Gegendiagnose. Группа авторов

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Gegendiagnose - Группа авторов


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ist, konnte dadurch nicht außer Kraft gesetzt werden. Umso weniger Ressourcen für eine angemessene Versorgung verfügbar sind, desto deutlicher zeichnet sich wieder die häßliche Fratze der Kontrolle ab. (Keupp 1987)

      Entsprechend bilanzierte Keupp, dass die Anstalt gestärkt aus dem Modernisierungsprozess hervorgegangen sei. Von anderen Autor_innen wurde der bereits angedeutete Zusammenhang einer entfalteten psychiatrischen Angebotsstruktur und erhöhten Zahl von Zwangseinweisungen – ebenso wie gestiegener Psychopharmaka-Vergabe – kritisiert. Durch die zahlreichen ambulanten und beratenden Einrichtungen würden mehr Menschen diagnostiziert und in das System einbezogen: »Die Schwelle zur Psychiatrisierung sinkt.« (Lehmann 1989) In der Kritik stand auch, dass in den neuartigen Versorgungsstrukturen keine tatsächliche Unterstützung, sondern vor allem eine paternalistische Behandlung und Verwahrung der Nutzer_innen geleistet würde. Hans Luger, Mitarbeiter des antipsychiatrischen Projektes KommRum, verwies darüber hinaus auch auf die autoritäre Binnenstruktur und die bürokratische Verfasstheit der Gemeindepsychiatrie. Diese liege meist in der Hand des Öffentlichen Gesundheitsdienstes oder freier Träger der Wohlfahrtspflege:

      Die ›psychosoziale Versorgung‹ ist eine eigene fiktive Welt aus ›Betten‹ und ›Plätzen‹, aus Tagessätzen und Paragraphen, aus Akten, Anträgen, Bewilligungen, Berichten, aus politischen Strategien und Bündnissen, aus Gremien und Mauscheleien auf den Fluren. Die konkrete Wirklichkeit derer, ›für die‹ das alles geschaffen wird, […] ist herausgefiltert, weggekürzt. (Luger 1990: 117f.)

      Aus der Rationalisierung und Bürokratisierung ergäbe sich für die Betroffenen ein Mangel an einem konkreten Gegenüber, an dem sich Konflikte austragen ließen, und damit eine subtile Entmündigung und politische Passivierung der Betroffenen. Gerade die vielen engagierten und verständigen Mitarbeiter_innen, »die halt leider nicht anders können«, lähmten potenziellen Widerstand:

      Das ist das Heimtückische an diesen bürokratischen Hürden: Es ist kein persönlicher Feind mehr sichtbar, kein Unterdrücker, den man wenigstens noch hassen könnte, wie etwa sadistische Ärzte oder Pfleger […] Das persönliche Gefühl der Ohnmacht entwickelt sich entlang der Sachzwänge. (ebd.: 119)

      Viele der oben genannten Kritikpunkte sind in den »Thesen zur Abschaffung und Überwindung der Psychiatrie« der Bundesarbeitsgemeinschaft Soziales und Gesundheit der Grünen gebündelt, die unter Mitwirkung von Vertreter_innen der antipsychiatrischen Bewegung entstanden. Auch hier wird eine Stärkung der Klinik konstatiert, da »sie durch gemeindenahe Einrichtungen den Druck der Lagerathmosphäre mindern konnte [und] weil sie nun inmitten einer Vielzahl sozialpsychiatrischer Institutionen mit ihrer Drehtür den Rhythmus des Kreislaufs der Irren bestimmen kann« (Die Grünen 1984: 5). Das neue psychiatrische System sei damit gefährlicher als zuvor, denn es »ist flexibel, hochselektiv, undurchsichtig. Es funktioniert als Frühwarnsystem von Krisen, ohne daß es frühzeitig hilft« (ebd.: 5f.). Die Sozialpsychiatrie habe statt leicht zugänglicher Dienstleistungen für Menschen in Not spezialisierte, expertengeleitete, entmündigende und entpolitisierende Institutionen etabliert. Statt Wohnungen würden Therapeutische Wohngemeinschaften geschaffen: »Sozialpsychiatrische Institutionen übernehmen die Probleme der Leute und verwalten sie, statt daß sie eine Öffentlichkeit dafür schaffen und die Gemeinde zur Auseinandersetzung zwingen.« (ebd.: 6) So radikal und treffend die versammelte Kritik erscheint, waren sich die angeführten Kritiker_innen mit ihren Gegner_innen aus den Reihen der Psychiatriereform doch meist einig, auf Bürger- oder Menschenrechte zu pochen und Teilhabemöglichkeiten – wenn auch unterschiedlich ausbuchstabiert – einzufordern. Die Grünen etwa forderten »Erwerbsmöglichkeiten in kooperativ organisierten Projekten sowie in ›normalen‹ Lohnarbeitsverhältnissen«. Den »Herrschaftscharakter psychiatrisch-therapeutischer Hilfen« wollten sie ausgerechnet damit angehen, indem die »Vorhaltepflicht für therapeutische und betreuende Dienste […] bei der Kommune zu liegen« (ebd.: 8) habe. Ob damit wirklich die versprochene Abschaffung und Überwindung der Psychiatrie erreicht worden wäre?

      Viele Facetten dieser aus den 1980er Jahren stammenden Kritik sind heute, nicht zuletzt aufgrund des Schwindens der antipsychiatrischen Bewegung und der allgemeinen Schwäche der Linken, kaum noch vernehmbar. Die wenigen verbliebenen antipsychiatrischen Initiativen beschränken sich meist auf die moralische Skandalisierung der unmittelbar evidenten Repression und des Zwangs in der Klinik in Form von Einweisung, Medikamentierung und Fixierung. Den Wandel der Versorgungslandschaft und des gesellschaftlichen Kontextes thematisieren sie kaum. Wie aber lässt sich das psychiatrische System heute, knapp 40 Jahre nach der Enquête, adäquat kritisieren?

      Psychiatrie heute: viele Eingänge, kein Ausgang?

      Die Psychiatrie in Deutschland hat sich seit den 1970er Jahren nach Fachgebieten und Behandlungsformen ausdifferenziert, die Zahl der psychiatrischen Institutionen hat sich mehr als verdoppelt. Zahlreiche kleinere, an bestimmte Diagnosen, Zielgruppen, Lebenswelten angepasste Einrichtungen sind entstanden: anstelle einer De- fand eine Transinstitutionalisierung statt. Die nun ins allgemeine Gesundheitswesen integrierte Klinik bleibt im Zentrum des Systems, wird aber zur Akutpsychiatrie transformiert und soll primär der Krisenintervention dienen: die ›Kranken‹ werden nicht mehr zeitlebens weggesperrt, sondern sollen ›aktiv mitwirken‹ an ihrer eigenen, möglichst schnellen ›Genesung‹, indem sie den Prozess der medizinisch-diagnostischen (Selbst-) Verdinglichung widerspruchslos akzeptieren. Die Drohung des psychiatrischen Souveräns mit dem jederzeit abrufbaren klinischen Ausnahmezustand – Einweisung, Fixierung, bloßer Zwang – schwebt über allen Betroffenen des psychiatrischen und psychosozialen Systems. Aufgrund der klinischen Liegezeiten findet die dauerhafte Verwahrung der Aussortierten und Unnützen nun vorwiegend in Heimen inner- und außerhalb des eigentlichen psychiatrischen Gebietes oder in der Forensik statt. Zugleich hat sich die Gemeindepsychiatrie für die Klient_innen zur Psychiatriegemeinde mit meist langen Betreuungszeiten entwickelt. Trotz der kontinuierlichen Schaffung neuer, angeblich klientenzentrierter Leistungstypen – Betreutes Einzelwohnen für Autist_innen hier, Krisenintervention bei schwangeren Migrant_innen dort – wirkt sie normierend, hospitalisierend und paternalistisch: »[E]ine Transformation der Umstände der Entmündigung [hat sich] vollzogen, von der entrechtlichten zur verrechtlichten, auf einem Vertragsabschluß beruhenden Entmündigung.« (Hellerich 1988: 59) Der Sozialpsychiatrische Dienst registriert als staatlich-psychiatrisches Auge und Ohr präventiv Abweichungen und steuert mit weiteren Behörden und Gremien den gemeindepsychiatrischen Sektor; die gesetzlichen Betreuer_innen verwalten die Psychiatrisierten, die nicht mehr gesellschaftsfähig sind. Vorwiegend für sogenannte leichte und mittelschwere Fälle wird eine sich ausweitende Palette von ambulanten Psychotherapien angeboten, die sanfte psychologische Anpassung verheißen. Zugleich wurden auch die stationären psychiatrischen Settings durch die Anstellung von Therapeut_innen zunehmend psychologisiert, das heißt ein psychiatrischer Zugriff auf zuvor private Emotionen und Verhaltensweisen erschlossen. Aus dem Wunsch nach Alleinsein wird nun eine pathologische, zu behebende Kontaktschwäche, aus Nicht-Mitmachen eine manifeste, zu therapierende Hemmung etc. Franco Basaglia kritisiert diesen therapeutischen Prozess als »politische[n] Akt der Integration, insofern als er versucht, eine bestehende Krise – regressiv – wieder zurechtzubiegen, indem er letztlich das hinnehmen lässt, was die Krise überhaupt erst verursacht hat« (Basaglia 1971: 138). Nicht zuletzt aufgrund der quantitativen und qualitativen Ausweitung der psychiatrischen Diagnosen schreitet die Medikalisierung der Gesellschaft11 hin zur Bedarfsmedikation für alle voran. Gefühlszustände, die im Fordismus noch als normal galten, werden »als ›krank‹ und ›behandlungsbedürftig‹ einem umfassenden pharmazeutisch-therapeutischen Normalisierungsregime« (Graefe 2011) unterworfen. Die Pharmakolisierung bedeutet dabei die »absolute Verdinglichung des Patienten, die krasseste Form der Behandlung einer Sache« (Hellerich 1988: 65) – Symptome werden nicht erfasst, um sie zu verstehen, sondern allein, um sie chemisch zu beseitigen.

      Entsprechend der Forderung der Enquête, den Blick »von den Kranken auf die viel größere Zahl der Gesunden und möglicherweise Gefährdeten [zu] richten und […] vom Einzelindividuum […] auf ganze Gruppen und Bevölkerungsteile, bis hin auf die Gesellschaft als Ganzes« (Deutscher Bundestag 1975: 385), wurde ein neuartiges psychiatrisch-therapeutisches Präventionsregime erschaffen. Zwischen einem Drittel und der Hälfte der Bevölkerung hätten im Laufe ihres Lebens


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