Harzkinder. Roland Lange

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Harzkinder - Roland Lange


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Ganz offensichtlich vermutete Neudeck dort den Mörder. Was war nur geschehen, dass Knoche beseitigt werden musste? Hatte es irgendetwas mit ihm und mit seiner Verbindung zu dem Marktleiter zu tun? War jemand dahinter­gekommen, dass er für Neudeck arbeitete? Doch wenn, wäre dann nicht eher er, Erik, das Opfer gewesen anstelle von Knoche? Nein, so ging die Gleichung nicht auf. Dietmar musste auf andere Weise zur Bedrohung für die Kameraden geworden sein.

      Eine Begebenheit drängte sich plötzlich wieder in seine Gedanken, der er bislang keine Bedeutung beigemessen hatte. Er hatte die Frau längst wieder vergessen gehabt, nachdem sie ihn mit ihrem Einkaufswagen im Markt über den Haufen gefahren hatte. In der Abteilung mit den Weinen. War sie eine von Franks Leuten gewesen? Eine alte Frau? Hatte sie ihn absichtlich angerempelt? Sie hatte ihn so merkwürdig angesehen, als er sich umständlich aufgerappelt hatte. Besonders sein fehlender Finger schien ihr Interesse geweckt zu haben. Ein seltsamer Blick, der in dem Moment etwas in ihm ausgelöst hatte, was er nicht hätte beschreiben können.

      Später, auf dem Parkplatz hatte er die Frau noch einmal bemerkt, als sie am Eingang gestanden und ihm aufgeregt hinterhergewunken hatte. Er hatte nicht gewusst, was sie von ihm wollte, war einfach weitergefahren. Sie verwechselt dich mit jemandem, hatte er da noch gedacht. Jetzt, nach dem Gespräch mit Frank, war er sich nicht mehr so sicher.

      Er fuhr sich mit den Fingern durch die drahtigen Haare, die ihm von seinem Kinn fast bis hinunter auf die Brust reichten. Seine Haarpracht war das Überbleibsel eines Anschlagplanes, den er und die Kameraden vor langer Zeit einmal ausgetüftelt hatten. Mit ihm, Erik, in der Hauptrolle. Den Plan hatten sie später wieder verworfen, die Haare waren geblieben. Neudeck hatte recht. Es wurde langsam Zeit, dass er sich den Bart abnahm und die Haare stutzte. Am besten heute noch.

      6. Kapitel

      Nur zwei Tage hatte Stefan Blume benötigt, um Katja Ortlepp aufzuspüren. „Jenny“ nannte sie sich jetzt, und sie war Mitinhaberin eines Western-Saloons. Als er das herausgefunden hatte, war er unvermittelt in herzhaftes Lachen ausgebrochen. Katja und ihre Vorliebe für Cowboys und Indianer. Geradezu vernarrt war sie in alles gewesen, was mit dem Wilden Westen zusammenhing. Damals, als sie noch über das Berufliche hinaus miteinander verbunden waren. Daran hatte sich seit jener Zeit offensichtlich nichts geändert.

      In Neustadt am Südharzrand hatte sich Katja also verkrochen, im nördlichsten Zipfel Thüringens. Blume fragte sich, was sie ausgerechnet hierher verschlagen hatte, fernab jeglichen urbanen Lebens. Andererseits, Wilder Westen und Harz-Einöde, das passte schon.

      Knapp drei Kilometer Reststrecke zeigte sein Navigationsgerät an, als er am frühen Abend die Ortsmitte von Neustadt passierte. Wenig später befand er sich auf einer befestigten Forststraße, die nach Osten direkt in das Mittelgebirge hineinführte. Er fürchtete bereits, sein Navi habe ihn in die Irre geleitet, in eine menschenleere Wildnis, als links, an einer abzweigenden Stichstraße ein lang gestrecktes Blockhaus auftauchte, das im Licht mehrerer Außenscheinwerfer hell erstrahlte. Das beleuchtete Hinweisschild vorn an der Straße, aus einer robusten Holzplanke gefertigt und zwischen zwei knorrigen Baumstämmen aufgehängt, zeigte ihm, dass er sein Ziel erreicht hatte. „Ponytail Saloon“ stand schwarz auf der Planke eingebrannt und etwas kleiner darunter „Restaurant, Bar, Dance-Hall“.

      Blume bog von der Straße ab und fuhr auf die weitläufige, zum großen Teil geschotterte Stellfläche, die sich rund um das Blockhaus zog. Eine Handvoll Autos parkte nebeneinander aufgereiht in der Nähe des Eingangs. Er steuerte seinen Wagen ans Ende der Reihe, hielt an und stieg aus. Einen Moment blieb er neben der Fahrertür stehen, sog tief die würzige Waldluft ein, die vom leichten Abendwind herübergeweht wurde, ehe er sich eine Zigarette ansteckte. Er machte einen Zug, stieß den Qualm aus. Dann ging er ein Stück vom Auto weg, blickte dabei nachdenklich über den nahezu verwaisten Parkplatz. Alles, sowohl der Platz als auch das Blockhaus, wirkten auf ihn völlig überdimensioniert. Wie sollten sich denn so viele Besucher auf einen Schlag hierher verirren? In diese Einöde? Das konnte er sich nicht vorstellen. Beim besten Willen nicht! Andererseits machte der Saloon keinen heruntergekommenen Eindruck, sah nicht so aus, als stünde er kurz vor der Schließung. Gut, das Geld, um solch ein Lokal zu führen und instand zu halten, konnte von sonst woher stammen, musste nicht unbedingt erwirtschaftet worden sein. Vielleicht hatte Katja zahlungskräftige Western-Fans im Rücken, die sich den Fortbestand dieses Saloons etwas kosten ließen.

      Er zog ein letztes Mal an der Zigarette, dann warf er die Kippe zu Boden, trat sie mit der Schuhspitze aus. Mit schnellen Schritten steuerte er auf den Eingang zu, öffnete die Tür und trat ein.

      Das rustikale, naturbelassen wirkende Ambiente, das die Außenansicht des Saloons prägte, setzte sich im Inneren mit der Einrichtung fort. Glänzende, dunkel gemaserte Holzdielen bildeten den Fußboden, die

      Deckenbretter waren rauchgeschwärzt und rau. Mehrere nahezu unbearbeitete Baumstämme, vermutlich Eiche, dienten als Stützpfeiler und markierten darüber hinaus die einzelnen Bereiche in dem weitläufigen Raum. Bleiche Totenschädel von Rindern und indianische Masken zierten die Pfeiler. An den Wänden zogen sich mit Fellen bedeckte Bänke entlang, darüber hingen unzählige gerahmte Schwarz-Weiß-Fotografien aus

      den goldenen Zeiten des Wilden Westens, aber auch solche neueren Datums und in Farbe. Auf ihnen posierten Freizeit-Cowboys in Wildwest-Kostümen, saßen auf ihren Pferden oder präsentierten stehend ihre Waffen – Colts, Vorderlader, Winchester-Gewehre. Andere mimten Indianer, entsprechend gekleidet und ausstaffiert, mit Pfeil und Bogen oder Tomahawk in der Hand. Die Bar wiederum entsprach bis ins letzte Detail dem Bild, das man aus unzähligen Westernfilmen kannte – der lange Tresen mit den Barhockern davor und den beiden authentischen Zapfanlagen. Dahinter eine reich verzierte Regalwand, in der sich unzählige Flaschen unterschiedlicher Whiskysorten und andere harte Getränke aneinanderreihten. Über allem prangte der Schriftzug „Ponytail Saloon“ und daneben eine riesige Südstaatenflagge.

      Blume blieb an der Tür stehen, ließ den Raum und seine Menschen auf sich wirken. An den Tischen saßen verstreut einige Gäste, denen vermutlich die draußen geparkten Autos gehörten. Zwei weibliche Bedienungen, stilecht gekleidet mit Stetson, Jeans, Karohemd und Cowboystiefeln, huschten zwischen den Gästen herum, eine andere kam durch eine Schwingtür, balancierte mehrere Teller mit Essen zu einem der Tische. In den Nacken der Bedienungen wippten Pferdeschwänze. Einen Pferdeschwanz trug auch die Frau hinter dem Tresen, die mit einem mürrisch wirkenden Barkeeper sprach und ihm, Blume, in diesem Moment einen flüchtigen Blick zuwarf. Etwas in ihm verkrampfte sich. Katja! Sie war es tatsächlich. Trotz der albernen Pferdeschwanzfrisur und ihrer weit über zwei Jahrzehnte zurückliegenden letzten Begegnung hatte er sie sofort wiedererkannt.

      In Blumes Rücken öffnete sich die Tür und eine Gruppe Männer und Frauen drängte herein. Einer der Männer, wie die anderen vollständig in ein Cowboy-Kostüm gekleidet, rempelte ihn an. Unabsichtlich, das zeigte er durch eine entschuldigende Geste. Blume stolperte ein, zwei Schritte in den Raum hinein, fing sich und sah der Gruppe nach, die laut plappernd an ihm vorbeizog und sich im hinteren Bereich des Saloons verdrückte. Er grunzte einen leisen Fluch, streckte sich und ging zur Bar hinüber. Dort setzte er sich auf einen der Hocker.

      Katja bemerkte ihn, kam zu ihm herüber. „’n Abend, Cowboy“, sagte sie lässig, „was darf’s sein? Whisky? Gin?“

      „Ein Bier wäre mir lieber“, entgegnete Blume.

      „Wet Bread?“

      Blume runzelte fragend die Stirn.

      „Unsere Spezialität“, erklärte sie. „Findest du in jedem Saloon diesseits und jenseits des Atlantiks. Oder Big Moose. Harzer Spezialität. Auch nicht schlecht. Ansonsten kann ich dir unser Schwarzbier empfehlen. Oder unser Weizen.“

      „Haben Sie auch ein ganz normales Pils?“

      Sie stutzte, wirkte für eine Sekunde, als habe er ihr ein unmoralisches Angebot gemacht. „Pils ... äh ... ja, natürlich.“ Sie wandte sich dem Barkeeper zu. „Sam, mach mal ein Altenauer Pils klar!“, rief sie, dann konzentrierte sie sich wieder auf ihn. „Du bist das erste Mal hier, oder? Hab dich noch nie gesehen.“

      Blume fragte sich, ob sie jeden neuen Gast auf diese misstrauische Art taxierte oder ob es an seinem


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