Brennpunkt Ukraine. Christian Wehrschütz

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Brennpunkt Ukraine - Christian Wehrschütz


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zu reformieren. Die Infrastruktur dort, neben der Sicherung von Dienstleistungen aus Charkiw und Donezk, war in einem sehr schlechten Zustand. Was sind aus Ihrer Sicht die Gründe für diesen großen Misserfolg?

      Es ist eine Tragödie, dass die Ukraine dies nicht geschafft hat. Aber Sie legen Ihren Finger auf etwas, was das Land hätte tun müssen. Ich habe schon mehrmals darüber geschrieben, etwa in der Mitte der 90er-Jahre einen Artikel über die Ukraine. Ich betitelte ihn ursprünglich – die Redaktion hat den Titel dann geändert, was ich nicht gebilligt habe – mit „Auf dem Weg zu einem besseren Leben stecken geblieben“ – wegen dieser Trennung. Und ich bin nach Kiew gegangen, ich war früher viele Male dort, aber Mitte der Neunziger bin ich mit einem Team von ehemaligen Beamten des internationalen Sicherheitsrats gekommen, um die Ukrainer darüber zu informieren, wie wir die nationale Sicherheit im Amt des Präsidenten organisieren. Wir hielten Briefings ab und als wir mit hohen Beamten sprachen, sagte der Ukrainer, der den Vorsitz hatte: „Wenn ihr Amerikaner über die nationale Sicherheit sprecht, sprecht ihr über Außenpolitik. Lassen Sie mich Ihnen zeigen, was unser Problem ist.“ Und dann zeigte er uns die Karte mit der Abstimmung in der letzten Sache und die Teilung zwischen West und Ost. Er sagte: „Unser Sicherheitsproblem ist intern, nicht extern.“ So war es immer sehr klar, auch dann, dass, obwohl die Ukrainer das erkannten, sie noch nicht ein Gefühl der Einheit, eine Nation und all das geschaffen hatten.

      Ich schrieb zu der Zeit, sie sollten sehen, wie beispielsweise die Finnen 20 % der Bevölkerung, der schwedischen Bevölkerung, die vollkommen gleichen Rechte gegeben hatten. Sie hatten ihre Zeitungen, sie hatten ihre Theater (wenn sie so viele haben, ich denke, es sind 20 % der Bevölkerung), sie konnten ihre Kinder zum Beispiel an eine schwedische Schule schicken. Jetzt wurde Finnisch in all diesen Schulen unterrichtet, die Erziehung kann aber beides sein, ja, die Hochschulbildung kann entweder in Finnisch oder Schwedisch sein. Oder die Iren! Haben die Iren gesagt: Du musst Keltisch sprechen? Sie können kein Englisch sprechen und sind ein echter Ire? Oder schauen Sie auf Belgien – okay, es gibt noch Spannungen zwischen der Französisch und der Flämisch sprechenden Bevölkerung. Aber sie haben gleiche Sprachenrechte erhalten und ein Gefühl der Nationalität geschaffen, die nicht ausschließlich auf Sprache beruht.

      Wir hatten vor Kurzem einen Vortrag von einem Ukrainer, der jetzt in Deutschland lehrt, aber, glaube ich, er stammt aus Charkiw, ein Russisch sprechender Ukrainer. Er sagte, dass man von der Gegend um Kiew und den Zentralbereich der Ukraine wisse, dass die meisten Menschen zu Hause Russisch sprechen, es aber sehr schlecht schreiben, weil in den Schulen nur Ukrainisch unterrichtet wird. Wissen Sie, ich kenne andere Aussagen von Menschen aus Odessa, die sagen: „Ich bin ein treuer Ukrainer, ich möchte nicht Teil der Russischen Föderation sein, aber meine geistige Welt ist Russland, ich möchte in der russischen Kultur leben.“ Irgendwie haben sie kein Nationalgefühl geschaffen, dass man sich in Russisch wohl fühlt und doch ein Ukrainer sein kann. Aber ich denke, dass viele Ukrainer der globalen Tradition folgen und der Ukraine in einem bestimmten Sinne treu bleiben wollen, aber auch einem Teil der russischen Kulturwelt folgen wollen. Seien wir mal ehrlich: Ich hasse es, diese Sache zu bewerten, aber die russische Literatur bzw. Kultur ist reicher als die ukrainische, es ist in vielerlei Hinsicht eine größere Welt. Und ich kann verstehen, dass eine Russisch sprechende Person ihren geistigen Horizont nicht auf die ukrainische Kultur beschränken möchte, so reich sie auch sein mag.

       Glauben Sie, dass, wenn Sie nun die Ukraine und Russland zumindest formal vergleichen, Russland einen starken Führer mit Putin hat, oder mit Putin und Medwedew? Es gab den Kolomojskij-Fall, bei dem mindestens ein großer Oligarch diszipliniert wurde. Glauben Sie auf der anderen Seite, dass es eine große Fragmentierung mit den Oligarchen in der Ukraine gibt, ohne jetzt über Kolomojskij zu reden und Michail Prochorow, der wirklich sein eigenes Spiel spielt, von Russland gehasst wird und Russland wirklich hasst in einem sehr, sehr weiten Sinn? Also denken Sie, dass eine hohe Kunst der Politik zu einem gewissen Grad in Russland unter Putin wiederhergestellt ist, während man in der Ukraine immer noch diese Fragmentierung hat, dass Oligarchen einen von ihnen wählen oder einer der bequemen Führer Präsident wird?

      Ich denke, das ist richtig, ja. Es ist absolut richtig und sehr schwer, die Zukunft vorauszusagen, weil ich denke, dass sie alle aus der gleichen Art von sowjetischem Erbe kommen, und das bedeutet, dass man manchmal plötzliche Umkehrungen haben kann. Oft sind die Verhandlungen, die hinter den Kulissen laufen, die, die entscheidend sein werden. Und der Eindruck an der Oberfläche ist nicht immer die ganze Wirklichkeit. Ich bin nicht so gut informiert über das Zusammenspiel dieser verschiedenen Oligarchen. Putin hat nun, ich würde sagen, nicht nur praktisch die Kontrolle über vieles in Russland übernommen. Indem er die Krim annektiert hat, hat er seine allgemeine Popularität zumindest vorübergehend sehr stark erhöht. Ich denke, sie war im Abnehmen, als er zurück zur Präsidentschaft kam, und jetzt ist sie sehr hoch. Ob das lange andauern wird, ist eine andere Frage, weil die Krim für die Russen sehr teuer werden wird, wenn sie versprechen, die Pensionen zu verdoppeln und ähnliche Dinge. Sie werden damit durchkommen müssen, andernfalls werden sie in einem oder zwei Jahren eine sehr enttäuschte Bevölkerung haben. Es ist schwer abzusehen, wie sie alle diese Erwartungen erfüllen werden. Auch wer immer die Kontrolle über den Donbass erhält, wird das tun, was diese Leute erwarten, und das wird eine Menge Geld kosten.

      Ich sehe eine Menge Ärger voraus und denke, dass Putins Sorgen intern viel ernster sein werden als alle Sanktionen, die der Westen ihm auferlegen kann. Obwohl ich verstehe, dass der Westen, wenn er entscheiden sollte, dies zu tun, das russische Finanzsystem schwächen kann. Das ist etwas, wo sie echte Hebelwirkung haben. Ich glaube nicht, dass es klug wäre, dies zu tun. Ich bin mir sicher, dass die meisten Mitglieder der EU es nicht zu weit treiben wollen – natürlich wie wir alle. Die EU hat ein viel stärkeres wirtschaftliches Engagement in Russland als die USA und würde einen viel höheren Preis zahlen, wenn es zentrale Sanktionen geben würde, die wirklich der russischen Wirtschaft schaden würden. Die bisherigen Sanktionen zielen hauptsächlich auf Personen und sind nicht so wichtig. Ich denke, sie sind vor allem für inländische Wahlkreise – damit man etwas tut. Aber ich hoffe, dass der Westen auf zentrale Sanktionen verzichtet, weil ich denke, dass man am Ende dem ganzen Land schadet, es weiter isoliert und einen wirklich „kranken Mann“ im Osten schafft.

       Aber auf der anderen Seite scheint mir das sehr deutlich, und Sie haben erwähnt, dass Russland ein enormes finanzielles Problem haben wird, die Krim, Donezk und Lugansk aus wirtschaftlicher Sicht wiederherzustellen. Ich sehe daher keinen realistischen Grund, warum Russland daran interessiert sein sollte, den Donbass zu übernehmen. Auf der anderen Seite, wie kann man eine Lösung finden, bei der Putin sein Gesicht nicht verliert?

      Nun, ich würde zunächst sagen, die Einheit der Ukraine muss in der ersten Instanz von Ukrainern selbst geschaffen werden. Solange sie dies nicht tun, gibt es nicht viel, was irgendjemand von außen, ob es nun die Russen sind oder die EU oder die USA, für sie tun kann. Das, denke ich, müssen wir bedenken. Wenn ich die amerikanische Politik machen würde, hätte ich die ganze Zeit die Ukrainer dahingehend beraten, dass sie, wenn sie unsere Unterstützung wollen, sich zur Neutralität verpflichten müssen. Ich meine, wir haben die Russen aus Wien weggeholt, indem Österreich nach dem Schweizer Vorbild zu dieser Zeit neutral wurde. So gibt es jede Menge Präzedenzfälle – und warum wir nicht drängen, das weiß ich nicht. Aber bisher, Sie wissen es, ist die Antwort, dass jedes Land das Recht haben sollte, die Mitgliedschaft zu beantragen. Das mag so sein, aber das bedeutet nicht, dass man sie nehmen muss. Und sicherlich würde ich vor dem amerikanischen Kongress argumentieren, dass wir nie ein Land wie die Ukraine in die NATO nehmen und seine Sicherheit garantieren sollten, weil es nicht eine völlig einheitliches Land ist. Es hat interne Probleme. Warum sollten wir unseren eigenen guten Glauben auf das Spiel setzen, wenn sie nicht ihre eigenen Probleme gelöst haben? Es geht wirklich darum: Können es die Ukrainer?

      Was die Russen erbeten haben, war zumindest an der Oberfläche nicht unvernünftig. Es scheint mir, dass wir, die EU und die USA, die Ukrainer dahingehend hätten drängen sollen, das zu akzeptieren. Das war erstens, dass Russisch den gleichen Status wie Ukrainisch als Amtssprache haben sollte, vor allem in jenen Bereichen, in denen diese Sprache weit verbreitet gesprochen wird. Zweitens, dass das Land entweder ein föderales System übernimmt oder ein System mit sehr erheblicher lokaler Kontrolle über die lokale Politik. Es scheint mir, es gibt


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