Der Rattenzauber. Kai Meyer
Читать онлайн книгу.halten werdet.«
»So aber muss ich annehmen, dass Ihr in die Sache verstrickt seid.«
»Wollt Ihr mir drohen, Meister Robert?«
»Ich will nur die Wahrheit hören, sonst nichts.«
»Um jeden Preis?«
»Sorgt Euch nicht um Euer Ansehen.«
Dante seufzte, strich mit einer blitzschnellen Bewegung eine Haarsträhne aus seiner hohen Stirn und sagte dann: »Ihr habt gefragt, und ich will Euch die Antwort geben, die Ihr nicht hören wollt: Ich bin ein Reisender auf den Spuren der Hölle.«
Ich glaubte, meinen Ohren nicht trauen zu dürfen. »Ihr scherzt.«
»Das würde ich nicht wagen«, entgegnete Dante und wehrte den Vorwurf in einer übertriebenen Geste mit beiden Händen ab. »Ihr wollt wissen, was mich nach Hameln führte, und Eure Neugier will ich stillen. Gleich als ich das Gerücht vom Rattenfänger hörte, machte ich mich auf den Weg hierher, und, glaubt mir, es war ein Weg nicht ohne Mühen und für einen beachtlichen Preis. Seit einigen Jahren schon studiere ich das Wesen der Hölle und jener, die darin hausen. Ich habe zahllose Reiseberichte gläubiger Mönche gelesen, Reisen tief in den Abgrund von Sünde und Pein. Ich trage die entsetzlichen Visionen des Alberich von Settefrati ebenso tief in meinem Herzen wie jene des Thurchill und des Zisterziensers von Saltrey, dazu noch viele andere mehr, Schriften, die ich Wort für Wort zitieren kann, wenn Ihr es verlangt. Längst schon brennt der Wunsch in mir, selbst die unterirdischen Täler und furchtbaren Berge, die Flammenseen und Satansheere zu schauen, und so folge ich jeder Spur, jedem Hinweis auf ein Tor zum Reich des Leibhaftigen. Als ich nun hörte, dass der dämonische Rattenfänger die Kinder Hamelns durch eine Grotte im Kopfelberg in die Hölle geführt haben soll, hielt mich nichts mehr in meiner Heimat. Ich machte mich sogleich auf, und nun bin ich hier – seit zwei Tagen, um genau zu sein.«
Während Dante sprach, hatte Maria mein Essen aufgetragen, doch so gebannt war ich vom Wahn hinter seinen Worten, dass ich weder sie selbst noch den verlockenden Duft der Speisen wahrnahm. Ich hatte meinen Blick nicht ein einziges Mal von ihm abgewandt. Ein verzehrendes Feuer loderte in seinen Augen, das jeden Zweifel zerstreute. Dante glaubte an das, was er sagte.
Als mir das ganze Ausmaß seiner Besessenheit klar wurde, sprang ich auf, so heftig, dass der Tisch erzitterte und das Bier aus den Tonkrügen spritzte.
»Edler Ritter«, begann er beschwichtigend, »Ihr habt gefragt, und so –«
»Schweigt!«, fuhr ich ihm ins Wort. »Schweigt und versündigt Euch nicht weiter! Ist denn jeder in dieser Stadt vom Teufel besessen?«
Mit diesen Worten fuhr ich herum und stürmte die Treppe hinauf in mein Zimmer. Aller Hunger war vergangen, und mit ihm meine Geduld. Plötzlich begriff ich, dass nicht allein der Herzog seine Macht über Hameln verloren hatte; auch Gottvater schien mir ferner als jemals zuvor.
Es war dunkel. Ich stand am Fenster meiner Kammer und blickte hinaus über die buckligen Dächer der Hütten. Ich hatte geschlafen, wohl einige Stunden lang, bis mich die Träume durchgeschwitzt und wirr zurück ins Wachsein warfen. Die Fensterläden waren weit geöffnet, feiner Regen sprühte mir kühl ins Gesicht. Aus dem Labyrinth der Gassen stieg träge Stille auf wie Nebel. Ein feiner Geruch von Kaminfeuern hing in der Luft. Einmal hörte ich das Geräusch leiser Schritte im Schlamm, doch in der Finsternis war niemand zu sehen. Sonst war da nichts, nur Schweigen und Dunkel, ganz wie der Schlaf, nur ohne Träume.
Ich war nackt bis auf das Band mit der Hasenpfote an meinem Arm. Ich nahm sie, presste sie an meine Lippen und an meine Nase. Sie roch nach nichts, auch nicht nach Althea. Die schöne Astrologin des Herzogs hatte mir den Talisman bei unserem letzten geheimen Treffen anvertraut. Leg ihn nie ab, hatte sie geflüstert. Niemals.
Ein Geräusch auf dem Gang vor meiner Kammer ließ mich aufhorchen. Lautlos huschte ich zum Tisch, ergriff meinen Dolch. Presste dann ein Ohr an das Holz der Tür. Nichts war zu hören.
Ganz langsam schob ich den Riegel hoch, öffnete und spähte hinaus ins Dunkel.
Da war niemand. Der Flur war vollkommen leer.
Aus dem Nebenzimmer drang Dantes leises Schnarchen.
Ich schob die Tür wieder zu und lehnte mich mit dem Rücken dagegen. Hielt die Augen geschlossen und den Dolch umklammert. Mein Körper glänzte vor Nässe; vielleicht von Schweiß, vielleicht vom Regenwasser.
Ich wandte meinen Blick auf die Wand über dem Bett. Das Kruzifix hing inmitten des Schattengewebes, umsponnen von seidiger, kraftvoller Schwärze.
Am Morgen erkundigte ich mich bei der Wirtin nach dem Weg zum Genitium, der Tuchweberwerkstatt am Weserufer. Ich würde den alten Dorfbezirk durchqueren und ein Stück am Fluss entlang nach Süden gehen müssen. Im Genitium arbeiteten nur Frauen, woben wollene Mäntel und Hemden. Ich hoffte, dort einige Mütter der verschwundenen Kinder zu treffen.
Nach einem Frühstück aus Brot und fetter Milch – weder Maria noch Dante zeigten sich – machte ich mich auf den Weg. Der Himmel war unverändert düster und schwer. Regen fiel ohne Unterlass und setzte die Gassen noch tiefer unter Wasser. Abfälle und stinkende Ausscheidungen, sorglos aus Fenstern und Türen gekippt, trieben in Pfützen und Rinnsalen dahin. Mit ihnen schwamm klebriger Fäulnisgeruch durch die Straßen.
Ich trug kein Zeichen meiner Ritterwürde am Leib, nur ein einfaches Hemd und Beinkleid, außerdem den Dolch. Alles andere hatte ich im Gasthaus zurückgelassen, mit dem Befehl an die Wirtin, sorgsam darauf Acht zu geben. Doch trotz aller Schlichtheit hob ich mich allzu deutlich ab vom einfachen Volk in seinen zerlumpten, knielangen Tuniken über stoffumwickelten Beinen. Immer wieder trafen mich finstere Blicke. Eisige Ablehnung schlug mir entgegen. Zweifellos hatte sich meine Ankunft längst herumgesprochen.
In den engen Gassen traten die Menschen zur Seite, wenn sie meiner gewahr wurden, doch war dies kein Zeichen von Ehrerbietung. Man mied mich, darüber konnte kein Zweifel bestehen, und mir fiel ein, was Graf von Schwalenberg gesagt hatte: »Hinter vorgehaltener Hand spottet das Volk über Euch.« Niemand lachte, aber mir war klar, was der Alte meinte. Glanz und Glorie des Rittertums waren dahin.
Gelegentlich versuchte ich, einen Blick in eines der armseligen Häuser zu werfen, doch die meisten Fensterläden waren wegen des Regens geschlossen. Als ich scheinbar beiläufig an eine offene Tür trat, um hineinzusehen, vertrat mir ein schmutziger Kerl mit wildem Bart den Weg. Er stützte sich auf einen rohen Holzknüppel und sah mich herausfordernd an. Ich verstand die stumme Drohung und wandte mich ab; nicht, weil ich den Streit mit ihm fürchtete, sondern vielmehr, um mir nicht noch mehr Feinde zu schaffen, als dies meine Herkunft allein für mich tat.
Am Flussufer wurde ich Zeuge einer Urteilsvollstreckung. Einem Dieb sollte die rechte Hand abgeschlagen werden. Einmal mehr offenbarten sich die seltsamen Herrschaftsverhältnisse in Hameln. Zwei Männer drückten den jammernden Verbrecher auf die Knie und hielten seinen Arm über einen Holzblock. Daneben stand ein alter Mann mit einem Beil, dessen Schneide er auf den Handknöchel des Diebes drückte. Zweifelsohne war dies der verrückte, herzogstreue Henker, den Schwalenberg erwähnt hatte. Ein weiterer Mann in der Kleidung eines bischöflichen Schergen holte in diesem Augenblick mit einem schweren Holzhammer aus und ließ ihn auf die stumpfe Seite des Beiles krachen. Dadurch trieb er die Schneide mit einem entsetzlichen Bersten durch den Knöchel des schreienden Diebes. Mit zuckenden Fingern stürzte die Hand in den Schlamm. Ein groteskes, grausames Schauspiel. Beide Seiten, Herzog wie Bischof, hatten das Urteil gemeinsam vollstreckt.
Ich ging weiter, passierte zum zweiten Mal unter den misstrauischen Blicken der Arbeiter das Hamelner Loch und gelangte schließlich zum Genitium.
Das Gebäude war ein lang gestreckter Fachwerkbau, dessen Hinterwand an den Fluss grenzte. Riesige Wasserräder drehten sich knarrend mit der Strömung. Über dem Eingang bemerkte ich ein Kreuz, an dem man fünf Borretschblüten befestigt hatte – schlichte Hausmannsmagie, die es Ehebrecherinnen unmöglich machen sollte, das Gebäude zu verlassen. Ich bezweifelte, dass die Tagelöhnerinnen Kreuz und Blüten aus freiem Willen angebracht hatten.
Ich trat ein und sah mich zwei langen Reihen