Briefe über den Yoga. Sri Aurobindo

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Briefe über den Yoga - Sri Aurobindo


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zum Stillstand kommen? Oder besteht ihr ganzes Geheimnis lediglich aus einer Folge von Wiedergeburten, mit dem einzigen Ziel und Zweck sich zu jenem Punkt durchzuarbeiten, an dem sie ihre eigene Sinnlosigkeit erkennt und, auf sich selbst verzichtend, den Sprung in ein ursprünglich ungeborenes Sein oder Nicht. Sein tut. Zumindest besteht die Möglichkeit und ab einem gewissen Punkt die Gewissheit, dass es ein weit größeres Bewusstsein gibt als jenes, das wir Mental nennen; und wenn wir die Leiter weiter aufwärts steigen, können wir einen Punkt erreichen, an dem die Umklammerung der stofflichen Unbewusstheit, die vitale und mentale Unwissenheit endet. Ein Bewusstseins-Prinzip gelangt hier zur Manifestation, das nicht teilweise und unvollkommen, sondern radikal und gänzlich dieses gefangene Göttliche befreit. In dieser Sicht erscheint jedes Stadium der Evolution als Ergebnis der Herabkunft einer immer größeren und höheren Bewusstseins-Macht, die das Erdendasein erhöht und eine neue Daseinsebene schafft; die höchsten jedoch müssen noch herabkommen, und das Rätsel des Erdendaseins wird durch ihre Herabkunft seine Lösung erfahren und nicht nur die Seele, sondern die Natur selbst wird ihre Befreiung erlangen. Dies ist die Wahrheit, die zu Beginn aufflackerte, und die später immer deutlicher in ihrer ganzen Fülle von dem Geschlecht jener Seher geschaut wurde, die der Tantrismus die Helden-Seher oder göttlichen Seher nennen würde, und die sich jetzt möglicherweise dem Stadium ihrer vollen Enthüllung und Erfahrung nähert. Und wie schwer auch immer die Last des Haders und des Leidens und der Finsternis in dieser Welt ist, wenn dies uns als hohes Ergebnis erwartet, wird alles Vorherige von den Starken und Wagemutigen im Hinblick auf die Herrlichkeit, die kommen wird, als nicht zu hoher Preis gewertet werden. Auf jeden Fall, der Schatten weicht: ein Göttliches Licht dämmert über der Erde, nicht nur ein ferner, unerreichbarer Schein.

      Trotzdem bleibt die Frage bestehen, warum all dies notwendig war, diese rohen Anfänge, der lange, stürmische Weg, warum dieser hohe, kaum zu leistende Preis, warum all das Böse und das Leid? Was hingegen das Wie des Sturzes in die Unwissenheit im Gegensatz zu dem Warum anbelangt, die wirkende Ursache, so findet man in aller spirituellen Erfahrung eine wesenhafte Übereinstimmung. Die Spaltung, die Trennung, das Prinzip der Absonderung von jenem Bleibenden und Einen war die Ursache, und weil das Ego sich in der Welt festsetzte und sein Begehren, seine Selbst-Anmaßung hervorkehrt und diese der Einung mit dem Göttlichen, sowie dem Einssein mit dem Ganzen vorzieht; statt der einen höchsten Kraft, der höchsten Weisheit, statt des einen höchsten Lichtes, welche die Harmonie aller Kräfte bestimmen, konnte sich jede Idee und Kraft und Form der Dinge so weit wie möglich in der Vielzahl unendlicher Möglichkeiten durch ihren eigenen Willen und in der Folge unweigerlich durch den Widerstreit untereinander entwickeln. Die Spaltung, das Ego, ein unvollkommenes Bewusstsein, das Suchen und Kämpfen einer auf sich bedachten Selbst-Behauptung sind die wirkende Ursache von Leid und Unwissenheit dieser Welt. Sobald die verschiedenen Bewusstseinsformen sich von dem einen Bewusstsein absonderten, fielen sie notgedrungen in die Unwissenheit, und die letzte Konsequenz der Unwissenheit war die Unbewusstheit. Aus einer dunklen, ungeheuerlichen Unbewusstheit erhebt sich diese stoffliche Welt und aus ihr eine Seele, die sich über die Evolution zur Bewusstheit durchringt, angezogen von dem verborgenen Licht und emporstrebend, zwar blind noch, hin zur verlorenen Gottheit, aus der sie stammt.

      Doch warum geschah all dies überhaupt? Eine weitverbreitete Art diese Frage zu stellen und zu beantworten sollte von Anfang an ausgeschieden werden – nämlich die typisch menschliche Art: das ethische Aufbegehren, die Missbilligung, der emotionale Aufschrei. Denn wir haben es nicht, wie einige Religionen vermuten, mit einer überkosmischen, willkürlichen, persönlichen Gottheit zu tun, die an dem Sturz selbst völlig unbeteiligt ist und die das Böse und das Leid jenen Geschöpfen auferlegte, die sie in einer Laune durch ihr fiat erschuf. Das Göttliche ist, wie wir wissen, ein Unendliches Wesen, in dessen unendliche Manifestation diese Dinge gerieten, – es ist das Göttliche selbst, das hier ist, hinter uns, das die Manifestation durchdringt und die Welt mit seinem Einssein stützt. Es ist das Göttliche in uns, das selbst die Bürde des Sturzes und seine dunklen Folgen trägt. Und wenn Es für immer in seinem vollkommenen Licht, seiner Seligkeit, seinem Frieden über allem steht, dann ist Es ebenfalls hier. Sein Licht, seine Seligkeit und sein Frieden stützen insgeheim alles auf Erden; und in uns selbst wohnt ein Spirit, eine zentrale Gegenwart – größer als unsere Persönlichkeiten der Oberfläche –, die wie das höchste Göttliche selbst von dem Schicksal, das sie erduldet, nicht überwältigt wird. Wenn wir dieses Göttliche in uns entdecken, wenn wir uns selbst als diesen Spirit erkennen, der von der gleichen Essenz und dem gleichen Wesen wie das Göttliche ist, dann haben wir unsere Pforte der Befreiung gefunden und vermögen inmitten der Disharmonien der Welt wir selbst zu sein – leuchtend, heiter und frei. Dies ist die uralte Erkenntnis spiritueller Erfahrung.

      Und dennoch, was ist der Sinn, der Ursprung dieser Disharmonie – warum entstand diese Spaltung, dieses Ego, diese Welt einer leidvollen Entfaltung? Warum mussten das Böse und der Kummer in das göttliche Gute eindringen, in die Glückseligkeit, in den Frieden? Es ist schwierig, dies dem menschlichen Verstand auf seiner Ebene zu beantworten, denn das Bewusstsein, dem der Ursprung dieses Phänomens angehört – vor dem es gleichsam in überintellektueller Erkenntnis gerechtfertigt steht –, ist ein kosmisches und nicht das individualisierte menschliche Erkenntnisvermögen; es sieht in weitere Räume, hat eine andere Schau, ein anderes Wissen, andere Bewusstseinsbegriffe als der menschliche Verstand und das menschliche Gefühl. Dem menschlichen Mental könnte man vielleicht derart antworten: das Unendliche ist in sich zwar frei von diesen Störungen, doch mit dem Beginn der Manifestation begann ebenfalls die unendliche Möglichkeit; und unter den unendlichen Möglichkeiten, die zu verwirklichen Aufgabe der universalen Manifestation ist, war die Verneinung ganz offensichtlich eine davon, jene scheinbar so wirkungsvolle Verneinung der Macht, des Lichtes, des Friedens, der Glückseligkeit mit all ihren Folgen. Und auf die Frage, warum diese Möglichkeit angenommen wurde, lautet die Antwort des menschlichen Verstandes, die der Kosmischen Wahrheit am nächsten kommt, folgendermaßen: in den Beziehungen oder im Übergang des Einen Göttlichen zum Göttlichen in den Vielen wurde diese unheilvolle Möglichkeit an einem bestimmten Punkt zur Unvermeidlichkeit. Und einmal vorhanden, übt sie auf die Seele, welche in die sich entfaltende Manifestation herabkommt, eine unwiderstehliche Anziehungskraft aus, die diese Unvermeidbarkeit hervorruft, – eine Anziehung, die in menschlichen Begriffen auf der Erd-Ebene als Ruf des Unbekannten gedeutet werden kann, als Freude an der Gefahr, an der Schwierigkeit, am Abenteuer, als Wille, das Unmögliche zu versuchen und das Unvorhersehbare zu verwirklichen, als Wille, das Neue und Unerschaffene mit dem eigenen Selbst und Leben als Stoff zu erschaffen, als die Faszination der Widersprüche und ihre schwierige Harmonisierung. Diese Dinge, übertragen auf ein anderes überphysisches, übermenschliches Bewusstsein, höher und weiter als das mentale, waren die Versuchung, die zum Fall führte. Denn für das ursprüngliche Lichtwesen, das im Begriff war herabzukommen, gab es nur ein Unbekanntes, die Tiefe des Abgrunds und die Möglichkeiten des Göttlichen in der Unwissenheit und Unbewusstheit. Andererseits geht vom Göttlichen Einssein eine unendliche Billigung aus, mitleidsvoll, zustimmend, hilfreich, ein höchstes Wissen, dass all dies zu geschehen hat, dass das einmal Erschienene ausgearbeitet werden muss, dass sein Vorhandensein in gewisser Weise Teil einer unermesslichen, unendlichen Weisheit ist, dass der Sturz in die Nacht zwar unvermeidlich war, doch das Auftauchen in einen neuen, noch nie dagewesenen Tag ebenfalls gewiss ist und allein auf diese Weise eine bestimmte Manifestation der Höchsten Wahrheit bewirkt werden kann – nämlich durch Ausarbeitung seiner formgewordenen Gegensätze als Ausgangspunkt der Evolution und als Voraussetzung eines umwandelnden Neu-Auftauchens. In dieser [Göttlichen] Billigung war ebenfalls die Bereitschaft zum großen Opfer mit eingeschlossen, die Herabkunft des Göttlichen selbst in diese Unbewusstheit, damit es die Bürde der Unwissenheit und ihre Folgen auf sich nehme, damit es als avatara und vibhuti vermittle und unter dem zweifachen Zeichen des Kreuzes und des Sieges der Erfüllung und Befreiung entgegenschreite. Ist dies eine zu phantasievolle Darlegung einer nicht auszudrückenden Wahrheit? Wie vermöchte man sonst, ohne Gleichnisse zu gebrauchen, dem Verstand ein Mysterium deuten, das weit jenseits seiner selbst liegt? Erst wenn man die Schranke der begrenzten Intelligenz überschritten und an der kosmischen Erfahrung, dem kosmischen Wissen teilgehabt hat, welche die Dinge in ihrem Einssein sehen, nehmen die höchsten Realitäten hinter diesen Gleichnissen – Gleichnisse, die mit der Wirklichkeit der Erde übereinstimmen – ihre göttlichen Formen an und werden als einfach und natürlich empfunden und als essentiell in den Dingen enthalten. Allein indem man


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