Nichts ist verjährt. Horst Bosetzky

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Nichts ist verjährt - Horst Bosetzky


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zwischen Adlershof und Grünau unterwegs war. Rechts zweigte die Linie ab, die über Altglienicke den Flughafen Schönefeld erreichte, der nun endlich ausgebaut werden sollte. Jetzt nach San Francisco oder Sydney fliegen …

      In Grünau war umzusteigen. Mit ihren knapp dreißig Jahren konnten sie sich gerade noch daran erinnern, dass für sie als West-Berliner hier einmal die Welt zu Ende gewesen war, denn der nächste Bahnhof, Eichwalde, lag nicht mehr auf Ost-Berliner Gebiet, sondern schon in der DDR, und man brauchte einen besonderen Passierschein dafür.

      «Wir hatten immer nur einen Passierschein für die Hauptstadt der DDR», sagte Ratajczak.

      Timo Zott lachte. «Und wir überhaupt keinen, denn mein Vater war ja hoher Polizeioffizier und durfte nicht rüber.»

      Sie überquerten das Adlergestell und warteten auf die Straßenbahn nach Schmöckwitz, die Linie 68, die von der BVG schon längst eingestellt worden wäre, wenn die Bürger nicht erregt dagegen protestiert hätten.

      «Schließlich ist es Berlins schönste Straßenbahnstrecke», erklärte Ratajczak. «Aber die Berliner sind ja Meister darin, alles abzureißen, was schön ist. Nimm nur das Stadtschloss oder den Anhalter Bahnhof.»

      Die Bahn war um die Ecke gebogen und hielt. Sie betätigten sich als Bergsteiger und enterten einen der hohen Tatrawagen. Die Klingeln schrillten, los ging es. Zuerst durch den Wald, dann bis Karolinenhof immer am Langen See entlang, eine Ausweitung der Dahme. Regattatribünen, Sportpromenade, Strandbad Grünau, Richtershorn … Am anderen Ufer ragten die Müggelberge, laut Fontane ein Mittelgebirge à la miniature, bläuend in den märkischen Himmel.

      Nur fünfzehn Minuten brauchten sie bis zum Dorfanger von Alt-Schmöckwitz, und als sie ausgestiegen waren, sang Ratajczak, Louis Armstrong nachahmend: « The time stood still …» Auf dem Hügel zu ihrer Linken gab es zwar keine Blaubeeren, dafür aber die sehr schlichte Dorfkirche aus dem Jahre 1799. Die Häuschen längs der Wendeschleife der Linie 68 wie auch das Ensemble aus Straßenbahnremise, Feuerwache und Grundschule ließen Ratajczak jubeln.

      «Alles so wie damals, kein Fertighaus und kein moderner Architekt mit pathologischem Selbstverwirklichungsdrang.»

      Die Magistrale des Ortes war Berlins längste Straße, das Adlergestell, das schon in Schöneweide begann und hier in Schmöckwitz auf dem Damm lag, der den Zeuthener vom Langen und dem Seddinsee trennte.

      Zwischen dem Adlergestell und der Straße am Seddinsee gab es drei Verbindungen, den Imkerweg, den Beutenweg und, als weitaus wichtigste, die Wernsdorfer Straße, die zur Brücke führte und den Verkehr mit Rauchfangswerder und Wernsdorf ermöglichte.

      Die Grundstücke auf der westlichen Seite des Imkerweges reichten bis zu einer Ausbuchtung des Langen Sees hinunter, die Schmöckwitzer Hafen genannt wurde und mit Bootsstegen gesäumt war. Ureinwohner erinnerten sich noch, dass es hier einst einen Sumpf gegeben hatte und mit ihm einen Siedler namens Schulze, den Sumpf-Schulzen, nicht zu verwechseln mit dem Turm-Schulzen aus der Goulbierstraße.

      Schräg gegenüber des Grundstückes, das jenem Sumpf-Schulzen einst gehört hatte, stand ein zweistöckiges, nicht unbedingt pompös zu nennendes Landhaus aus wilhelminischer Zeit, das mit viel Schinkel an der Fassade einiges herzumachen versuchte, aber inzwischen so stark in die Jahre gekommen war, dass sich sein Besitzer in vielen schlaflosen Nächten gefragt hatte, was denn sinnvoller sein würde: sanieren oder abreißen. Er hatte sich schließlich für die erste Alternative entschieden und der Baufirma von Günther Grauen die Sache übertragen.

      So waren Ratajczak und Timo Zott zu ihrem Job in Schmöckwitz gekommen. Rabitzwände mussten abgetragen werden, damit die Räume größer wurden, Sauerkrautplatten, die nur noch schlecht isolierten und nach Marderkacke stanken, waren von den Dachschrägen zu reißen, Furchen in den Putz zu ziehen, um elektrische Leitungen unter den Putz zu legen, uralte Heizkörper abzuschrauben und in den Schuttcontainer zu tragen, dicke Farbschichten von den Türen und Fensterrahmen zu schleifen, zu brennen und zu laugen und Tapeten aus dem Jahre 1962 von den Wänden zu lösen.

      Diese Aufgabe übernahm Timo Zott, denn als Makulatur hatte man damals Exemplare des Neuen Deutschland, benutzt, und bei der Lektüre konnte er manch neue Erkenntnis gewinnen. Ratajczak dagegen schlug und kratzte gern blühenden Putz von den Wänden, denn das erinnerte ihn immer an ein Praktikum in Pompeji und Herculaneum, bei dem sie mit viel beruflicher Lust und privater Liebe römische Villen freigelegt hatten.

      Zum Frühstück trugen sie Tisch und Stühle aus dem Haus, um es sich auf der Streuobstwiese hinter dem Haus gemütlich zu machen.

      «Richtig so, hier zu frühstücken», sagte Timo Zott. «Als Gutmenschen müssen wir natürlich etwas für die Zecken tun. Überall werden sie verteufelt und gejagt.» Er entblößte sein rechtes Bein. «Kommt nur her, ihr Lieben, an unserem Blute könnt ihr euch laben.»

      Ratajczak wusste nicht so recht, ob das Tun seines Freundes den strengen Regeln der Political Correctness entsprach, und lachte nur unter Vorbehalt. «Ich sprühe mich lieber mit Autan ein.»

      «Pfui, Chemie!»

      «Besser als Borreliose.»

      «Mit Borrelien in der Hose griff er nicht an ihre Dose», reimte Timo Zott.

      Ratajczak verzog das Gesicht. «Langsam geraten wir unter unser Niveau.»

      «Nur dort wohnt das Glück», erklärte Timo Zott. «Wo wohnt aber der Glück, Alois Glück, der bayerische Landtagspräsident? Wahrscheinlich in München, aber: Further research is needed.»

      Ratajczak spitzte die Ohren. «Ich glaube, wir bekommen Besuch.»

      «Was ’n Glück!»

      Am Zaun erschienen Günther Grauen, der die Sanierung des Hauses übernommen hatte, und der Psychologie-Professor Dr. Siegfried Schwellnuss aus Friedenau, der spätestens zu Beginn des Wintersemesters hier einziehen wollte. Man kannte sich schon, und die Begrüßung fiel kurz und geschäftlich aus.

      «Nun wird doch alles anders, was das Souterrain betrifft», sagte Grauen. «Keine Abstellräume, sondern eine richtige Einliegerwohnung.»

      «Ja», ergänzte Professor Schwellnuss, «meine Mutter will da einziehen.»

      Ratajczak lachte. «Ich verstehe: Sie schreiben doch gerade ein Buch über pathologische Mutterbindung.»

      Professor Schwellnuss zog die Augenbrauen hoch und seufzte hörbar. «Ja klar, wir Psychologen haben dieses Fach nur gewählt, um uns selber therapieren zu können.»

      «Ich habe mir ja mein Haus auch selbst gebaut», sagte Grauen.

      Ratajczak überlegte einen Augenblick. «Auf meine Profession bezogen hieße das, dass ich in tausend Jahren meine eigenen Knochen ausgraben möchte.»

      «Lass dich rechtzeitig klonen», riet ihm Timo Zott, «dann geht das schon. Aber warum bin ich Historiker geworden?»

      «Um vielleicht selbst einmal in die Geschichte einzugehen», meinte Professor Schwellnuss.

      «Danke für Ihr Vertrauen in mich und meine Produkte.»

      Grauen nahm das auf. «Bitte! Und darum fangt nachher gleich mal an, die Grundmauern freizulegen, wir müssen ja nun um die Einlegerwohnung herum alles isolieren.»

      «Meine Mutter mit ihrem Rheuma!», rief Professor Schwellnuss. «Bloß keine feuchten Räume.»

      «Also, Jungs, gleich in die Hände gespuckt, wenn wir wieder weg sind», sagte Grauen. «Einen Meter Breite, bis auf die Hausplatte runter.»

      Die beiden machten sich sofort ans Werk, denn es war allemal besser, draußen an der frischen Luft zu schippen, als drinnen im Haus im Dreck zu wühlen. Um das Haus herum waren Gehwegplatten verlegt, damit die Erde nicht gegen den grauweißen Putz spritzte, wenn es regnete oder man beim Sprengen den Wasserstrahl nicht richtig reguliert hatte. Die länglichen Platten stammten noch aus DDR-Zeiten, erkennbar an den gelben und rötlichen Pastelltönen und der typischen Oberflächenstruktur. Beim Hochheben zerbrachen viele von ihnen.


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