Hallo, hört mich jemand?. Sibel Schick

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Hallo, hört mich jemand? - Sibel Schick


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zu mobilisieren und Menschen körperlich anzugreifen. Und das alles konnten sie fast ungestört durchziehen.

      Es wird gesagt, die sächsische Polizei sei überfordert gewesen. Der Begriff „Überforderung“ gibt zu verstehen, dass die Polizei nicht über die Mittel verfüge, die Situation unter Kontrolle zu bringen und die von den Nazis angegriffenen Menschen zu schützen. Da aber die sächsische Polizei schon bei kleineren Demonstrationen, sobald diese von antifaschistischen Strukturen organisiert werden, teilweise mit mehreren Wasserwerfern, Hubschraubern und SEK Präsenz aufwarten kann (z.B. wie bei der Demo in Wurzen, die im August unter dem Motto „Keine Stimme den Faschos. Rechten Foren den Raum nehmen!“ lief), ist die Schlussfolgerung unvermeidbar, dass sie nicht unbedingt überfordert sein müsste. Die Kapazitäten sind offenbar vorhanden, sobald linke Gruppen demonstrieren, bei Nazis ist die Polizei plötzlich überfordert.

      Als Außenstehende müssen sich Menschen in aller Welt fragen, wie man den Hitlergruß in einem Land zeigen kann, das für den Holocaust verantwortlich ist. Jene, die auf den Straßen Menschen mit dem Tod drohen, sind teilweise die Enkelkinder der Nazis, die während des Nationalsozialismus Millionen von jüdischen Menschen und anderen Opfern systematisch ermordet oder deren Mord ermöglicht haben. Ein anderer Teil von diesen sitzt heute im Bundestag.

      Deutschland hat offenbar nichts aus der Geschichte gelernt, würden viele denken. Ich denke aber, dass deutsche Faschist*innen ganz viel aus der Geschichte gelernt haben. Sie wissen, wie es geht. Sie wissen, wie der Nährboden für systematischen Mord bereitet werden kann, und zwar indem eine Gruppe von Menschen entmenschlicht wird. Und sie sind gut darin. Noch am Dienstag schrieb Karolin Schwarz in einem Bericht für „VICE“, wie rasch sich eine Falschmeldung über einen zweiten Mord in Chemnitz verbreitet hat und dass diese Meldung nicht gelöscht wurde, auch nachdem klar war, dass es sich um eine Falschmeldung handelte. Die Falschmeldungen sind eben Falschmeldungen, der Umgang der öffentlich-rechtlichen sagt etwas mehr darüber, wie sich die Mitte der Gesellschaft den Rassismus in Deutschland vorstellt. Beispielsweise wurde die erste Sendung von „Hart aber fair“, die nach den Ausschreitungen in Chemnitz gesendet wurde, mit der Frage „Gibt es wirklich die tägliche Ausgrenzung?“ eröffnet. Zwei der vier Gäste, der SPD-Politiker Karlheinz Endruschart und die Autorin Tuba Sarica, haben während der gesamten Sendung versucht, den strukturellen und institutionellen Rassismus in Deutschland zu legitimieren und zu verharmlosen, indem sie immer wieder die Aufmerksamkeit auf den Rassismus innerhalb von Randgruppen lenkten. Ein klassischer Trick, um Rassismusdiskussionen zu blocken und das Problem unsichtbar zu halten.

      Vor laufenden Kameras wird der Hitlergruß gezeigt und man diskutiert darüber, ob es „diesen Rassismus denn wirklich gibt“. Die Reaktion auf den Versuch, das Rassismusproblem Deutschlands sichtbar zu machen, ist, Augen rollen, seufzen und ein „nicht schon wieder“ von sich zu geben. Der Ernst der Lage kann nicht offengelegt werden, weil man mit Deutschen nicht darüber reden kann, ohne dass sie „ja, aber die Linken randalieren“ und „die Türkeistämmigen wählen die AKP und daher kann es in Deutschland keinen Rassismus geben“ von sich geben. Ironisch ist, dass auch diese Reaktionen rassistisch sind, und Rassist*innen in Schutz nehmen.

      Und all die, die schweigen, und die, die sich zwischen Nazis und von Rassismus betroffenen Menschen stellen und nach „Kompromissen“ oder einem „Dialog“ suchen, weil sie sich das noch leisten können, weil sie noch unantastbar sind, sollten eigentlich wissen, dass es nur eine einzige legitime Meinung zu Rassismus gibt und zwar ganz klar dagegen zu sein. Solange sie die Nazis und andere Vertreter*innen von menschenfeindlichen Gedanken als legitime Gesprächspartner*innen betrachten, mit diesen diskutieren, ihnen zuhören, vermitteln sie beiden Seiten, dass es Raum für Rassismus in dieser Gesellschaft gebe, dass er tolerierbar sei, weil sie ihm eben Raum geben und ihn tolerieren.

      Deutschland hat sich nicht darum gekümmert, die Kinder und die Enkelkinder von Nazis zu integrieren und zu rehabilitieren und jetzt haben wir schon wieder Nazis am Hals, sie wachsen wie Pilze vor unserer Nase. Es ist verdammt viel zu tun. Zu Hause, auf der Straße, bei der Arbeit und nachts, wenn man den Kopf auf das Kissen legt, ist ganz viel zu tun. Noch ist aber Zeit. Überlegt euch also noch einmal und zwar ganz genau, wo ihr euch positionieren möchtet. Bevor es zu spät ist.

       Meine Oma im Inklusionsparadies

       03.09.2019, Missy Magazine

      Auf seinem T-Shirt steht: „No borders, No nations“. Wir essen Burger, es ist unser zweites Date. Wir unterhalten uns, alles ist super. Dann sagt er: „Du kannst so gut Deutsch! Es gibt Leute, die seit 40 Jahren hier leben und nicht so gut Deutsch sprechen wie du!“ Eigentlich höre ich das oft, wenn ich sage, dass ich seit zehn Jahren in Deutschland wohne. Diesmal bin ich überrascht und es liegt an seinem T-Shirt. Er weiß es nicht, aber er redet von meiner Oma. Sie gehört zu jenen, die nicht gut Deutsch sprechen, obwohl sie lange hier leben. Zwischen ihrer Biografie und meiner liegen Welten. Meine Oma kam in Kurdistan auf die Welt und ging nie zur Schule, sie kann nicht lesen und schreiben. Sie kam in den 1970ern nach Deutschland und hatte gleichzeitig mehrere Putz- und Spüljobs. Es gab damals weder Deutsch- noch Alphabetisierungskurse, „diese Integrationskurse sind neu“, sagt sie. Das stimmt, die wurden erst 2004 eingeführt. Sie erzählt, dass es Frauen unter den Gastarbeiter*innen besonders schwerfiel, Deutsch zu lernen: „Sie mussten sich noch um den Haushalt und die Kinder kümmern.“ Männer hatten es leichter. Ich wuchs bei meiner Mutter in der Türkei auf. Als ich nach Deutschland zog, hatte ich rote Haare, Piercings, war tätowiert. Viele sagten: „Du siehst nicht aus wie eine Türkin.“ Als Kurdin wusste ich nicht, was ich damit anfangen soll. Außerdem, wie sieht eine Türkin aus? Jedenfalls wurde ich offenbar nicht gleich als Ausländerin eingeordnet. Wenn Menschen es erfuhren, waren sie oft „positiv überrascht“, das ermöglichte mir, mich selbstbewusst zu bewegen. Ich habe zwar nicht studiert, aber immerhin die Schule abgeschlossen. Auch ich musste kurz nach meiner Ankunft in Deutschland arbeiten und fand einen Job in einem Kiosk. Im Gegensatz zu meiner Oma konnte ich nebenbei einen Deutschkurs besuchen. Ich wohnte im hippen Köln-Ehrenfeld, meine Oma wohnte in einem Gastarbeiter*innenviertel. 2011 fing ich an zu kellnern und hatte nur noch mit deutschen Muttersprachler*innen zu tun. Meine Oma, die bis zu ihrer Migration nach Deutschland kein Türkisch sprach, lernte Türkisch von ihren türkischen Nachbarinnen.

      Das Kompliment „es gibt Leute, die seit 40 Jahren hier leben und nicht so gut Deutsch sprechen wie du“ funktioniert nur, weil im selben Atemzug die „Integrationsverweigerer“ erwähnt werden. Ganz so als wäre Deutschland ein Inklusionsparadies und die faulen Kanax hätten nur kein Interesse teilzunehmen. Als ich beim Date von meiner Oma erzähle, sagt er: „Ich wusste nicht, dass es Analphabeten unter den Gastarbeitern gab.“ Der Duden beschreibt Parallelgesellschaft als „in einem Land neben der Gesellschaft der Mehrheit existierende Gesellschaft“. Das ist falsch. Parallelgesellschaft ist der ständige Wechsel zwischen unangenehmer Sichtbarkeit und kompletter Unsichtbarkeit. Parallelgesellschaft heißt nicht nur, dass Minderheiten lieber untereinander bleiben, sondern auch, dass sich die Mehrheitsgesellschaft für sie und ihre Probleme nicht interessiert, egal, welche linken Sprüche auf ihren T- Shirts stehen. Parallelgesellschaft ist Alltag für Minderheiten in Deutschland. Parallelgesellschaft ist Deutschland.

       Dabeisein ist nicht alles

       23.12.2019, Missy Magazine

      Es ist kein Geheimnis, dass Menschen mit Zuwanderungsgeschichte und jene, die von Rassismus betroffen sind, in deutschen Medien unterrepräsentiert sind. Der sogenannte Migrationshintergrund, der allerdings keine Auskunft darüber gibt, ob eine Person auch von Rassismus betroffen ist, beträgt in Deutschland 25 Prozent. Dieser Anteil lässt sich aber in der deutschen Medienlandschaft nicht wiederfinden.

      In einem ZEIT-Streitgespräch, das am 17. Dezember veröffentlicht wurde, sagte der ZDF-Chefredakteur Peter Frey, dass Björn Höcke kein möglicher Talkshowgast für den Sender sei. Er erinnerte an seinen Kommentar zur Thüringenwahl, in dem er sagte, wer dem AfD-Politiker im Oktober bei der Landtagswahl die Stimme gegeben hat, habe bewusst rechtsextrem gewählt. Aber Frey sagte im Streitgespräch auch


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