Gegendiagnose II. Группа авторов
Читать онлайн книгу.target="_blank" rel="nofollow" href="#u6c24c738-6c6e-4b64-8577-8f8f1ec0cb3e">Michael Zander: Trauma, Trigger, Trivialisierung.
Zur Diskussion über »Trigger-Warnungen« an Hochschulen und in der politischen Linken
Judith (ohne Nachnamen): Würdest du freiwillig in eine Psychiatrie gehen?
resist_pathologization: ›Un-/Fähig, sich selbst zu regieren‹
Vom Ausschlusscharakter einer neoliberalen Norm
Bonnie Burstow (Übersetzung: Clara Funk): Die Psychiatrie klein kriegen: Das Zermürbungsmodell
Vorwort der Herausgeber_Innen 1
Bald vier Jahre ist es her, dass der erste Gegendiagnose- Band der Reihe Get well soon! zur kritischen Analyse von Psycho- und Gesundheitspolitik erschien. Der Band war motiviert durch den Eindruck, dass eine Kritik an der Institution und wissenschaftlichen Disziplin der Psychiatrie, wie auch ihrer ›Schwester‹ der Psychologie, in der aktuellen linken Gesellschaftsanalyse kaum noch eine Rolle spielte. Psychische Krisen sowie Verhaltens- und Wahrnehmungskonflikte schienen vielfach unhinterfragt ein je individueller Fall für ›professionelle Hilfe‹. Die Geschichte der alten wie neuen Antipsychiatrie2 schien weitestgehend vergessen, während gleichzeitig in allen gesellschaftlichen und politischen Lagern eine Zunahme an psychiatrischen Diagnosen und psychischen Krisen festgestellt wurde.
Dies wurde vor sechs Jahren anlässlich des DSM-V (der fünften Auflage des internationalen Klassifikationskatalogs der psychischen Erkrankungen) maßgeblich auch vom US-amerikanischen Psychiater Allen Frances getan. Er kritisierte eine maßlose Gier und den Bedeutungsdrang von Psychiater_Innen und Pharmaindustrie, die Diagnosekriterien herunterstufen und neue Diagnosen ›erfinden‹ würden. Solche Ansätze beklagen zwar ein ›Zuviel‹ oder ›Zu weit gehen‹ einzelner Institutionen, aber nicht die grundlegende gesellschaftliche Funktion, die eine Unterscheidung von gesundem und krankem Denken und Empfinden bedeutet.
Das Anliegen der Gegendiagnose war und ist dagegen, eine Alternative zu allzu vereinfachten oder reformistischen Kritiken zu bieten und auch die antipsychiatrische und psychiatriekritische Bewegung selbst kritisch zu betrachten. Wichtig ist uns die Institution Psychiatrie und ihre Konzepte und Glaubenssätze in das Netz gesamtgesellschaftlicher Machtverhältnisse einzuordnen und sie gerade auch als Institution der Reproduktion und Stabilisierung gesellschaftlicher Unterdrückungsverhältnisse zu betrachten.
Anlässe einer linken Auseinandersetzung mit Konzepten und Erlebenswelten von Krise, Verrücktheit und sogenannten psychischen Störungen und vor allem mit der Frage, wie ein entstigmatisierender und emanzipativer Umgang damit aussehen kann, gab es auch in den letzten vier Jahren: die Debatte um das letztlich entschärfte Psychiatrie-Gesetz in Bayern, welches eine standardisierte polizeiliche Meldung von Psychiatriebetroffenheit zum ›Schutz‹ von Individuum und Gesellschaft vorsah; die permanente Prekarität von und bürokratische Hürden für alternative Institutionen wie dem Berliner Weglaufhaus und eine sich ausweitende Kultur des eigenverantwortlichen Selbstmanagements von Gefühlen, Stimmungen und Einstellungen in der individualisierenden und entpolitisierenden Rhetorik der Psy-Disziplinen, vom Mood Tracking bis zu Abgrenzungs- und Distanzierungstechniken als Self-Care.
Im vorliegenden zweiten Band liegt der Fokus nun auch verstärkt auf den Momenten der Selbstregierung unter Begriffen und Konzepten von psychischer Gesundheit und Krankheit, Normalität und Eigenverantwortung. Vor allem zeichnet sich die ›zweite Gegendiagnose‹ durch eine große Vielfalt an expliziter und reflektierter Diversität der Perspektiven aus, ebenso durch eine Varianz der Beitragsformen: von wissenschaftlicher abstrakter Theoriearbeit und Analyse über autoethnografische Zugänge, bis hin zu sehr persönlichen Erfahrungsberichten und Prosa, von der Betroffenen- über die Angehörigen-Perspektive bis zu der Perspektive der ›Professionellen‹. Dieses Nebeneinander der Perspektiven ist hierbei kein Zufall, sondern als Kritik an der vorherrschenden Definitionsgewalt der medizinisch-psychiatrischen Wissenschaft zu verstehen.
Und wie schon im ersten Band verfolgen wir keine einheitliche inhaltliche Stoßrichtung, weder innerhalb der Herausgebendengruppe noch in der Autor_Innenschaft. Vielmehr soll der Band Raum für unterschiedliche Sichtweisen bieten und die Vielseitigkeit aktueller kritischer Perspektiven auf Psychiatrie und Psychologie deutlich machen. Exemplarisch zeigt sich dies am Begriff der Selbstbestimmung, der in verschiedenen Beiträgen sowohl als Forderungsinhalt und Ziel wie auch als zu kritisierende Norm und voreingenommenes Ideal betrachtet wird.
Nicht zuletzt war und ist es Anliegen der Gegendiagnose, eine solidarische, aber durchaus kontroverse Debatte zu fördern.
Aufbau des Bandes
Den Auftakt macht Alex Steinweg mit einem Überblick zur Geschichte der Psychiatrie und ihrer Kritik sowie Anregungen für aktuelle praktische Psychiatriekritik und Betroffenensolidarität. Anschließend eröffnet ein Gedicht von Da das Kapitel »Perspektiven und Erfahrungsreflektionen«, in welchem Beiträge versammelt sind, die explizit oder implizit Fragen zu diversen Formen von Betroffenheit und verschiedenen Machtpositionen im psychiatrisch_psychologischen System aufwerfen. Kalle H. und Blu D. betrachten aus verschiedenen nicht-binären Trans*Perspektiven die konkreten subjektiven Auswirkungen der binär-logischen Zwangs-Pathologisierung und von Trans*geschlechtlichkeit im Gesundheitsversorgungsystem. Nello Fragner nimmt uns im folgenden Beitrag mit auf eine persönliche Retrospektive zur sanktionierenden Funktion einer immanenten Bedrohung von Psychiatrisierung. Nadire Biskins öffentlicher Brief »Wie meine Mutter mich mit Victoria Beckham verwechselte« macht im Anschluss deutlich, dass es neben ›betroffen‹ und ›nicht betroffen‹ von Psychiatrisierung durchaus noch weitere Formen der Involviertheit und Betroffenheit gibt. Die beiden anschließenden Beiträge von Caro von Taysen und von Robin Iltzsche berichten aus der Perspektive von ›kritischen Professionellen‹ von ihren Erfahrungen und Einsichten in die eigenen Verstrickungen und beschränkten Kritikpotentiale als Psycholog_In und Psychiatrie-Personal. Caro von Taysens Beitrag hinterfragt dabei die hierarchisierenden Grenzen zwischen ›denen‹ und ›uns‹, welche in der professionellen Ausbildung und Praxis sehr zentral und bedeutsam sind und Robin Iltzsche macht anhand persönlicher Erfahrungen eindrücklich deutlich, wie schwierig und ambivalent eine kritische Haltung in und zu der Institution Psychiatrie in der Praxis sein kann.
In der psychiatrischen Anstalt geht es sodann auch im zweiten Kapitel »Kritik an konkreten Praktiken« weiter. Peet Thesing beschreibt an einem Fallbeispiel die Unterwerfungs- aber auch Widerstandsmomente eines Psychiatrieaufenthaltes. Auch die Psychiatrie-kritische Gruppe Bremen beschäftigt sich mit der Institution Psychiatrie, speziell jedoch mit der forensischen, also kriminalistischen, welcher die Legitimation zukommt, Menschen auch nach Vollzug einer Haftstrafe weiterhin ›im Dienste der Sicherheit‹ gefangen zu halten. Die Praktik der Sicherheitsverwahrung