Gegendiagnose II. Группа авторов

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Gegendiagnose II - Группа авторов


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nutzt diese Dynamik »als strategischen Hebel zur Menschenführung« (ebd.: S. 25). Im Falle der Psychiatrie wäre das Ziel der Menschenführung somit die Anpassung der Betroffenen an das Verständnis der Psychiater_Innen von ›Normalität‹. Wobei die zu dieser angestrebten Normalisierung genutzten Techniken Menschen teils endgültig das selbstständige Zusammenleben in einer bürgerlichen Gesellschaft verlernen ließen.

      Andere Kritiken griffen noch tiefer das psychologisch-psychiatrische Verständnis an und negierten grundsätzlich den Glauben an die Existenz von ›psychischen Krankheiten‹. Dabei lehnten sie eine individualisierende Sichtweise auf Verhalten ab und setzten es stattdessen in einen Zusammenhang mit familiären Strukturen und gesamtgesellschaftlichen Verhältnissen (vgl. u.a. Cooper 1976: S. 90 ff.; Rittmeyer 1988: S. 29; Szasz 1972: S. 21). So kämen zum Beispiel Widersprüche, welche sich innerhalb eines familiären Systems finden, in dem Verhalten einzelner Personen zum Ausdruck (vgl. Cooper 1972: S. 36 ff.). Zum Schutz des Systems Familie*8 sei es nun notwendig, dass die betroffene Person sich entweder den Widersprüchen innerhalb der Familie* unterwirft, oder das System verlässt (vgl. ebd.: S. 33 f.). Teilweise komme es so dazu, dass die Betroffenen ihre zugeschriebene Rolle als die_der ›psychisch Kranke_n‹ annehmen und ihr System in ›akzeptabler‹ Form verlassen, mit der Hoffnung nach vollendeter ›Heilung‹ wiederkehren zu dürfen (vgl. ebd.: S. 46 f.). Durch die Abhängigkeit einer Person zu ihren direkten Bezugspersonen – dies ist gerade bei Kindern, welche in besonderer Abhängigkeit zu ihrer Familie* stehen, der Fall – könne es aufgrund widersprüchlicher Erwartungen an die Person zu einer Entfremdung der eigenen Person von sich selbst kommen. Dies könne dazu führen, dass der Mensch sich als fremdgesteuert wahrnimmt (vgl. ebd.: S. 50). Dabei sei es wichtig zu betrachten, wann welche Erklärungsmodelle oder Weltanschauungen als ›psychotisch‹ mystifiziert werden und warum z. B. antisemitische, rassistische und sexistische Überzeugungen als vielleicht verachtenswerte, jedoch trotzdem ›gesunde‹ Überzeugungen zu sehen seien (vgl. Cooper 1976: S. 53).

      Nicht nachvollziehbares menschliches Verhalten ließe sich nach diesem Erklärungsansatz somit eher als eine »Sonderform von Kommunikation« (Szasz 1972: S. 26) sehen und es dürfe nicht darum gehen, mechanisch nach Ursachen zu forschen, sondern zu betrachten, wie diese Sprache »gelernt wurde und was sie bedeuten soll« (ebd.: Herv. i.O.). Durch ein solches Verständnis wird hervorgehoben, dass das Verhalten von Menschen letztendlich ein Produkt der sozialen Umgebung ist (vgl. ebd.: S. 28). Würde diese Sichtweise ignoriert, führe es schnell zu einer Stigmatisierung von Menschen als ›psychisch Kranke‹, was meist mit einer Absprache der (Selbst-)Verantwortung und Abnahme dieser einhergehe (vgl. ebd.).

      Während die meisten Psychiatriekritiker aus einer rein ›männlichen‹ Perspektive heraus auf Verhalten schauen, zeigt Phillis Chesler von einer feministischen Analyse ausgehend auf, wie stark der Komplex Psychiatrie von einer patriarchalen Logik durchzogen ist und somit Frauen*9 in einer spezifischen Weise bedroht sind (vgl. Chesler 1977: S. 65 ff.). Nicht nur die Person des männlichen Psychiaters stelle hierbei eine spezifische Gefährdung dar, sondern ebenfalls die klinische Ideologie, die selbst einer patriarchalen Deutungshoheit unterliegt (vgl. ebd.). ›Professionelle von Beruf‹ würden von Beginn an darin geschult, jegliche Verhaltensweisen zu pathologisieren (vgl. ebd.). Diese durchgängig stattfindende Pathologisierung erfolge jedoch bei Frauen* und Männern nach unterschiedlichen Maßstäben (vgl. ebd.: S. 67). Studien zeigten, dass die Vorstellung der Psychiatrie von den Eigenschaften eines gesunden erwachsenen Mannes und denen eines gesunden Erwachsenen im generellen quasi identisch waren, und somit die allgemeine Vorstellung von gesund mit der spezifisch männlichen Vorstellung von gesund gleichgesetzt wird (vgl. ebd.). Eine andere Studie zeigte, dass die mit der männlichen Gesundheit einhergehenden Eigenschaften jene sind, welche als gesellschaftlich erwünscht gelten (vgl. ebd.: S. 68). Die Vorstellung über die Gesundheit einer Frau* unterschied sich jedoch signifikant von denen der beiden übrigen Kategorien und basierten auf Eigenschaften wie Unterordnung, Abhängigkeit, Beeinflussbarkeit, »weniger dem Konkurrenzkampf zugeneigt, leichter erregbar bei kleineren Krisen, […] emotionaler [und] eitler […]« (ebd.: S. 68). Daraus lässt sich folgern, »daß sich eine Frau, um als gesund zu gelten, an die Verhaltensnormen für ihr Geschlecht ›anpassen‹ und diese akzeptieren muß, obwohl diese Verhaltensweisen im allgemeinen als weniger gesellschaftlich erwünscht angesehen werden« (ebd.: S. 68). Hielten Frauen jedoch an ›männlichen‹ (oder geschlechtsunspezifischen) Verhaltensweisen fest, würden sie Gefahr laufen in psychiatrische Heilanstalten gebracht zu werden, »bis sie zu ihrer ›Weiblichkeit‹ bekehrt sind« (ebd.: S. 69). Es wird somit deutlich, dass die Normen, die an die ›psychische Gesundheit‹ der Frau* angelegt werden, jene devoten und angepassten Eigenschaften sind, welche die patriarchale Gesellschaft von der Frau erwartet (vgl. ebd.: S. 72).

      Im Zuge der beschriebenen Theorien geriet auch die Stigmatisierung durch Diagnosen in das Zentrum der Kritik. Eine Diagnose im Bereich sogenannter ›psychischer Krankheiten‹ stelle letztendlich den Versuch dar, für Außenstehende nicht nachvollziehbares Verhalten durch mechanische Ursache-Wirkungszusammenhänge greifbar und somit ›heilbar‹ zu machen (vgl. ebd.: S. 51). Neben der oben beschriebenen Kritik, dass sich Verhalten aus den komplexen Biographien von Menschen ergäbe und sich somit nicht verallgemeinern ließe, könne eine einmal gestellte Diagnose, zum einen auch dazu führen, dass die Betroffenen sich unbewusst nachträglich die diagnostizierten Verhaltensweisen aneignen. Zum anderen könne auch auf Basis einer gestellten Diagnose Verhalten erst in eine Person hineingelegt werden, beziehungsweise zur ›Findung‹ einer Diagnose erst entdeckt werden. Ferner ließe sich die Diagnostik auch aus einer sehr pragmatischen Sicht heraus kritisieren:

      Thomas Szasz beschrieb, dass der erste Schritt einer Diagnose erstmals der Einteilung in zwei verschiedene Klassen bedürfe: Klasse-A (›gesund‹) und nicht-Klasse-A (nicht-gesund) (vgl. ebd). Schon in diesem Schritt ergäben sich mögliche Fehlerquellen, die eine Diagnostik in diesem Bereich unmöglich mache:

      1.Die klassifizierende Person verfügt nicht über das nötige Wissen um eine ›richtige‹ Klassifikation durchzuführen (vgl. ebd.).

      2.Symptome eines Verhaltens sehen von außen betrachtet aus, wie eine bestimmte Klassifikation, sind aber eigentlich etwas anderes (vgl. ebd.: S. 52).

      3.Symptome werden bewusst vorgetäuscht, um eine bestimmte Klassifikation zu erhalten (vgl. ebd.).

      Dabei dürfe nicht vergessen werden, dass es bei dieser Form der Klassifikation, um eine Bewertung und Beurteilung von Verhalten durch außenstehende Personen geht. Eine Bewertung ist niemals ›objektiv‹, sondern findet auf Basis von Moral- und Wertvorstellungen statt (vgl. ebd.: S. 56). Klassifikationsmo-delle und Diagnosen entstünden somit immer unter spezifischen historischen und herrschaftsvollen Situationen und wären somit nicht als ein »natürliches‹ Ereignis« (ebd.) misszuverstehen. Somit ergibt sich insgesamt die Frage, warum von der Norm abweichendes Verhalten, überhaupt klassifiziert werden müsse (vgl. ebd.: S. 57) und zum anderen, warum sogenannte ›Professionelle‹ die Definitionsmacht über die Diagnose haben sollten.

      Stattdessen wäre es notwendig, Betroffenen mit ihrer subjektiven Sichtweise und ihren eigenen


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