Sprachgewalt. Группа авторов
Читать онлайн книгу.als Bindung zu einer sozialen Gruppe ist affektiv und »durch die ganze Persönlichkeit des Handelnden motiviert«; Verpflichtung hingegen ist regelgeleitet, zum Beispiel beim Befolgen von Gesetzen; Bekenntnisse (commitments) beinhalten eine Wahl, einen Entschluss.20 Die für Shklar maßgebliche Frage ist, was passiert und wie sich die Konflikte entwickeln, wenn der Staat oder die Gruppe auf den »Pfad der Ungerechtigkeit« gerät und Mitglieder ins Exil treibt, ausstößt und verrät (durch politischen, aber auch durch ökonomischen Verrat). Shklar sieht die Staatenwelt heute nicht mehr im Stande, die Probleme des Exils zu lösen: »Die meisten Menschen fürchten nicht einfach das Exil in der Fremde; viele werden Exilanten in einer ewigen Vorhölle sein.«21 In dieser Situation wird die Stimme des Gewissens des Einzelnen wieder laut. Shklar vergleicht sie mit der Situation der Sklaverei in den USA: »Eine Ungerechtigkeit, so immens wie die Sklaverei, muss, zumal in einem ansonsten einigermaßen gerechten Staat, moralische Entrüstung hervorrufen. Und manche der Amerikaner, die entschlossen waren, die Sklaverei zu beenden, fanden sich in einer sonderbaren Situation wieder. Diejenigen unter ihnen, die meinten, dass die gesamte amerikanische Verfassung, nicht bloß einzelne Paragrafen, ein Dokument der Sklaverei sei, konnten keine Verpflichtung spüren, den Gesetzen überhaupt zu gehorchen.«22 Es entsteht ein moralisches Vakuum; diejenigen, die sich nicht damit abfinden wollen, sehen sich in das Böse verwickelt, was immer sie tun, und sind auch von den Opfern getrennt, weil selbst (noch) nicht ausgestoßen. Es bleibt ihnen nur noch »das Argument des reinen Gewissens« im »inneren Exil«, da sie »durch die Ungerechtigkeit, die sie um sich herum wahrnehmen, so vollkommen isoliert sind, dass alle ihre Loyalitäts- und Treuebande zusammen mit ihren politischen Verpflichtungen unterhöhlt wurden.«23
Das Grundgesetz enthält allerdings ein Grundrecht im Artikel 4, noch vor der Meinungsfreiheit, nur hinter der Menschenwürde, der Freiheit und Unverletzlichkeit der Person, und der Gleichheit vor dem Gesetz, das genau diese Erfahrung aus dem Nationalsozialismus zu beherzigen scheint: »(1) Die Freiheit des Glaubens, des GEWISSENS und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich.« Der Verfassungsbuchstabe jedenfalls unterstützt die Einzelnen darin, angesichts des großen, auch von Deutschland mitverschuldeten Unrechts an den Grenzen, nicht ins innere Exil zu müssen. Ob die deutsche Verfassungskultur dieser immensen Herausforderung gewachsen ist, scheint noch nicht ausgemacht. Ein Mehrwert durch Patriotismus welcher Art auch immer ist jedenfalls nicht zu erkennen.
1Ives Bizeul: Nationalismus, Patriotismus und Loyalität zur offenen Republik, in: Politik und Zeitgeschichte, 1.2.2007, 21.12.2006, ‹https://www.bpb.de/apuz/30737/nationalismus-patriotismus-und-loyalitaet-zur-offenen-republik?p=all#fr-footnodeid_32›.
2Das Handwörterbuch der griechischen Sprache übersetzt patriotes als »der aus dem nämlichen Lande ist, Landsmann, Mitbürger, aber […] nur von Barbaren […] u. von Sklaven« (‹https://books.google.ch/books?id=PkQyAAAAQAAJ&printsec=frontcover&hl=de&source=gbs_ge_summary_r#v=onepage&q&f=false›). Der griechische Mitbürger hingegen wurde polites genannt. Die Loyalität galt der Polis, nicht Griechenland.
3Res Publica im doppelten Wortsinn – wenn man also keine Römische Republik und keine öffentlichen Belange mehr hat, für die man sich verantwortlich fühlen kann. Der Sinnspruch ist eine Verkürzung des Cicero-Zitats »patria est, ubicumque est bene« (Cicero: Gespräche in Tusculum: Beeinträchtigen äußere Mängel das glückselige Leben? 108.3 – 109.5, ‹https://www.gottwein.de/Lat/Cic-Tusc/tusc5097.php›). In Aristophanes’ Theaterstück Plutus (Der Reichtum) erscheint der Spruch ins Negative gewendet, wenn der Götterbote Hermes bereit ist, die Götter zu verraten und die Götterwelt zu verlassen, nur um wieder von den Menschen mit Opfergaben gefüttert zu werden, ‹http://www.online-literature.com/aristophanes/plutus/1/›.
4Horaz: Carmen 3.2: Tapferkeit im Kampf, ‹https://www.gottwein.de/Lat/hor/horc302.php›.
5Giorgio Agamben: Homo Sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, Frankfurt a. M. 2002.
6‹https://de.pons.com/%C3%Bcbersetzung/latein-deutsch/bonus›.
7Peter Sprengel: Rudolf Borchardt. Der Herr der Worte, München 2015.
8Carl von Ossietzky: Der Weltbühnen-Prozeß, in: Weltbühne, 1.12.1931.
9Walter Hasenclever an Kurt Wolff und Helene Mosel, 1.12.1931, Kurt Wolff Archive, Beinecke Rare Book and Manuscript Library, YCGL MSS 3, Box 4, Folder 125.
10Dolf Sternberger: Das Vaterland, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16.9.1959, abgedruckt in: Günter C. Behrmann/Siegfried Schiele (Hg.), Verfassungspatriotismus als Ziel politischer Bildung? Didaktische Reihe der Landeszentrale für Politische Bildung Württemberg, Schwalbach/Ts. 1993, S. 1-2.
11Dolf Sternberger: Verfassungspatriotismus, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23.5.1979; abgedruckt in ebd., S. 2-4.
12Jürgen Habermas: Staatsbürgerschaft und nationale Identität, in: ders., Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats, Frankfurt a. M. 1990, S. 632-660.
13Ebd., S. 639, 640, 650.
14Jan-Werner Müller: Verfassungspatriotismus, Eine systematische Verteidigung, in: Vorgänge 3/2010, S. 111-118, hier S. 114.
15Ebd., S. 111.
16Kanzlerin Merkel in der Generaldebatte im Deutschen Bundestag: »Andere einbeziehen – im deutschen Interesse«, 21.11.2018, ‹https://www.bundeskanzlerin.de/bkin-de/aktuelles/andere-einbeziehen-im-deutschen-interesse-1552674›.
17Robert Rossmann: Wenn Bilder stören, in: Süddeutsche Zeitung, 14.12.2016, ‹https://www.sueddeutsche.de/politik/politiker-videos-wenn-bilder-taeuschen-1.3293415›.
18Stephan Lessenich: Die Linke entdeckt die Nation – mal wieder, in: Deutschlandfunk Kultur, Politisches Feuilleton, 20.6.2018, ‹https://www.deutschlandfunkkultur.de/spd-und-patriotismus-die-linke-entdeckt-die-nation-mal.1005.de.html?dram:article_id=420770›.
19Judith N. Shklar: Verpflichtung, Loyalität, Exil, hg. und übersetzt von Hannes Bajohr, Berlin 2019. Der amerikanische Originaltext erschien 1998.
20Ebd., S. 20.
21Ebd., S. 45/46.
22Ebd., S. 46.
23Ebd., S. 49/50.
Volk
Jörn Retterath
Wenige Tage vor Weihnachten 1916 montierten Handwerker die Worte »DEM DEUTSCHEN VOLKE« über dem Westportal des Berliner Reichstagsgebäudes. Diesem Schritt waren über 20 Jahre Diskussion vorausgegangen. Die Anbringung des Schriftzugs, den der Reichstagsarchitekt Paul Wallot bereits in den 1890er-Jahren vorgeschlagen hatte, war zunächst am Widerstand Kaiser Wilhelms II. gescheitert. Erst während des Ersten Weltkriegs gab der Monarch sein Veto auf – allerdings ohne den Weihespruch ausdrücklich gutzuheißen. Mit der Installation der drei Wörter wollte die Reichsregierung die Stimmung in der Bevölkerung zugunsten des kriegführenden wilhelminischen Kaiserreichs heben. Den siebzehn jeweils sechzig Zentimeter hohen, aus französischen Geschützen