Gegendiagnose. Группа авторов

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Gegendiagnose - Группа авторов


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      Fiona Kalkstein und Sera Dittel kritisieren in ihrem Aufsatz »Zur Ver_rückung von Sichtweisen: Weiblichkeit* und Pathologisierung im Kontext queer-feministischer psychologischer Auseinandersetzungen« die immanenten Hetero-und Cis-Sexismen und Weiblichkeitsabwertungen in der psychologischen Theorie und Praxis, diskutieren Klassiker_innen der feministischen Psychiatriekritik und machen Ansätze aus der Kritischen und aus der feministischen Psychologie produktiv. Ausgehend von der klassischen Frauentherapie argumentieren sie für die Integration queerfeministischer Ansätze in der Psychotherapie, um den gesellschaftlichen Machtverhältnissen, die vom DSM ausgeblendet werden, Rechnung zu tragen.

      In »›Die Unfähigkeit zum Widerstand wird hier Moral.‹ Eine feministische Irrfahrt ins Reich der Verhaltenstherapie« überführen Christiane Carri und Heidrun Waldschrat die verhaltenstherapeutischen Strategien zur Behandlung einer ›Borderline-Persönlichkeitsstörung‹ der Parteilichkeit für die herrschenden Verhältnisse, indem sie potentielle Therapieerlebnisse mit den Ansprüchen psychologischer und philosophischer Theorien konfrontieren. Thematisiert werden dabei unter anderem ein unhinterfragtes Therapeut_in-Patient_in-Verhältnis, die Pathologisierung von Homosexualität, die Psychologisierung abweichenden Verhaltens und der Sexismus innerhalb des therapeutischen Settings.

      Im letzten Block, der unter dem Titel Kritik der Psychiatriekritik läuft, üben die Autor_innen eine konstruktive Kritik an der bestehenden Psychiatriekritik.

      Im eröffnenden Aufsatz »Das Trilemma der Depathologisierung« arbeitet Mai-Anh Boger die je eigenen Widersprüche heraus, mit denen eine Bewegung wie die antipsychiatrische grundsätzlich konfrontiert ist, will sie den herrschaftlichen Diskurs überwinden. Sie liefert dabei ein tieferes Verständnis dafür, wie eine Kritik des pathologisierenden Diskurses aussehen kann, die das reale Leid der Menschen nicht verleugnet oder deren Wunsch nach Teilhabe an einem bürgerlichen Leben rundweg ablehnt.

      Eine Dokumentation der politischen Arbeit des Berliner AK Psychiatriekritik namens »Der AK Psychiatriekritik – wider die psychiatrische Macht« gibt in ihrem Hauptteil einen Einblick in die internen Debatten der Gruppe zur Frage der Betroffenheit. Dabei geht es um Möglichkeiten und Grenzen eines erweiterten Begriffs von Betroffenheit, der die Inanspruchnahme psychologisch-psychiatrischer Hilfsangebote weder moralisch kritisiert noch deren institutionelle Zwänge verharmlost. Welche Konsequenzen ein erweiterter Betroffenheits-Begriff für die Arbeit als politische Gruppe aber auch für den Umgang mit Krisensituationen innerhalb der linksradikalen Szene nach sich zieht, ist ebenfalls Gegenstand der hier abgebildeten Diskussion.

      Dass sich die antipsychiatrische Bewegung nicht selten antisemitischer und shoahrelativierender Argumentationsmuster bedient, dokumentiert der daran anschließende Beitrag »›Nazi, werde schleunigst Arzt. Sonst holt der auch Dich!‹ Zur Shoarelativierung in der Antipsychiatrie« von Kevin Dudek. Sowohl auf basisaktivistischer als auch auf politisch hochrangiger Ebene trifft man innerhalb der Antipsychiatrie auf Verschwörungstheorien, wonach die Psychiatrie für die nationalsozialistische Vernichtung der europäischen Jüdinnen und Juden verantwortlich sei, auf Kontinuitätsbehauptungen, Gleichsetzungen oder Vergleiche mit der Hexenverfolgung. Statt die Ursachen für die Zumutungen der Psychiatrie im NS zu suchen und damit eine besondere Form des Geschichtsrevisionismus zu betreiben, plädiert der Autor für eine Analyse, die – eingedenk der nationalsozialistischen Massenvernichtung – das Heute fokussiert.

      Den Abschluss bildet Lars Distelhorst, der in seinem Beitrag »Kein Ausgang. Zum komplementären Verhältnis von Diagnose und Inklusion« die Konzepte von Inklusion und Pathologisierung hinterfragt und mit dem poststrukturalistischen – und in diesem Fall auch bürgerlichen – Vor-Urteil aufräumt, dass die Menschen durch das neue DSM einfach nur stärker als bisher ausgegrenzt würden. Stattdessen kann er unter Einbeziehung der postfordistischen Produktionsbedingungen aufzeigen, wie Inklusion und Pathologisierung Hand in Hand gehen und die Menschen für die veränderten ökonomischen Anforderungen nutzbar machen: Die Pathologisierung, indem sie die Schwelle des ›Krankhaften‹ heruntersetzt und entdramatisiert; die Inklusion, indem sie an das frühzeitig entdeckte ›Krankhafte‹ andockt und es in die Produktion einspeist.

      Danksagung

      Wir möchten uns an dieser Stelle sowohl bei allen siebzehn Autor_innen als auch bei allen Lektor_innen – darunter Mo Winter, Christian Küpper, Rosch, Conni* Krämer, Anne Roth, Catalina Körner und Lukas Engelmann – für die kollegiale Zusammenarbeit sehr herzlich bedanken! Besonderer Dank gebührt außerdem allen solidarischen Kritiker_innen und (anonymen) Begleiter_innen des Projekts, die uns entweder von Anfang an oder zu bestimmten Zeitpunkten in ideeller, handwerklicher oder finanzieller Hinsicht unterstützt haben – darunter Ulrike Klöppel, Kristin Witte, Chris ›Brudi‹ Kurbjuhn, Sebastian Friedrich, Rina Rosentreter, ABqueer e.V. und die Berliner Asten. Ohne den anfänglichen Zuspruch und die kontinuierliche Unterstützung von Willi Bischof und den Mitarbeiter_innen des Verlags edition assemblage wäre dieser Band nicht zu Stande gekommen. Nicht zuletzt freuen wir uns über Anregungen und Kritik zum Buch sowie Interesse für die geplante Buchreihe und hoffen auf eine konstruktive und stetige Weiterentwicklung der Debatte(n), die voranzutreiben unser Wunsch war.

      Kontakt: [email protected]

      Berlin, April 2015

I. Analysen zur Funktion der psychiatrischen Institution

       Inklusiv und repressiv. Zur Herrschaftsförmigkeit der reformierten Psychiatrie

      Stephan Weigand

      Die einst deutlich hörbare Stimme der Antipsychiatrie ist weitgehend verstummt. Die Psychiatrie hat sich in der Mitte der Gesellschaft etabliert. Immer mehr Menschen befinden sich in psychiatrischer Behandlung. Auch in der linken Szene wird schnell dazu geraten, sich in Krisen ›professionelle Hilfe‹ zu suchen oder sich ›freiwillig‹ in eine Klinik zu begeben. Welche Veränderungen seit der Psychiatriereform stattgefunden haben und wie das psychiatrische System heute aussieht, soll in meinem Beitrag beleuchtet werden. Wie erklärt sich etwa, dass die Psychiatriereform zwar die Anstalten verkleinert hat, die Gesamtzahl der psychiatrischen Institutionen aber stark angewachsen ist? Wie ist es zu verstehen, dass die modernisierte Psychiatrie einerseits auf Inklusion und Partizipation setzt, andererseits die Zahl der erzwungenen Einweisungen seit Jahren ansteigt? Und kann diese janusköpfige Psychiatrie im Zusammenhang mit der postfordistischen Wandlung des Kapitalismus verstanden werden? Im ersten Teil des Beitrags skizziere ich die Dimensionen der heutigen Psychiatrie, indem ich einen Überblick über die zentralen psychiatrischen Sektoren von den stationären Settings über den Wohn- und Arbeitsbereich hin zu den politischen und administrativen Strukturen gebe. Im zweiten Teil des Artikels konfrontiere ich das psychiatrische System mit grundlegenden Kritiken. Dabei unternehme ich den Versuch ältere Analysen der Gemeindepsychiatrie wieder ins Bewusstsein zu bringen und mit einem kapitalismuskritischen Ansatz zu verbinden. Ziel ist es einen Beitrag zum Verständnis der heutigen Psychiatrie in ihren verschiedenen Facetten zu leisten und mögliche Ursachen für die Transformation des psychiatrischen Systems zu beleuchten.

      Gegen menschenunwürdige Zustände – von der postnazistischen Anstalt zur Psychiatriereform

      Während in westlichen Staaten wie der USA und Großbritannien bereits ab Mitte der 1950er Jahre Reformen des psychiatrischen Systems eingeleitet wurden,1 beanspruchte die Großanstalt mit Hunderten bis Tausenden Insass_innen in der BRD auch weit über das Ende des nationalsozialistischen Vernichtungsprogramms hinaus einen Alleinvertretungsanspruch. Als totale Institution2 konnte sie sozial, geografisch und partiell auch rechtlich außerhalb der zumindest formal demokratisierten deutschen Gesellschaft fortbestehen. Abgeschottet entzog sie sich dem (zivil-)gesellschaftlichen Zugriff und kam vor allem der Aufgabe nach auffällig Gewordene auszusondern, zu verwahren und zu bändigen, weniger aber sie zu therapieren. Die Insass_innen wurden nicht als eigenständige Individuen aufgefasst, als ›Verrückte‹


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