Gegendiagnose. Группа авторов
Читать онлайн книгу.Mood Dysregulation Disorder, welche Wutausbrüche bei Kindern als Störung klassifiziert, wird Kritik geübt. Die psychiatrische Kritik stört sich am Aufweichen der Diagnosekriterien und warnt vor einer »Diagnose-Epidemie« (vgl. Bühring 2013). »Belastungen und Lebenskrisen« würden zu »psychischen Erkrankungen« (vgl. Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde 2013) erklärt, was wissenschaftlich nicht fundiert sei. Psychiatrische Diagnosen als Krankheitskategorien seien Ausdruck eines medizinischen Versorgungsbedarfs. Da Krankheiten stets mit Störungen von Organfunktionen einhergehen würden, sei diese Ausweitung nicht haltbar. Dies ignoriert völlig, dass auch andere psychiatrische Diagnosekategorien nicht biologisch ursächlich fundiert sind. Die psychiatrische Kritik am DSM-V bezieht sich somit auf die Verwischung der Grenze zwischen angenommenen richtigen Kranken und eigentlich Gesunden. Was psychiatrische Kreise stört, ist das indirekte Eingestehen des pragmatischen Charakters psychiatrischer Kategorien im DSM-V. Das erklärte Ziel der Forschungen im Rahmen der Herausgabe des DSM, biologische Ursachen psychischer Krisen_Zustände zu belegen, ist gescheitert. Mit der Ausweitung der Diagnosekategorien wird quasi eingeräumt, dass diagnostische Kategorien als Grundlage für eine Kostenerstattung und Krankschreibung dienen und nicht als Krankheitskategorien im Sinne körperlicher Krankheiten verstanden werden können. Der Aufschrei in psychiatrischen Kreisen kann auch als Angst einer Zunft gedeutet werden, deren Legitimation auf der Annahme natürlich gegebener Krankheiten und ihres krankheitsspezifischen Wissens um diese basiert.
Wenn im DSM-V Trauer nach 2 Wochen als krank eingeordnet werden kann, wird die distinkte Trennung zwischen krank und gesund ad absurdum geführt. Es ist logisch, dass eine psychiatrische Perspektive, deren Ziel ja in der Schärfung dieser Trennung liegt, dies kritisiert. Auch aus linker Perspektive ist die Ausweitung diagnostischer Kategorien kritisch zu sehen. Diese verschärft den Eindruck, immer mehr Menschen seien psychisch »krank«, anstatt gesellschaftliche Verhältnisse in den Fokus zu rücken. Linke Kritik darf natürlich nicht übersehen, dass es bei vielen Menschen einen realen Bedarf an Unterstützung gibt. Sie muss jedoch Fragen danach stellen, wie diese Unterstützungsgewährung gesellschaftlich begründet wird, warum professionelles Wissen im Gegensatz zu Erfahrungswissen als legitim gilt und welche gesellschaftlichen Missstände durch psychiatrische Praxen verschleiert werden. Es gilt einen emanzipatorischen Umgang mit psychischen Krisen_Zuständen und Alternativen der Unterstützung aufzuzeigen und zu schaffen.
Der vorliegende Sammelband trägt dazu einen wichtigen Teil bei, indem die Sprachlosigkeit durch ein Sprechen ersetzt wird, welches nicht die bestehenden Machtverhältnisse und Wahrheitsannahmen reproduziert und damit weiterträgt. Die Beiträge des Sammelbandes benennen klar den Konstruktcharakter psychiatrischer Diagnosen sowie die gesellschaftliche Kontextualität psychischer Krisen_Zustände. Sie zeigen alternative Ideen zum Umgang mit psychischen Krisen_Zuständen, hinterfragen aber auch die Annahme, diese seien in jedem Fall behandlungswürdig. Sie fordern einen Raum für Verrücktheit ein und betonen die Wichtigkeit einer grundsätzlichen Existenzberechtigung dieser. Die Herausforderung, welche es darstellt eine Gegenposition zum herrschenden Diskurs zu entwickeln, wird in diesem Sammelband angenommen. Die fundierten und kreativen Beiträge zeigen die Bandbreite aktueller linker Psychiatriekritik und schaffen es so die Wichtigkeit dieser zu belegen.
Quellenverzeichnis
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Einleitung der Herausgeber_innen
Cora Schmechel/Fabian Dion/Kevin Dudek/Mäks* Roßmöller
Psychiatriekritik scheint heutzutage, wie Nina U. in ihrem Vorwort schreibt, wieder en vogue und selbst im bürgerlichen Mainstream angekommen zu sein. Die »Diskussion«, konstatiert sie, »ist [jedoch] von psychiatrischen Sichtweisen geprägt und macht einen Bogen um grundlegende kritische Fragen.« Denn die Kritik von Allen Frances & Co. reibt sich lediglich an den aktuell in den DSM-Katalog aufgenommenen Diagnosen und den Interessen der Pharma-Industrie – vermissen lässt sie eine grundsätzliche Gesellschaftskritik, wie sie noch die Alte und Neue Antipsychiatrie enthält.
Auch im linksradikalen Kanon hat die Kritik an der Institution Psychiatrie in den vergangenen Jahrzehnten ihren Platz eingebüßt, was sich nicht zuletzt im linken Alltag anhand von Verweisen auf die Notwendigkeit professioneller Hilfe in Krisensituationen oder von einer Sanktionierung befremdlicher Verhaltensweisen als ›psycho‹ oder ›krank‹ bemerken lässt. Weil Teile der damaligen antipsychiatrischen Forderungen seit den 1970er Jahren im Zuge der Reformierung der psychiatrischen Verwahranstalten in niedrigschwelligere Formen wie die Sozialpsychiatrie als umgesetzt erscheinen, kommt eine heutige Kritik wie aus der Zeit gefallen daher.
Nichtsdestotrotz ist weiterhin richtig, dass eine antipsychiatrische Kritik nicht allein bei der Einweisung in die Psychiatrie stehen bleiben darf und stärkeres Gewicht auf die den Diagnosen zu Grunde liegenden Konzepte von Normalität und psychischer Gesundheit legen muss. Sollte sich daher eine anti-psychiatrische Kritik nicht ebenso als kritisch gegenüber der Disziplin der Psychologie verstehen? Wie müsste eine Kritik an Psychologie und Psychiatrie beschaffen sein, die an die Wurzel geht und nicht in die Falle der Alten Antipsychiatrie tappt;