Das Attentat auf die Berliner U-Bahn. Horst Bosetzky
Читать онлайн книгу.den Gepäckträgern und ankommenden Reisenden teils übel beschimpft.
»Passt bloß uff, ihr …!«, drohte Carl. »Sonst begehe ick heute noch mein ersten Mord!«
Gottfried Ruppin machte eine Handbewegung, die seinen Kollegen beschwichtigen sollte. »Nich so laut!« Der andere hatte nämlich schon einige Male wegen verschiedenster Roheitsdelikte im Zuchthaus gesessen, und bei der letzten Verhandlung hatte der Richter ihm angedroht, ihn für immer einzubuchten, sollte er sich noch einmal etwas zuschulden kommen lassen.
»Ach, halt’s Maul!« Carl warf eine schwere Gehwegplatte so heftig in den lockeren weißen Sand, dass diese viel zu tief einsackte und er sie wieder anheben und neuen Sand aufschütten musste, um den Schaden zu beheben.
Gottfried Ruppin konzentrierte sich auf sein kleinteiliges Pflaster. So einfach, wie es den Eindruck machte, war es nämlich gar nicht, einen Bürgersteig so herzurichten, dass er halbwegs glatt aussah. Nicht jede Unebenheit ließ sich später mit einer Walze oder einem Stampfer wieder ausgleichen. Und waren die Fugen zwischen den Steinen zu groß, kippten die Steine, wenn sie stark belastet wurden, zur Seite, und es gab bald ein großes Loch, denn kein richtiger Junge ließ sich die Gelegenheit entgehen, Steine aufzuklauben, wenn sie locker waren. Man konnte mit ihnen etwas bauen, man konnte sie als Wurfgeschosse benutzen. Dies ging Ruppin durch den Kopf, während er nach passenden Steinen suchte und sie dann mit einem leichten Hammerschlag zu den anderen in den Boden versenkte, immer abgelenkt durch die Menschen, die an ihm vorübereilten: Männer, die sich wichtig machten, Frauen, die zu schön waren, als dass er sie nicht bestaunt hätte. Wer auf dem Stettiner Bahnhof ankam und viel Gepäck bei sich trug, musste sich bei einem Schutzmann eine Droschkenmarke aus Blech beschaffen. Ohne Gepäck hatte man eine Marke 1., mit Gepäck eine 2. Klasse zu verlangen. Das aufgegebene Gepäck besorgte dann der Gepäckträger und rief am Droschkenhalteplatz laut die Nummer der Droschke. Die Marke hatte man dem Kutscher nach Besteigen des Gefährts auszuhändigen.
»Mistsau, du!«, fluchte Carl, denn eines der Droschkenpferde hatte, bevor es lostrottete, noch schnell abgeprotzt und eine fette Ladung Mist neben ihm aufs Pflaster gesetzt. Es spritzte bis zu seinen Hosenbeinen.
»Wenn die richtigen zu teuer sind, bleiben uns nur die Pferdeäppel«, sagte Gottfried Ruppin und legte dann, indem er sich ein wenig aufrichtete, die Hand an den Mützenschirm, denn den jungen Bankangestellten, der da aus der Bahnhofshalle kam, kannte er gut. »Hallo, Herr Bernstein!«
Eduard Bernstein, der später als Theoretiker des revisionistischen Flügels der SPD bekannt werden sollte, freute sich über das Echo der arbeitenden Masse und grüßte zurück.
Gottfried Ruppin hatte ihn im Frühjahr als Dozenten im Arbeiterbildungsverein in der Seydelstraße 8 erlebt, gleich am Spittelmarkt. Der Verein der Freunde der Gerechtigkeit, den die meisten als Mohren-Club kannten, weil er in einem Bierlokal in der Mohrenstraße tagte, hatte ihn gegründet, durchweg linksliberale Studenten und Referendare.
Schon früh tauchte der Name Gottfried Ruppin in den Akten der Abteilung VII auf, der politischen Polizei, genauer gesagt am 31. Juli 1872. Damals war er, gerade siebzehn Jahre alt geworden, im Berliner Osten im wahrsten Sinne des Wortes auf die Barrikaden gegangen. Er hatte in der Kleinen Andreasstraße gewohnt und wie alle Arbeiter ringsum unter den elenden Wohnungen, dem Mietwucher und den Zwangsräumungen gelitten. An der Ecke Blumen- und Krautstraße hatten sich viertausend Arbeiter zusammengefunden – »zusammengerottet«, wie es in den Polizeiberichten hieß –, um gegen die Hauswirte zu protestieren. Als man einigen von denen die Scheiben eingeworfen hatte, war die Polizei angerückt – und mit einem Steinhagel empfangen worden. 159 Demonstranten waren durch Säbelhiebe verletzt, 80 verhaftet worden, unter den Letzteren auch Gottfried Ruppin. Vor Gericht war er nicht gekommen, aber ein Stellmacher, ein Droschkenkutscher, ein Maurer, ein Schlosser und ein Appreteur waren zu je viereinhalb Jahren Zuchthaus verurteilt worden.
Glück hatte er auch am 18. März 1873 gehabt, dem 25. Jahrestag der Berliner Märzrevolution. Damals war er zusammen mit zwanzigtausend Lassalleanern vom Gartenlokal der Aktienbrauerei Friedrichshain zum Friedhof der Märzgefallenen gezogen und hatte mit entblößtem Haupt die »Arbeiter-Marseillaise« gesungen. Da die Obrigkeit die Demonstration nicht genehmigt hatte, gab es am Landsberger Thor eine Säbelattacke der berittenen Polizei. Die Arbeiter flüchteten zwar, konnten aber die Polizisten mit einem Steinhagel in Schach halten. »Ich bin jetzt mehr Steinwerfer als Steinsetzer«, sollte Gottfried Ruppin am Abend erklären.
Sein drittes großes Recontre mit der Polizei hatte er am 19. März 1877 an der Landsberger, Ecke Lichtenberger Straße. Angefangen hatte alles am Alexanderplatz, wo polnische Arbeiter dabei waren, zu Niedrigstlöhnen die Schienen der neuen Pferdebahn zu verlegen. Das wollten sich die Berliner Arbeitslosen nicht gefallen lassen. Etwa zweitausend von ihnen, darunter auch Gottfried Ruppin, besetzten den Platz, um die Gleisbauarbeiten zu verhindern. »Wir wollen Arbeit haben!«, riefen sie. »Lieber lassen wir uns einsperren, als dass wir verhungern!« Wieder war die berittene Polizei zur Stelle und trieb die Menge vor sich her.
»Feierabend!«, rief Carl Eichstädt und machte sich daran, die Gerätschaften in eine kleine Bude zu tragen und einzuschließen. »Kommste mit, ’n Bier saufen?«
»Nee danke, ich treff mich mit Paula.«
Carl lachte. »Steck ’n schönen Gruß mit rein!«
Gottfried Ruppin wusste darauf nichts zu erwidern, zog seine Jacke über und machte sich auf den Heimweg. Der Stettiner Bahnhof war von der Parochialstraße nicht so weit entfernt, als dass er den Weg nicht zu Fuß geschafft hätte. Das Geld für die Pferdebahn sparte er gern. Das Haus, in dem er Stube und Küche gemietet hatte, war ein schmales Handtuch, hatte nur einen winzigen, lichtlosen Hof und hätte eigentlich schon längst abgerissen werden müssen. So ärgerte er sich auch über den Sonntagsmaler, der vor seiner Haustür hockte und versuchte, die Parochialstraße mit der Nikolaikirche im Hintergrund auf die Leinwand zu bringen.
»Wir müssen hier in den Rattenlöchern vegetieren, und Sie kommen her und …« Die richtigen Worte fehlten ihm an dieser Stelle, und er hoffte, dass sie ihn und einige begabte Genossen im neuen Arbeiterbildungsverein auch schulen würden, um bessere Redner aus ihnen zu machen. »Rhe … Rhe …?« Er kam nicht darauf, wie der Fachbegriff dafür hieß.
Der Maler, offenbar ein Lehrer, ließ sich nicht davon abbringen, für sein Motiv zu schwärmen. »Das müssen Sie verstehen, mein Herr, das ist doch hier viel schöner als auf dem Montmartre mit seiner Kirche Sacré-Cœur.«
Gottfried Ruppin ging weiter, freute sich aber, dass die wackere Mutter Scholz mit ihrem Krückstock in einen frischen Haufen Hundekacke fuhr und ihn dem Kunstmaler vor die Nase hielt: »Kacke am Stock is ooch ’n Bukett. Det malen Se mal!«
Er wollte gerade in seine Haustür treten, als er Paula die Straße heraufkommen sah, einen Einkaufskorb in der Hand. Mit beiden Armen winkte er ihr zu. »Das ist ja eine Überraschung!«
Paula Plötzin stammte aus einer zwölfköpfigen Familie und war in einem Hinterhof im Wedding groß geworden. Jetzt hatte sie eine Anstellung bei einem Arzt, der seine Praxis und seine Wohnung in der Klosterstraße hatte. Sie wusste, dass sie hübsch war und durchaus Chancen hatte, den Herren aus den höheren Ständen den Kopf zu verdrehen, doch seit dem letzten Frühjahr war sie mit ihrem Gottfried verbandelt und hoffte, dass der es einmal zum Bauunternehmer bringen würde, fleißig und strebsam, wie er war.
Sie konnten nur ein paar Worte miteinander wechseln, denn Paula war auf dem Weg zu einem Kranken, um ihm die Medizin direkt nach Hause zu bringen. Das duldete keinen Aufschub. Ein kurzer Kuss nur, dann eilte sie weiter. An ihrem freien Abend wollten sie wieder einmal tanzen gehen.
Beschwingt sprang Gottfried Ruppin die Treppe hinauf, so dass sich die morschen Stufen unter seiner Last gefährlich bogen und krächzten. Er schloss seine Wohnungstür auf, zog sich bis auf die Unterhose aus und warf sich erst einmal auf sein Bett, seine Schweinebucht, das in einer Nische stand. Die Arbeit im Straßenbau war schwer, und er brauchte immer einige Zeit, um wieder zu Kräften zu kommen. Schon nach einigen Atemzügen war er eingenickt, nur um wenige Minuten später wieder hochzufahren, denn draußen wurde an die Tür gebummert.
»Aufmachen,