Hallo, hört mich jemand?. Sibel Schick

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Hallo, hört mich jemand? - Sibel Schick


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Karamba Diaby geschossen. Ein rechtsextremes Netzwerk, das wohl plante, in zehn Bundesländern Moscheen anzugreifen, um dort Betende zu morden, wird aufgedeckt, zwölf Männer werden festgenommen. Ein Mann in Hanau erschießt zehn Menschen, neun davon aus rassistischen Motiven. Zwei mutmaßliche Brandanschläge in Döbeln – in Gebäuden, in denen sich eine Shisha-Bar und ein Döner-Imbiss befinden. Schüsse auf eine Shisha-Bar in Stuttgart. Die letzten beiden Vorfälle erst drei Tage nach Hanau. In diesem brennenden Deutschland sind also nicht alle gleichermaßen schutzlos. Deshalb ist es auch völliger Quatsch zu sagen, dass dies Angriffe „auf uns alle“ seien.

      Während deutsche Medien die Namen der Angehörigen von den Opfern und anderen Interviewten ständig verwechselten oder falsch schrieben und u. a. AfD-Politiker*innen dazu befragten, fielen relativierende Fragen wie, ob „Multikulti gescheitert“ sei. Sigmar Gabriel fuhr in einem Tweet schamlos den Hufeisenkurs und setzte den Hanau-Anschlag mit brennenden Mülltonnen gleich. Kaum eine Kultur- oder Sportveranstaltung wurde abgesagt, die Normalität blieb ungestört. Das ist die Wertschätzung, die den Opfern, ihren Angehörigen und allen, die Angst um ihr Leben haben müssen, gezeigt wird: Betroffenen Menschen bleiben Schweigeminuten, Karnevalssitzungen, dreiste Fragen und entmenschlichende Thesen. Sie werden mit ihrer Wut und Angst alleine gelassen.

      Bei einem Terroranschlag, der sich auf die weiße Mehrheitsgesellschaft gerichtet hätte, wäre die Reaktion womöglich anders ausgefallen. Die Opfer wären echte Menschen mit eigener Geschichte und Persönlichkeit, es wären Individuen. Man sollte keine Opfer gegen andere ausspielen, hier geht es um etwas anderes: der Schmerz wird unterschiedlich bewertet. Deshalb findet das Glücksbärchen-Aktivismusvideo mit dem Schauspieler Lars Eidinger, in dem er in Bezug auf Hanau von Liebe spricht und dabei weint, mehr Resonanz als Videos von betroffenen Menschen, in denen sie konkret über rassistische Strukturen sprechen und Konsequenzen einfordern. Anschläge mit nicht weißen Opfern werden nicht als Katastrophen wahrgenommen, sie lösen keine flächendeckenden, konsequenten, substanziellen Reaktionen in der Mehrheitsgesellschaft aus. Selbst in so einer Situation wird betroffenen Gruppen kaum zugehört. Solidarität bleibt vereinzelt und nicht bedingungslos, sondern wird abhängig gemacht von dem Ausmaß der Wut der Person, die spricht. Kann sein, dass du gerade deinen Cousin verloren hast oder Angst um dein Leben hast, aber bloß nicht aggressiv darüber sprechen und von den Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft klare Positionen einfordern. Wo würden wir denn sonst landen?

      So wird die Botschaft eindeutig: „Euer Schicksal interessiert uns zwar ein bisschen, aber nicht sehr, nicht immer, nicht überall. Wir sehen ein, dass es schlimm ist, was in Hanau passiert ist, möchten aber keine Rücksicht nehmen, sondern einfach in Ruhe feiern. Und wenn das schlechte Gewissen ballert, waschen wir es mit Videos weinender weißer Schauspieler rein.“ Das macht Menschen, die ohnehin zur Zielscheibe gemacht werden, anfälliger für weitere Angriffe. Das bestätigen auch Döbeln und Stuttgart.

      Die weiße Mehrheitsgesellschaft fühlt erst Betroffenheit, wenn sie selbst betroffen ist, wenn Weiße bewusst als Ziel gesetzt werden. Alles, was nicht weißen Menschen passiert, bleibt zunächst erst mal zweitrangig. Menschen mit Zuwanderungsgeschichte in Deutschland sind nicht überrascht über die letzten Ereignisse. Wenn die Mehrheitsgesellschaft überrascht ist, liegt das nur daran, dass sie bisher nicht zugehört und stattdessen konsequent weggeschaut hat.

       Das Problem heißt Rassismus

       27.07.2018, Missy Magazine

      Mesut Özil hat sich mit einem Monster fotografieren lassen, darüber müssen wir uns nicht streiten. Aufgrund dieses Fotos von Özil ein Bekenntnis zu Deutschland zu fordern, liegt dennoch alleine an der Migrationsgeschichte seiner Familie und ist Rassismus in seiner reinsten Form. Vieles, was Recep Tayyip Erdoğan verkörpert, bleibt den Deutschen nicht erspart: Bei der Bundestagswahl 2017 haben über 20 Millionen Wahlberechtigte rechte und rechtsradikale Parteien gewählt. Deutsche können sich also nicht leisten, so zu tun, als sei ihr Land komplett frei von Menschen, die sich ein faschistisches System wünschen, als wäre das Land endgültig entnazifiziert. Während die AfD bei jeder Wahl ihre Ergebnisse verbessert, können Deutsche nicht so tun, als wäre Faschismus bloß Geschichte, als hätte Deutschland damit abgeschlossen. Und ohnehin, die Bundesregierung ist im Kuschelkurs mit Erdoğan und der AKP. Mit dem Flüchtlingsabkommen und dem Waffenhandel trägt sie aktiv zu Menschenrechtsverletzungen bei. Mit der öffentlichen Unterstützung wie Teezeremonien wird das Bild vermittelt, in der Türkei sei alles in Ordnung: Dass die Zivilgesellschaft zerstört ist, beinahe alle Regierungskritiker*innen und Oppositionspolitiker*innen im Knast sitzen und jährlich über 300 Frauenmorde stattfinden, ist für die Bundesregierung gut verträglich. Sie muss sich nicht rechtfertigen. Wenn es einen Hoffnungsschimmer gibt, dann ist es die Sichtbarkeit, die Menschen mit Rassismuserfahrungen dieser Tage erlangen. Seit Donnerstag teilen sie diese Erfahrungen in den sozialen Netzwerken unter dem Hashtag #MeTwo. Ein Blick auf die Tweets zeigt, dass Rassismus in Deutschland nicht nur ein fester Bestandteil des Alltags ist, sondern auch strukturell und institutionell stattfindet. Manchmal ist er offensichtlich, oft aber heimtückisch und subtil. Was Özils Rücktritt also ausgelöst hat, ist keine „Integrationsdiskussion“, sondern eine Rassismusdiskussion. Deutschland hat kein Integrationsproblem, es hat ein Rassismusproblem. Sowohl der Begriff „Integration“ als auch die deutsche Debatte um ihn herum sind rassistisch. Sie beruhen auf der Annahme, dass bestimmte Menschen so anders seien, dass sie sich anpassen müssten. Im Mai schrieb Lara Fritzsche fürs SZ-Magazin: „Es ist ein Paradoxon, dass die Frau mit Kopftuch erst da zum Problem wird, wo ihre Integration gelungen ist.“ Die Frau mit Kopftuch landet also wider Erwarten in der Mitte der Gesellschaft, die Hürden auf ihrem Weg aber werden auch hier auf ihre Kultur reduziert, anstatt dass die strukturellen und institutionellen Rassismuserfahrungen entfaltet werden. „Eine gelungene Integration“ beinhaltet, dass gewisse Menschen es eh nicht schaffen würden, es sei denn, sie werden „angepasst“.

      Jemanden integrieren – es müsste heißen: Räume öffnen, Hürden zerstören, Chancen geben, Teilhabe ermöglichen. Was ich lernen musste, als ich 2009 nach Deutschland gezogen bin: erstens die Sprache, zweitens den Umgang mit der Tatsache, dass Deutsche nicht spontan sind, drittens, dass sie dich unter der Woche schon um 22 Uhr nach Hause schicken, weil sie am nächsten Tag arbeiten müssen. Mehr nicht. Integration war nicht mein Problem. Mein Problem sind eher die Rassismuserfahrungen, die ich mache, und der Stress, den mir der unsichere Status gibt. Ich muss mir aber trotzdem ständig anhören, wie gut integriert ich sei, und ich finde es sehr, sehr arrogant.

      Rassismus in Deutschland ist kein Mythos, er existiert und hat einen hohen Preis für viele Menschen. Wir sollten nicht darüber sprechen, inwiefern die anderen angepasst werden müssen, sondern darüber, dass Menschen bei der Jobsuche ausgeschlossen werden und wie wir das ändern können. Auch darüber, dass Menschen keine Wohnung bekommen, weil sie keinen „deutsch“ klingenden Namen haben. Dringend müssen wir anfangen, darüber zu sprechen, dass Menschen auf der Straße angespuckt und körperlich angegriffen werden und Schutz- und Präventionsmaßnahmen entwickeln. Wir müssen Lösungen finden. Ob ein Mensch, der andere körperliche und äußere Merkmale hat, wie Hautfarbe oder Kopftuch, automatisch jemand ist, die*der verändert werden muss, und ob sie es verdienen, dass man sich mit ihnen solidarisiert? Darüber müssen wir nicht diskutieren.

       Positioniert euch

       04.09.2018, Missy Magazine

      In Chemnitz kam letzte Woche der Rassismus zum Ausbruch: Neonazis sind auf die Straße gegangen, riefen rassistische Parolen, zeigten den Hitlergruß, jagten rassifizierte Menschen durch die Straßen und bedrohten diese mit dem Tod. Das heißt, sie sind willkürlich und grundlos auf Menschen losgegangen, die sie aufgrund ihres Aussehens für nicht-deutsch gehalten haben, als seien diese Krähen, die von der Saat weggescheucht werden müssen.

      Der Auslöser des Neonaziaufmarsches ist der gewaltsame Mord an Daniel H. am vergangenen Sonntag. Ein Blick auf sein Facebook-Profil jedoch erweckt den Eindruck, dass sein Tod den Neonazis möglicherweise Freude bereitet hätte, wäre der Täter kein Migrant. Daniel H. war nämlich nicht weiß und er war


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