Gefundenes Fressen. Stephan Hähnel

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Gefundenes Fressen - Stephan Hähnel


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blutverschmierte Ende notdürftig in ein Papiertaschentuch. Er würde den Wischer verschwinden lassen. Die Stoßstange und der Kühlergrill waren stark in Mitleidenschaft gezogen, die Motorhaube war an mehreren Stellen eingebeult, die Frontscheibe hinüber. Das musste alles ausgetauscht werden.

      Er stieg ein und verriegelte die Tür. Durch die Risse in der Scheibe ließ sich die Straße gerade noch erkennen. Nachdenklich schaute er auf die Uhr, konzentrierte sich und schätzte, wie viel Zeit ihm blieb, den Wagen zu tauschen.

      Er kannte jemanden, der sich des Schadens annehmen würde, ohne Fragen zu stellen. Dieser Jemand besaß eine Werkstatt und arbeitete auf eigene Rechnung. Ein paar Tage musste der Mann wahrscheinlich einplanen, bis alle Bauteile beschafft waren und der Mercedes neuen Lack bekommen hatte.

      Wenn ein Ersatzwagen frei war, sprach nichts dagegen, dass er den Vortrag in Hannover pünktlich beginnen konnte. Prüfend blickte der Mann in den Rückspiegel, blinkte vorschriftsmäßig und fuhr langsam los.

      Der Regen würde alle Spuren verwischen. Der Mann sah nicht mehr, dass der rechte Daumen des Mädchens in jenem Moment fast unmerklich zu zucken begann.

      Die warme Juniluft schmeckte seit Tagen abgestanden. In den Cafés und Restaurants in Prenzlauer Berg saßen in den späten Nachmittagsstunden Touristen und Kiezbewohner einvernehmlich nebeneinander. Einige blätterten Zeitungen durch oder lasen ein Buch. Andere studierten einen Stadtplan oder tauschten Belanglosigkeiten aus. Die meisten kühlten ihr Inneres mit allerlei Getränken, seien sie nun alkoholischer oder gesünderer Natur. Wer Hunger verspürte, begnügte sich mit leichter Kost, zumeist einem üppigen, gesundheitsfördernden Salat. Dazu gab es experimentelle Brotsorten. Selten bestellte ein Gast ein Gericht, das einen Magen angemessen füllte.

      Niemand nahm Notiz von dem Elfjährigen, der bei dieser Hitze viel zu schnell mit dem Fahrrad durch die Schwedter Straße in Richtung Mauerpark fuhr. Der Junge schwitzte nicht nur wegen der hohen Temperaturen, sondern auch vor Aufregung, führte er doch bei einem imaginären Radrennen. Es war ein Spiel. Sein Spiel. Später einmal wollte er der berühmteste Radrennfahrer aller Zeiten werden.

      Mit einem Zwischenspurt war es ihm gelungen, sich vom Hauptfeld abzusetzen. Auch wenn er die Verfolger nicht sah, wusste er, dass ihm nur ein kleiner Vorsprung blieb. Bis zur Ziellinie oberhalb des Hundeauslaufplatzes im Mauerpark war es nur noch ein kurzes Stück. Nicht schwach werden!, dachte der Junge. Heute ist dein Tag. Du wirst der Champion!

      Glücklicherweise schaltete die Fußgängerampel an der Ecke zur Eberswalder Straße auf Grün, so dass er, ohne zu bremsen, die Fahrbahn überqueren konnte. Der Junge fühlte seine Oberschenkel brennen, als er die steile Strecke auf der Rückseite des Cantianstadions hinauffuhr. Ein Zickzackweg entlang dem Hundeauslaufplatz. Ehrgeizig biss er die Zähne zusammen. Noch fünf Kurven bis zur Bergkuppe, dann war er Tagessieger. Er spürte, wie ihm der Schweiß über die Stirn lief, und hörte, wie die Zuschauer vor Begeisterung seinen Namen riefen. Ein Freudenschrei, der tief aus seinem Innern aufgestiegen war, spornte ihn nochmals an. Du schaffst es!

      Gehetzt schaute Sebastian Eichner sich um. Er wusste, dass die Verfolger sich näherten. Schon spürte er ihren Atem im Nacken. Mit dem Daumen schaltete er in den nächsthöheren Gang und stellte sich mit dem ganzen Gewicht seines kleinen Körpers auf die Pedale. Er schnitt die letzte Kurve. Nicht schlappmachen! Nur noch zehn Meter bis zum Ziel …

      Die beiden Brüder beobachteten den Jungen, seit er sich entlang dem Hundeauslaufgebiet zu ihnen nach oben gearbeitet hatte. In ihren Gesichtern begann sich die Langeweile zu verflüchtigen. Der Größere schnipste seine Zigarette weg und stellte sich dem Jungen in den Weg. Der bremste und hielt an. Augenblicklich spürte er, wie seine Knie zitterten. Er wusste nicht, ob vor Erschöpfung oder vor Enttäuschung. Sie würden ihn um den Sieg bringen. Erst langsam begriff er, dass es Angst war, die ihn schlottern ließ. Sebastian fürchtete die beiden. Alle in seiner Klasse fürchteten sich vor den Fenske-Brüdern. Vorsichtig blickte er zurück. Von hier oben konnte er den ehemaligen Grenzstreifen überblicken. Eine Flucht war damals schon aussichtslos gewesen. Heute diente das einstige Grenzgebiet Erholungsuchenden. Die Fenske-Brüder würden nicht zulassen, dass er abhaute. Bevor er sein Fahrrad gedreht hätte, wären sie bei ihm.

      Noch einmal schaute Sebastian auf das Areal zwischen Wedding und Prenzlauer Berg. Einige Besucher lagen auf der Wiese, andere warfen sich Bälle zu oder spazierten gemächlich den alten Grenzweg entlang. Musik war zu hören.

      Der Junge musste an den Vortrag über den Todesstreifen denken, den er im Mauermuseum gehört hatte, als ihn ein Stoß aus seinen Gedanken riss und ihn zusammenzucken ließ. Die Brüder lachten. Verzweifelt überlegte Sebastian, ob er um Hilfe rufen sollte. Aber das würde alles noch schlimmer machen. Panisch ging er in Gedanken den Inhalt seiner Taschen durch. Das Einzige, was er dabei hatte, war ein Brief, den er zur Post bringen sollte. Diesmal würde er sich nicht freikaufen können.

      »Schwabenmaut!«, sagte Dante, der jüngere der Brüder, und rieb den Daumen an Mittel- und Zeigefinger. Um die Forderung zu unterstreichen, trat er gegen das Fahrrad. Sebastian verlor das Gleichgewicht und stürzte. Etwas Spitzes schabte über den Fuß. Ein stechender Schmerz ließ ihn reflexartig versuchen, das Bein unter dem Hinterrad hervorzuziehen. Es gelang nicht. Stattdessen stellte Marcus den Fuß darauf.

      »Schwabenmaut! Willst du dich drücken?«

      Der Schmerz wurde fast unerträglich. Doch Sebastian wollte nicht schreien. Dieser kleine Sieg sollte ihm bleiben. Trotzdem konnte er nicht verhindern, dass er laut aufstöhnte und seine Augen sich mit Tränen füllten. Seine Hilflosigkeit machte ihn wütend. Verzweifelt zischte er: »Lasst mich zufrieden!«

      »Brille runter!«

      Sebastian wusste, was das bedeutete. Langsam nahm er sie ab und schloss die Finger darum. Ohne Brille sah er nicht gut. Es klatschte. Seine linke Gesichtshälfte begann zu brennen. So war das immer. Sobald er widersprach, bekam er Backpfeifen. Auf dem Schulhof. Auf der Toilette. Auf dem Heimweg. Eine für Mama. Eine für Papa.

      Dante und Marcus machten sich einen Spaß daraus. Manchmal taten sie nur so, als verpassten sie ihm eine. Versuchte er sein Gesicht zu schützen, begannen sie erneut zu zählen. Eine für Mama. Eine für Papa.

      »Ich habe kein Geld dabei. Morgen zahle ich. Das Doppelte. Versprochen!«, hörte Sebastian sich mit weinerlicher Stimme sagen.

      Er erntete Schulterzucken. Marcus zog ihn unter dem Fahrrad hervor. Er hatte einen festen Handgriff. Dante nahm das Fahrrad, verdrehte den Lenker und trat kraftvoll gegen die Felge. Zufrieden ließ er sein Werk fallen. Dann öffnete er das obere Tor des Hundeauslaufgebiets. Als Sebastian von Marcus an ihm vorbeigezerrt wurde, verpasste Dante ihm die zweite Backpfeife. Tränen liefen über Sebastians Gesicht. Stolpernd folgte er einem winzigen Pfad, der sich zwischen hohen Büschen verlor.

      Hier konnte sie niemand sehen. Auch interessierte es weder Hundebesitzer noch Parkbesucher, was drei Jungs an diesem warmen Juninachmittag im Mauerpark taten.

      Sebastian hatte schreckliche, lähmende Angst. Die Brüder Fenske waren bekannt für ihre Gemeinheiten. Wen sie als ihren Feind betrachteten, der hatte schlechte Karten. Und »schwäbische Migranten« wie er hatten besonders schlechte Karten.

      Marcus, zwei Jahre älter als Dante, hielt Sebastian eine goldglänzende Verpackung vor das Gesicht, die an eine Tüte mit Bonbons erinnerte.

      Ohne Brille konnte der die Schrift darauf jedoch nicht entziffern. »Was ist das?«

      »Leckerlis für unser Opfer! Wer nicht zahlt, muss das fressen!« Schwungvoll riss Marcus die Packung auf. Er nahm eine Art Keks heraus und betrachtete ihn, als wäre es eine besondere Köstlichkeit.

      Dante drehte Sebastian den Arm auf den Rücken.

      »Maul auf!«, befahl er und verdrehte den Arm noch ein wenig mehr, um sicherzugehen, dass ihr Nachmittagsspaß sich nicht wehrte.

      Wenn das alles war, was sie wollten, würde er diesen komischen Keks essen. Nur weg hier!

      »Einen für die Scheißmama!


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