Das Attentat auf die Berliner U-Bahn. Horst Bosetzky

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Das Attentat auf die Berliner U-Bahn - Horst Bosetzky


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Stillen dankte er Gott, dass seine Kinder nicht mitgekommen waren. Aber sein Schwager hatte keinen Kindergeburtstag feiern wollen. Nur Ludolf Tschello war zugelassen worden, weil dessen Eltern an diesem Tage nicht in der Stadt waren.

      Nun hatte auch Gustav Mahlgast die Kraft gefunden, sich aus seiner Erstarrung zu lösen, und beide zusammen öffneten die Tür zum Treppenhaus – um sofort zusammenzuzucken, denn der Schutzmann sah wirklich so aus, als würde er eine schreckliche Nachricht überbringen.

      »Herr Mahlgast …?«

      »Ja …«

      »Es tut mir sehr leid, aber …«

      »Hermann und Ludolf sind tot!«, schrie Gustav Mahlgast.

      »Nein, aber sie liegen im Krankenhaus. Ein Zug hat sie erfasst und zur Seite geschleudert.«

      »Mein Gott! Wie schlimm ist es denn?«

      »Nicht so schlimm, dass sie …« Der Schutzmann kam ins Schwitzen und musste sich erst einmal mit einem Tuch den Schweiß von der Stirn tippen. »Nur ein bisschen was am Kopf, soweit ich weiß, und ein bisschen was gebrochen.«

      »Ein bisschen was gebrochen?«, wiederholte Gustav Mahlgast.

      »Wo liegen sie denn?«, fragte sein Schwager.

      »Im Krankenhaus Bethanien.«

      Sie brauchten eine gute Viertelstunde, bis der eilig herbeigerufene Hausarzt Hertha Mahlgast mit Hilfe einiger Duftstoffe und einer speziellen Medizin so weit wiederhergestellt hatte, dass sie es wagen konnte, mit einer Droschke ins Krankenhaus zu fahren.

      Als sie am Mariannenplatz eintrafen, stießen sie mit Auguste Tschello zusammen. Diese hatte ihren krank gewordenen Vater am Schwielochsee besucht und war gerade nach Hause gekommen, als ein Schutzmann bei ihr am Klingelzug riss, um ihr mitzuteilen, was ihrem Sohn widerfahren war.

      Die beiden, Hertha und Auguste, lagen sich in den Armen und schluchzten.

      Gustav Mahlgast und Germanus Cammer verdrehten die Augen. Dass sich die Frauen immer so haben mussten! Schließlich war die Sache ja noch einmal glimpflich abgegangen.

      »Nun kommt mal langsam ins Krankenhaus rein, die Kinder warten sicher schon auf uns.«

      Das taten sie aber nicht. Sie lagen vielmehr auf ihren Betten und spielten schon wieder trotz ihrer Verbände – aber Hochbahn, nicht Eisenbahn. Von der hatten sie vorerst die Nase voll.

      »Bahnhof Schloßplatz!«, rief Hermann Mahlgast. »Alles aussteigen, Zug endet hier!«

      Ludolf Tschello tippte sich mit der linken Hand, soweit er sie trotz seines Gipsverbandes bewegen konnte, gegen die Stirn. »Schloßplatz wird doch nie ’ne Hochbahn erhalten. Meinst du denn, der Kaiser wird sich den schönen Ausblick verbauen lassen?!«

      »Bei mir fährt der Kaiser selber Hochbahn.«

      »Erst fahren doch mal seine Minister zur Probe, um zu sehen, ob der Zug auch nicht runterfällt.«

      Hermann Mahlgast war diesmal kompromissbereit. »Na schön: Alles einsteigen zur Ministerfahrt!«

       1878

      Georg Grasmuck war 1840 als Sohn eines Großbauern in Radensleben geboren worden. Nahebei, in Wustrau, lag das Schloss des legendären Reitergenerals Hans Joachim von Ziethen, der Friedrich dem Großen zu manchem Sieg verholfen hatte. So zog es denn auch Grasmuck zu den Husaren, und während seines Militärdienstes entdeckte er seine Liebe zu den Pferden. Er pflegte, streichelte und liebkoste sie weit mehr, als es zu seinen Pflichten gehörte, und er besaß das, was die Leute einen Pferdeverstand nannten. Es gab kein Trinkgelage, bei dem nicht darüber gespottet wurde, dass er es gelegentlich sogar mit seiner Lieblingsstute triebe wie mit einem Weibe. Das mit der Sodomie war zwar nichts weiter als üble Nachrede, aber Grasmuck begriff schnell, dass er sich dagegen nur wehren konnte, wenn er zum einen heiratete und zum anderen seinen Mitmenschen verständlich machte, dass ein Pferd für ihn nichts anderes sei als ein Gegenstand, mit dem sich Geld verdienen ließ. So stürzte er sich in die Pferdezucht und schaffte es nach einigen Jahren, ein Gestüt in der Nähe von Neuruppin und eines im Dorf Lübars im Norden Berlins sein Eigen zu nennen. Aber damit nicht genug, er erwarb Anteile an den Pferdebahnen, die ab 1865 überall in Berlin und seinen Vororten gegründet wurden.

      Kurzum, Georg Grasmuck war so gut im Geschäft, dass es zu einem stattlichen Haus am Kupfergraben gereicht hatte. Zu dem, was er mit Pferden und Pferdebahnen verdiente, kamen noch die Einnahmen aus einem Fuhrgeschäft, und wenn sich die Dinge weiter so entwickelten wie bisher, konnte er durchaus damit rechnen, an seinem fünfzigsten Geburtstag zum Kommerzienrat ernannt zu werden. Aber schon heute hatte er allen Grund, mit stolzgeschwellter Brust Unter den Linden zu flanieren. Er war halt wer.

      Seine Frau war seit Ostern zur Kur in Karlsbad, um ihre chronisch werdende Bronchitis auszukurieren, und Grasmuck nutzte ihre Abwesenheit, um wie ein Junggeselle durch die Stadt zu schlendern und nach hübschen weiblichen Wesen Ausschau zu halten.

      Doch wem lief er gegenüber der russischen Botschaft in die Arme? Keiner der marchandes d’amour, sondern seinem Intimfeind Germanus Cammer. Seit Jahren schon kämpften sie um die Vorherrschaft im Berliner Musikantenbund »Äolsharfe«. Jeder wollte das Sagen haben, und ihr Streit war bereits so weit eskaliert, dass sie sich in aller Öffentlichkeit Prügel androhten. Man hatte sie auch flüstern hören, den anderen eines Tages umbringen zu wollen. Sie hätten sich längst duelliert, wäre das noch möglich gewesen.

      »Sie hier?«, fragte Grasmuck. So einfach aneinander vorbeigehen konnte man auch nicht, die Form musste schließlich gewahrt werden.

      »Ich konnte doch nicht wissen, dass Sie auch …« Cammer war sichtlich verlegen und fürchtete, sich lächerlich zu machen, wenn er jetzt die Flucht ergriff.

      »Kommen Sie nächsten Dienstag zur Chorprobe?«, fragte Grasmuck, denn ein wenig Konversation gehörte dazu, wenn gebildete Menschen sich trafen. Früher hatte man sich geduzt, dann aber in kurzen Briefen den anderen gebeten, bitte wieder zum Sie zurückzukehren.

      Cammer verbeugte sich mit leichter Selbstironie. »Ja, selbstverständlich. Ich kann doch die ›Äolsharfe‹ nicht ihres besten Tenors berauben.«

      Schon fühlte sich Grasmuck getroffen. »Wer der beste Tenor ist, sollten wir die Fachleute beurteilen lassen, und ich glaube, die sprächen sich einvernehmlich …«

      Weiter kam er nicht, denn drüben auf der anderen Straßenseite wurden Hochrufe laut. Kaiser Wilhelm I. fuhr in einem offenen Wagen vorüber. Beide rissen ihre Hüte hoch, um in den Jubel der anderen Passanten einzustimmen.

      Da fielen plötzlich Schüsse. Dreimal knallte es kurz und trocken. Alles schrie auf: »Der Kaiser!«

      Doch der war nicht getroffen worden, und trotz des unbeschreiblichen Getümmels hatte man den Attentäter schnell ergriffen. Schutzleute stürzten herbei.

      Auch Grasmuck und Cammer waren schockiert. Jeder wurde augenblicklich in den Strudel der Emotionen gerissen.

      »Dass es dazu kommen musste!«, rief Grasmuck.

      »Man darf es nie so weit kommen lassen, dass man den anderen derart hasst«, sagte Cammer. »Wir beide sollten das als Zeichen des Himmels nehmen und zusehen, dass wir unseren Frieden miteinander machen.«

      Gottfried Ruppin fragte sich immer wieder, ob es wirklich eine kluge Entscheidung gewesen war, von Wolfshagen nach Berlin zu gehen. Als Kossät hatte er in der Prignitz ein elendes Leben geführt – zum Leben zu wenig, zum Sterben zu viel –, aber wenigstens hatte er in frischer Landluft schuften dürfen, während es in Berlin mit dem Mief immer schlimmer wurde, seit die Fabriken wie Pilze aus dem Boden schossen. Das wäre nun das Letzte für ihn gewesen, bei Schwartzkopff oder Borsig Tag für Tag in der Fabrikhalle zu stehen – dann schon lieber Straßen- oder Hochbau.

      Mit seinem Kollegen Carl Eichstädt kniete er an diesem Tage am Droschkenhalteplatz vor dem Stettiner Bahnhof, um Schäden im Pflaster zu beseitigen. Sie hatten ihren


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