Der Rattenzauber. Kai Meyer

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Der Rattenzauber - Kai  Meyer


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sprach mich eine Vettel an.

      Ich blickte vom Pferd auf sie herab und erwog für einen Augenblick, zu antworten. Schließlich aber schien mir dies zu Zeit raubend. Ich wollte nicht länger als nötig in der Stadt bleiben und hoffte, dass mir der Statthalter des Herzogs all meine Fragen beantworten konnte. Vielleicht würde es nicht einmal nötig sein, ein Nachtquartier zu suchen. So also ließ ich die Alte unbeachtet stehen und trieb mein Pferd zur Eile an.

      Schließlich hatte ich das Menschenvolk hinter mir gelassen. Die Gasse machte einen Knick nach rechts von der Stadtmauer fort, ich aber ritt weiter entlang des Befestigungswalls.

      Das Haus des Statthalters Graf Albert von Schwalenberg war nicht zu übersehen, so man einmal der engen Gasse bis zu ihrem Ende gefolgt war. Linkerhand wuchs hinter einem schmalen Streifen versumpfter Wiese die dunkelbraune Stadtmauer in die Höhe, rechts beugten sich schmale Fachwerkhäuser unter der Last des ewigen Regens. Der Boden war aus gelbem Lehm, zweifellos einst festgestampft, nun aber wie alles andere von schwerer Feuchtigkeit durchtränkt. Die Hufe des Pferdes sanken einige Fingerbreit ein, und jedem Schritt folgte ein widerlich schmatzender Laut.

      Der Sitz des Grafen war eines der wenigen fertig gestellten Steinhäuser in der Stadt. Es besaß zwei Stockwerke, wobei sich das obere einen halben Schritt über das Erdgeschoss hinausschob. Obenauf saß ein hohes Dach, aus dem dort, wo die Außenwand an die Stadtmauer stieß, ein kleiner Turm mit Zinnenkrone ragte wie ein zu groß geratener Kamin. Die Fassade war mit farbigen Malereien bedeckt, fantastischen Darstellungen alter Sagen und Legenden, denen eines gemeinsam war: Stets ging es um den Traum vom Fliegen. Ich erkannte den König des Zweistromlandes auf dem Rücken seines Riesenadlers, den er zuvor aus einer Schlangengrube befreit hatte; da war der orientalische Herrscher, der über seinem Thron ein hohes Gerüst voll mit Fleischstücken errichten ließ und hungrige Adler über seinem Kopf fesselte, sodass sie beim verzweifelten Bemühen, zum Fleische aufzusteigen, den Thron mit in die Lüfte hoben; auch der große Alexander schwebte mit einem Greifengespann über die Fassade des Hauses, gleichfalls Herzog Ernst, dem Ähnliches im vorigen Jahrhundert gelungen sein sollte; selbst Ikarus raste aufwärts zur Sonne. Mich erschütterte, dass auch unser Herr Jesus seinen Platz auf der Mauer gefunden hatte – seine Himmelfahrt war in prallen, hässlichen Farben gleich über dem Eingang festgehalten. In solch schaurigem Sammelsurium erschien mir dies nur wie die schamlose Spitze aller Blasphemie. Welch ein Mensch konnte hinter solchen Wänden wohnen, durchsetzt vom Kampf gegen Gottes Gesetz?

      Ich stieg vom Pferd und band es an einem Gestänge vor dem Haus an. Dann trat ich zur Tür und pochte laut. Nichts regte sich. Konnte es sein, dass der Graf mit den übrigen Stadtoberen im Rathaus weilte, um den Tod des Ketzers zu verfolgen? Plötzlich schien mir dies ganz selbstverständlich, und ich fluchte auf meine eigene Dummheit.

      Im selben Augenblick aber erklang von oben die Stimme eines Mannes. »Was wollt Ihr?«, fragte er grob.

      Ich trat einige Schritte zurück, stürzte fast, als ich knöcheltief im Dreck versank, und blickte hinauf zum Dach. Auf dem Turm war eine Gestalt erschienen, deren Züge ich durch Regen und Rauch nicht erkennen konnte. Ich hoffte inständig, dass es sich bei dem unflätigen Kerl um einen Diener handeln mochte, wenngleich mir die grässliche Ahnung kam, dass es durchaus der Graf höchstpersönlich war, der dort oben finster vorm Himmelgrau dräute.

      »Seid gegrüßt«, rief ich mit gebührender Höflichkeit. Es fiel mir schwer, länger hinaufzublicken. Der Regen brannte in meinen Augen.

      »Wer seid Ihr?«, fragte der Mann, bevor ich mich erklären konnte.

      »Robert von Thalstein, Ritter des Herzogs Heinrich und von ihm entsandt. Ist dies das Haus des Grafen von Schwalenberg?«

      »In der Tat«, entgegnete der Mann. Rauchschwaden schoben sich für einen Augenblick um den Turm und umhüllten seine Spitze wie ein schwarzer Blütenkelch. Ein raues Husten drang hinab auf die Gasse. Ich konnte nicht umhin, eine gewisse Genugtuung zu verspüren.

      »Warum seid Ihr hier?«, fragte der andere schließlich. Ärger über so viel Misstrauen lag in meiner Stimme, als ich antwortete: »Ich bin nicht befugt, meine Order durch ganz Hameln zu schreien. Ich bitte daher höflichst, mich einzulassen. Als treuer Diener des Herzogs droht Euch von mir keine Gefahr.«

      »Keine Gefahr?« Dies schien den Mann zu belustigen. Als mein Blick erneut dem Regen trotzte, war die Gestalt vom Turm verschwunden. Kurz darauf hörte ich, wie die Haustür von innen entriegelt wurde. Graue, eingefallene Züge erschienen im Türspalt. Statt mich endlich hereinzubitten, sagte der Mann: »Und Ihr seid ein Ritter des Herzogs?«

      »Das erwähnte ich schon.« Dann erst wurde mir klar, dass mein Gegenüber sich offenbar lustig machte. Sein Blick glitt über meine triefende Kleidung und das arme Pferd, von dem das Wasser in glitzernden Rinnsalen strömte. Mein Bündel, obgleich mit Leder umschlungen, war zweifellos ebenso durchdrungen von der scheußlichen Nässe wie alles andere in dieser elenden Gegend.

      »So tretet denn ein«, bat der Mann und fügte hinzu: »Ich bin Graf Albert von Schwalenberg, Statthalter des Herzogs zu Braunschweig und Ritter seiner Majestät König Rudolfs – wenn das noch etwas bedeutet, in diesen Tagen.«

      Er machte einen Schritt zur Seite, und ich betrat einen schmalen Gang, von dem nach beiden Seiten Türen in weitere Kammern führten. An seinem Ende öffnete er sich zu einem Kaminzimmer. Heiße Flammen züngelten in der Feuerstelle, und sogleich umfing mich behagliche Wärme.

      »Habt Dank«, sagte ich, als mir der Graf ein Tuch reichte.

      Er musste meinen zweifelnden Blick bemerkt haben, denn er sagte: »Ihr wundert Euch sicher, dass keiner meiner Diener für Euer Wohlergehen sorgt und ich selbst Euch empfange.«

      »Nun, ich –«

      »Streitet es nicht ab, Ritter«, fiel er mir ins Wort. »Ich kann Unehrlichkeit nicht ertragen. Deshalb will ich Euch auch gleich die Wahrheit sagen: Es gibt keine Diener mehr in diesem Haus, nicht mal einen Knecht im Stall. Man weigert sich, in meine Dienste zu treten. Die Macht des Bischofs ist groß in Hameln.«

      Ich legte das Tuch beiseite, nachdem ich es notdürftig auf meine nasse Kleidung gepresst hatte. Zumindest tropfte ich nicht mehr wie ein Wassergeist. »Wollt Ihr damit sagen, der Bischof verbietet den Bürgern, für Euch zu arbeiten?«, fragte ich zweifelnd.

      »Nicht der Bischof persönlich, er sitzt feist und schwer im fernen Minden. Doch seine Stellvertreter in der Stadt, der Stiftsvogt, sein Probst und der Dechant wissen mich jedweder Annehmlichkeit zu berauben.«

      Über eine Treppe stiegen wir hinauf ins Obergeschoss. Es wurde von einem einzigen, mit Holz ausgeschlagenen Saal eingenommen, an dessen einer Seite eine lange Tafel stand. Auch hier loderte ein warmes Kaminfeuer. Zur Einrichtung gehörten einige Felle und eine ganze Reihe mächtiger Truhen. Das einstmals blank polierte Holz wie auch die eisernen Beschläge waren durch fehlende Pflege matt geworden. Auf Stühlen vor dem Feuer nahmen wir Platz.

      Das Haupt des Grafen war lang und schmal, die fein geschnittene Nase unzweifelhaftes Zeichen seines Adels. Der weißgelbe Haarschopf wuchs in ungezähmter Dichte, trotz seines ehrwürdigen Alters; die leuchtende Wirrnis gab ihm die Aura eines stolzen Gelehrten. Doch wer in seine Augen blickte, der erkannte den Betrug seines Äußeren: Schwalenbergs Blick war trüb und gebrochen, jeder Funke seines früheren Stolzes längst gewichen. Der Graf hatte mehrere Jahrzehnte in Hameln verbracht, und ich erschrak bei der Erkenntnis, dass der Widerstreit mit den Getreuen des Bischofs ihn seiner Lebensglut beraubt hatte. Er war nicht ohne Würde, keineswegs, und was ihm auf dem Turm an Höflichkeit gemangelt, machte er nun durch Gastfreundschaft wett. Trotzdem blieb der Eindruck, dass ich hier nur mit dem Schatten seines einstigen Selbst am Feuer saß.

      »Ihr tragt eine Tonsur«, sagte er tonlos und deutete auf meinen Hinterkopf.

      »In der Tat erhielt ich die erste Weihe«, erklärte ich.

      »Doch seid versichert, ich bin dem Herzog treu ergeben und stehe in diesem Zwist mit ganzem Herzen auf Eurer Seite.«

      Er nickte bedächtig, als habe er nichts anderes erwartet. »Zu meiner Zeit trugen wir Ritter glänzende Rüstungen und die Trophäen besiegter


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