Gefundenes Fressen. Stephan Hähnel
Читать онлайн книгу.aufgrund der Hitze nur im Labor bestimmen.«
Morgenstern brauchte einige Sekunden, bis er begriff. »Im Mauerpark liegt fast einen Tag lang die Leiche eines Kindes – und niemand bemerkt etwas?«
»Die Eltern haben um 21 Uhr eine Vermisstenanzeige aufgegeben. Der Junge heißt Sebastian Eichner. Alles wurde nach Vorschrift behandelt. Das übliche Prozedere.«
Das übliche Prozedere bestand darin, ein Formular auszufüllen und die Eltern zu beruhigen. Mehr als einhunderttausend Vermisstenanzeigen gab es pro Jahr. Die meisten Gemeldeten waren Ausreißer und tauchten wieder auf.
»Seid ihr sicher, dass es sich um den vermissten Jungen handelt?«
»Wir haben einen Brief in der Tasche gefunden. Der Absender ist eindeutig …« Biondi brach ab.
Morgenstern wusste, dass sein Assistent selbst von einer Familie träumte. Biondi ließ keinen Zweifel daran, später einmal ein Kind zu adoptieren. Morgenstern hatte das mit Unverständnis zur Kenntnis genommen. Für ihn bestand die Familie aus Vater, Mutter und Kind. Dafür war er von Anna als hoffnungsloser Chauvi-Saurier bezeichnet worden.
Inzwischen transportierten Mitarbeiter der Gerichtsmedizin die Leiche ab. Auf dem Boden blieb nur die nachgezeichnete Kontur des toten Körpers übrig.
Morgenstern schaute sich um, wissend, dass es auf jedes Detail ankam. Auch wenn er es nicht hätte erklären können, sagte ihm sein Instinkt, dass etwas fehlte.
Weiter unten gab es Tumult. An der Polizeiabsperrung versuchte jemand, sich Zutritt zu verschaffen. Morgenstern, der nichts mehr am Tatort tun konnte, begab sich zu der jungen Frau, die ungewöhnlich gekleidet war und mit wütendem Gesicht einem Polizisten gestenreich etwas zu erklären versuchte. Biondi folgte ihm, dankbar, den Hundeplatz endlich verlassen zu können.
»Kann ich behilflich sein?«, fragte Morgenstern und schaute die Frau von oben bis unten an. Sie trug Anglerklamotten. Ein ausgeblichenes T-Shirt mit einem lachenden Hecht konnte an Lächerlichkeit kaum überboten werden. Die Hose, die mit einer Vielzahl von Taschen ausgestattet war, erinnerte an eine Kampfmontur. Außerdem trug die Frau Schuhe, die mit Metallgewebe verstärkt waren.
»Mörike. Kommissarin Linda Mörike. Ich soll mich bei meinem Vorgesetzten melden, Herrn Morgenstern. Aber dieser sture Kerl lässt mich einfach nicht durch.«
Der angesprochene Polizist hielt erneut die Hand vor ihren Körper, ohne sie zu berühren. Zweifelsfrei stand er regelmäßig wütenden Bürgern gegenüber. Mit der Zeit hatte er wie viele seiner Kollegen eine Art Lotuseffekt entwickelt, der alle Fragen und Beschimpfungen abperlen ließ.
»Können Sie sich ausweisen?«, fragte Morgenstern.
Die Frau schaute ihn entgeistert an. »Der Leiter des LKA 1 hat mich herzitiert. Ich werde erwartet.«
»Können Sie sich auswei …«
Sie unterbrach ihn. Morgensterns rechte Augenbraue zuckte kurz. »Wenn Sie mich nicht augenblicklich mit dem Leiter der Mordkommission reden lassen, garantiere ich Ihnen Ärger!«
Kriminalrat Max Herting hatte Morgenstern telefonisch davon in Kenntnis gesetzt, dass er ab Montag als Mentor eingesetzt sei. Morgensterns Protest hatte er mit dem Kommentar abgetan, er habe einen ganzen beschissenen Schrank voller Beschwerden. Die Anweisung komme vom Polizeipräsidenten persönlich. Eine Diskussion verbiete sich daher von selbst.
Hans Morgenstern betrachtete Linda Mörike und gab sich Mühe, ruhig zu antworten. »Für Sie Kriminalhauptkommissar Morgenstern. Und ehrlich gesagt, wollte ich mich erst ab Montag mit Ihnen herumärgern.«
° ° °
Die Greenline 33 Hybrid glitt langsam an der Schilfkante entlang, bis sie zum Stehen kam. Mit einer schwungvollen Bewegung warf Alexander Tibur den Anker in die Havel und wartete, bis die Strömung die Yacht in die richtige Position gedrehte hatte. Gekonnt band er das Tau fest.
Ian McCormik beobachtete interessiert das Geschick und die Ruhe seines Gesprächspartners.
»Would you like a drink?«, erkundigte sich Alexander Tibur.
»Wasser ist besser«, antwortete der Gefragte in einem perfekten, aber deutlich mit amerikanischem Akzent gesprochenen Deutsch.
Alexander Tibur nickte einer hübschen jungen Frau zu, die sofort in der Kajüte verschwand, um das Verlangte zu holen.
»Lassen Sie uns deutsch miteinander reden«, sagte McCormik. »Meine Mutter war Deutsche. Es wird mir guttun, meine Kenntnisse aufzufrischen.«
Schon bei der Begrüßung am Flughafen Tegel hatte der Vorsitzende von LuckyAnimals begriffen, dass er das Dossier einer New Yorker Kanzlei weitgehend als Makulatur betrachten konnte. Zwar hatten deren Wirtschaftsprüfer die Bilanzen der Tibur-Werke wie gefordert analysiert, ihre Beurteilung des Juniorchefs war jedoch ein Witz. Danach hatte McCormik ein Jüngelchen erwartet, das schnell zu Geld kommen wollte und sich mit Glasperlen zufriedengab. Jetzt musste er improvisieren und konnte von Glück reden, wenn es ihm gelang, Alexander Tibur in den nächsten Tagen zur Unterschrift unter den Übernahmevertrag zu bewegen.
Für die ökonomischen Parameter der Tibur-Werke hatte McCormik nur ein müdes Lächeln übriggehabt. Das waren sympathische Zahlen für ein mittelständisches Unternehmen. Dessen ungeachtet ging es um viel mehr. Der Hauptsitz der Tibur-Werke befand sich in Berlin. Produziert wurde an drei Standorten in Deutschland: Oldenburg, Schwarzenberg und Erlangen. In jeder Tierhandlung wurden Produkte der Firma Tibur als hochwertiges Premiumfutter angeboten. Seit der Gründung im Jahr 1955 hatte der Firmengründer Zacharias Tibur die Geschicke des Futtermittelproduzenten gelenkt. Trotz seines hohen Alters schien sich daran in absehbarer Zeit nichts zu ändern. Alle Offerten von LuckyAnimal, sich finanziell an seiner Firma zu beteiligen, waren am Eigensinn des Alten und seinem Ressentiment gegen Konzerne gescheitert.
Alexander Tibur, sein Enkel und der zweite Geschäftsführer des Unternehmens, stand einem Engagement aufgeschlossen gegenüber. Allerdings war der Verkauf der Tibur-Werke erst nach dem Ausscheiden des alten Sturkopfes möglich.
Schon als ihm Tibur junior am Flughafen zur Begrüßung wie selbstverständlich eine Packung Schimmelpenninck überreicht hatte, war McCormik klargeworden, dass der junge Mann besser vorbereitet war als er. Es waren genau jene Zigarillos, die er gern nach einer Verhandlung auf seinem Bootssteg nahe der Stadt Hampton in Virginia genoss, während er die Segler auf Chesapeake Bay beobachtete.
»Ich hatte das Glück, Paul Auster an der Universität in Alabama zu hören«, bemerkte Alexander Tibur. Er lächelte, während er an den Vortrag dachte. »Auster referierte über Mr. Bones, den alles verstehenden Hund. Und er sprach natürlich vom Paradies für Vierbeiner, jenem wunderbaren Ort mit den leckeren Würsten und dem Überangebot an läufigen Hündinnen. Timbuktu. Sie kennen den Roman?«
McCormik nickte. Paul Auster war sein Lieblingsschriftsteller und hatte auch das Drehbuch zu Smoke geschrieben. Er liebte diesen Film. Die Geschichte um einen kleinen Raucherladen hatte ihn eines gelehrt: Zuzuhören und sich für andere zu interessieren öffnete Tür und Tor.
»Sie haben Ihre Hausaufgaben gemacht. Ich bin beeindruckt«, bemerkte McCormik und öffnete die Schachtel mit den Zigarillos. Freundlich hielt er sie dem Gastgeber hin. »Ich weiß nicht mal, ob Sie überhaupt rauchen.«
Alexander Tibur verneinte. Die junge Frau stellte ein Glas Eiswasser auf den Tisch, lächelte strahlend und zeigte mit einem Finger zum Sonnendeck. »Wenn Sie etwas benötigen oder ich etwas für Sie tun kann …«, gekonnt legte sie eine Kunstpause ein, » … lassen Sie es mich wissen!«
McCormik blickte ihr taxierend hinterher, besaß aber den Anstand, nicht hinzusehen, als sie ihr Bikinioberteil auszog. Leicht fiel ihm das nicht. Er schätzte sie auf Mitte dreißig. Für Frauen mit überzeugenden Proportionen, die der Natur nicht künstlich nachhelfen mussten, hatte er ein Faible. Genüsslich zog er an dem Zigarillo und beobachtete die kleinen Segelboote auf dem Wasser. Netter Versuch!, dachte er dabei und registrierte mit Genugtuung, dass Tibur junior auch Fehler machte. Der Kerl glaubte ernsthaft, mit einem schönen Extra den Preis