste Vernichtungstaktik, die darin besteht, diese anzuerkennen und in seinem eigenen Sinn zu deuten. Dies könnte durchaus ein Grund zur Befürchtung sein; doch zweifle ich, wenn diese Dinge einmal der Prüfung unterzogen sein werden, ob das Mental der Menschheit sich lange mit Erklärungen zufrieden geben wird, die so unbefriedigend oberflächlich und äußerlich sind – Erklärungen, die nichts erklären. Nicht nur diejenigen, die die Religion verteidigen, scheinen eine unvernünftige, leicht zu widerlegende Haltung einzunehmen, indem sie auf der nur subjektiven Gültigkeit spiritueller Erfahrung beharren, sondern auch der Gegner scheint unwissentlich die Tore der materialistischen Festung freizugeben durch seine Bereitwilligkeit, spirituelle und überphysische Erfahrung überhaupt zuzugeben und zu prüfen. Seine Verschanzung im physischen Bereich, seine Weigerung, überphysische Dinge anzuerkennen oder zu prüfen, waren die Wehr seiner großen Sicherheit; ist diese einmal aufgegeben, wird das menschliche Mental nach etwas weniger Negativem drängen und in einer förderlich positiven Haltung über die tote Masse der Theorien und über die Scherben annullierender Erklärungen und erfindungsreicher psychologischer Etikettierungen hinweggehen. Eine andere Gefahr mag dann aufkommen, nicht die einer endgültigen Leugnung der Wahrheit, sondern die Wiederholung vergangener Fehler in alter oder neuer Form; nämlich auf der einen Seite die Wiederbelebung eines blinden, fanatischen, obskuren und sektiererischen Religionismus, auf der anderen Seite ein Stolpern in die Gräben und Sümpfe des vitalistischen Okkulten und des Pseudospirituellen – Fehler, aus denen der materialistische Angriff der Vergangenheit seine ganze Kraft und sein credo bezog. Doch dies sind Erscheinungen, die uns immer an der Grenzlinie oder im Bereich zwischen materieller Dunkelheit und dem vollendeten Glanz begegnen. Trotz allem, der Sieg des höchsten Lichtes, selbst im dunklen Erdbewusstsein, besteht als die eine höchste Gewissheit.
Kunst, Dichtung, Musik sind nicht Yoga, keine in sich spirituellen Dinge, ebensowenig wie Philosophie oder Wissenschaft etwas Spirituelles ist. Hier lauert eine seltsame weitere Unfähigkeit des modernen Intellektes, sein Unvermögen, zwischen Mental und Spirit zu unterscheiden, seine Bereitwilligkeit, mentalen, moralischen und ästhetischen Idealismus für Spiritualität zu halten und dessen untere Stufen für spirituelle Werte. Es stimmt, die mentalen Intuitionen des Metaphysikers oder Dichters bleiben weit hinter einer konkreten spirituellen Erfahrung zurück; sie sind ferne Blitze, verschwommene Spiegelungen und nicht die Strahlen aus dem innersten Licht. Es stimmt weiterhin, dass, von oben betrachtet, kein großer Unterschied besteht zwischen den hohen geistigen Höhen und dem niederen Emporarbeiten dieses äußeren Daseins. Alle Kräfte der lila sehen von oben gleich aus, alle sind Verhüllungen des Göttlichen. Doch man muss hinzufügen, dass alles als ein anfängliches Hilfsmittel zur Verwirklichung des Göttlichen verwandt werden kann. Eine philosophische Äußerung über den Atman ist eine mentale Formulierung, sie ist nicht Wissen, nicht Erfahrung; dennoch wird sie vom Göttlichen manchmal zum Anlass einer Berührung genommen; es ist seltsam, eine Barriere im Mental bricht nieder, etwas wird erkannt, es vollzieht sich eine tiefe Wandlung in einem inneren Teil, etwas Stilles, Gleichmütiges, Unsägliches dringt in die Tiefen der menschlichen Natur. Oder man steht auf einem Bergkamm und erblickt oder fühlt eine Größe, ein Durchdrungensein, eine namenlose Weite in der Natur; dann plötzlich die Berührung – eine Enthüllung, ein Fluten, das Mental verliert sich im Spirituellen, man hält dem ersten Einbruch des Unendlichen stand. Oder du stehst vor einem Tempel der Kali an einem heiligen Fluss und siehst eine Skulptur, ein feines Stück Bildhauerarbeit, doch an ihrer Stelle in einem jähen Augenblick, geheimnisvoll, unerwartet, ist da eine Gegenwart, eine Macht, ein Gesicht, das in das deine blickt, deine innere Schau hat die Welt-Mutter erkannt. Ähnliche Berührungen können über die Kunst, die Musik, die Dichtung zu demjenigen kommen, der sie hervorbringt, oder zu einem, der die Gewalt des Wortes fühlt, den verborgenen Sinn einer Form, die Botschaft im Klang, die vielleicht mehr enthält, als vom Komponisten bewusst beabsichtigt war. Alle Dinge der lila, des Göttlichen Spiels, können zu Fenstern werden, die sich einer verborgenen Wirklichkeit öffnen. Und dennoch, solange man sich damit zufrieden gibt, durch Fenster zu blicken, ist nur ein erster Erfolg zu verzeichnen; eines Tages wird man den Pilgerstab nehmen müssen und sich auf die Wanderschaft machen nach dort, wo die Wirklichkeit für immer manifest und gegenwärtig ist. Noch weniger aber kann es spirituell befriedigen,