Brennpunkt Ukraine. Christian Wehrschütz

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Brennpunkt Ukraine - Christian Wehrschütz


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als Tragödie der UdSSR, weil das Białowieża-Abkommen43 unterzeichnet wurde. Und ich sage, dass der Anfang des 21. Jahrhunderts eine Tragödie sein wird, die von Putin verursacht worden ist: Denn er hat 40 Millionen Slawen zu Feinden Russlands gemacht, und die Russen zu Feinden von diesen 40 Millionen. Das ist eine Tragödie.

      Ich war auf der Krim, mehrmals in Donezk, Lugansk, jetzt war ich wieder in Mariupol. Vor etwa 22 Jahren hat die Ukrainisierung die Russifizierung ersetzt. Außerdem gibt es in der Westukraine andere Denkmäler, und als der Prozess des Aufstellens von Denkmälern in Donezk losging, dann sagte man, dass dies „Verräter“, „Faschisten“ und „Banderas“44 seien. Sie kennen diese Terminologie. Mein Eindruck war, dass es in der Ukraine an einer gemeinsamen Idee fehlt, vom Westen bis zum Osten. Oder?

      Es gibt keine einheitliche Sichtweise auf die Geschichte, auf das historische Gedächtnis, auf die Ideologie in der Ukraine. Die Bevölkerung der Ostukraine setzt sich in der Regel aus Menschen zusammen, die sich am Osten und am Norden orientieren. Der westliche Teil orientiert sich am Westen. Ja, wir haben Probleme, sowohl im Osten als auch im Westen. Aber ich frage mich: Heißt das, dass, wenn wir Probleme im Osten haben, Russland dann Krieg gegen uns führen muss? Wenn wir Probleme im Westen haben und wir Denkmäler setzten, die man im Westen nicht mag, heißt es, dass der Westen einen Krieg gegen uns führen soll? Ich sage nur eins: Mischen Sie sich nicht in unsere Angelegenheiten ein. Wir mischen uns doch nicht in die Angelegenheiten von Deutschland, Österreich oder eines anderen Landes, falls sie irgendwelche Denkmäler setzen. Wir mischen uns nicht ein. Wir sagen: „Das ist Ihre nationale Angelegenheit.“ Und wir werden mit unseren Angelegenheiten alleine klarkommen. Wir brauchen Zeit, wir müssen uns klar werden, was wir wollen. Kaum ist in der Ukraine etwas passiert, geht sofort der Aufschrei los, dass die Ukraine etwas macht. Stört die Ukraine jemanden dadurch? Erhebt sie etwa Ansprüche auf fremde Gebiete? Erhebt sie Ansprüche auf fremde Geschichte? Nein, sie versucht, ihre eigenen Probleme unter sehr schwierigen Bedingungen zu lösen. Deshalb sage ich, dass wir, wenn sowohl die eine als auch die andere Seite sich in unsere internen Angelegenheiten nicht einmischen würde, diese Probleme schon längst gelöst hätten.

       Sie müssen trotzdem die Idee eines Staates innerhalb des Staates aufrechterhalten, der Staat muss eine gemeinsame Idee sein. Wie kann man eine solche Idee in der Ukraine erschaffen?

      Absolut. Hier gibt es ein Problem. Unsere Regierung hat das nie unterstützt: der Bau des Stalin-Denkmals, der Bau des Bandera-Denkmals – das wurde nie unterstützt. Das wurde alles vor Ort gemacht. Wir fangen an, Einfluss zu nehmen, damit dies nach und nach auf einem allgemeinen zivilisatorischen und kulturellen Niveau stattfindet. Alles: sowohl das Geistige als auch das Ökonomische. Es ist nicht einfach, nach Jahrzehnten der sowjetischen Parteimacht die Situation so schnell zu verändern. Man muss die Geschehnisse einfach verstehen können. Aber wir lehnen das nicht ab, wir sagen nicht, dass es so sein soll. Aber wir bitten um die Möglichkeit, dieses Problem selbst lösen zu können. Man darf nicht gleich einen Krieg gegen uns führen. Wir wenden uns an Russland: Wir wollen die Frage mit der Übergabe von Zuständigkeiten in den Regionen lösen. Der Präsident Poroschenko hat eine Verfassung bei der Werchowna Rada45 vorgelegt, laut der die Zuständigkeiten den örtlichen Regierungsorganen übertragen werden, die größten Zuständigkeiten, das, worum man gebeten hat. Wir unternehmen Schritte, um eine Lösung zu finden. Sieht man das denn nicht? Hört man das nicht? Will man das nicht sehen? Hier muss man der Ukraine in Ruhe, ohne den politischen Druck, ohne die Anwendung von Gewalt, die Möglichkeit geben, diese Probleme selbständig zu lösen, umso mehr, als sie die Gesetze angekündigt und verabschiedet hat – und sie weiter verabschiedet –, die eine Lösung dieser Probleme ermöglichen werden.

       Nach dem Konflikt in der Ostukraine, was kann die Regierung oder der Präsident für die Versöhnung tun, wenn es um die Familien geht, die eine Tochter oder einen Sohn verloren oder andere Verluste erlitten haben? Wie kann man das machen?

      Es gibt nur einen Weg: Man muss sich gemeinsam hinsetzen, klären, welche Aufgaben im Bereich der Gesetzgebung, der Kultur und des Sozialen (und in anderen Bereichen) die örtlichen Organe selbständig lösen können, und ihnen diese Zuständigkeiten verfassungsrechtlich übergeben. Die zentrale Regierung soll nicht das entscheiden, was die Regionen selbst lösen müssen. Sie sollen sich selbst darum kümmern. Das ist das Erste. Das Zweite: Man soll keine Leute aus dem Zentrum in die Regionen schicken. Die Regionen sollen das selbst entscheiden, sie wissen es besser und sollen selbst wählen. Die zentrale Regierung kann nur die Bedingungen dafür schaffen, dass sich alle Regionen erfolgreich und demokratisch entwickeln. Es gibt keinen anderen Weg.

       Bedeutet das die Dezentralisierung des Landes?

      Eine vollständige Dezentralisierung, das ist das Erste. Und die Kader … Ich wiederhole es noch einmal, die Leute müssen ehrlich und verantwortungsbewusst sein, und dafür müssen die Regionen diese Leute selbst wählen können. Warum soll der Präsident den Gouverneur von Donezk ernennen? Sie sollen ihn selbst wählen und selbst die Verantwortung tragen. Das ist der erste und der wichtigste Weg. Dann werden wir sagen können: „Habt ihr die Befugnisse erhalten? Ihr habt sie nicht bewältigen können? Dann ändert die Regierung selbst, aber gegenüber Kiew dürft ihr keine Ansprüche erheben, denn Kiew hat diese Regierung nicht ernannt.“

       Wie wird der Status der russischen Sprache in der Ukraine sein?

      Es wurde ein Gesetz über die Sprachen in der Ukraine verabschiedet, es heißt auch so. Dieses Gesetz sieht vor, dass die ukrainische Sprache die Amtssprache ist, und all die Regionen, wo Menschen unterschiedlicher Nationalitäten leben (Russen, Ungarn, Bulgaren, Polen etc.), dürfen die regionale Sprache benutzen, falls sie einen Bedarf sehen. Und der Staat soll ihnen dabei helfen.

      Herr Präsident, während des Zerfalls der Sowjetunion, wann ist Ihnen zum ersten Mal eingefallen, dass man jetzt eine unabhängige Ukraine begründen kann? Wichtig ist, dass es einen Putsch in Moskau gab. Ich habe mit dem letzten amerikanischen Botschafter, Jack Matlock gesprochen, und er sagte, dass am Anfang des Zerfalls viele Menschen nicht geglaubt und sich darüber keinen Kopf gemacht hätten, dass man die Unabhängigkeit in der Ukraine erringen könnte. Wann haben Sie gedacht: „Jetzt ist es möglich!“?

      Ich fing an, darüber nachzudenken, als ich sah, dass die zentrale Moskauer Regierung das Land nicht mehr regiert. Gorbatschow regierte nicht mehr. Er hatte keine Befugnisse mehr. Gorbatschow hatte die Macht verloren. Er hatte die Partei verloren, er hatte die Möglichkeiten verloren, sich auf jemanden stützen zu können. Und dann habe ich gesehen, dass man aus der Sowjetunion austreten muss, um die Ukraine zu retten. Wenn wir ein Teil der Sowjetunion bleiben, so dachte ich mir, dann wird der Konflikt, der dort unausweichlich stattfinden wird – denn er fing bereits an –, wie die Titanic enden, und die Ukraine wird ganz nah dran sein. Die Titanic ist gesunken, und die Ukraine wird mit ihr gemeinsam zugrunde gehen. In einem Bürgerkrieg usw. Und ich habe gesehen, dass solche Möglichkeiten in der Ukraine bestehen und dass die Sowjetunion faktisch aufgehört hat, wie ein großer, seriöser Staat zu existieren. Die Sowjetunion hatte nur militärische Macht. Aber wirtschaftliche, politische oder soziale Macht hatte sie nicht mehr. Das war die Zeit, als ich es verstanden habe, und als in der Ukraine die Unabhängigkeitsbewegung losging – es war die Volksbewegung damals in der Ukraine –, habe ich gesehen, dass man diesen Prozess anführen muss. Ich habe diese Mission übernommen und bin nach Białowieża gefahren, nachdem ich zum Präsidenten gewählt worden war, und habe das Abkommen über die Auflösung der Sowjetunion und das Entstehen des unabhängigen ukrainischen Staates unterzeichnet.

       Sind Sie in der Westukraine geboren? Wie alt sind Sie jetzt?

      Ich bin in Wolhynien46 geboren. Jetzt bin ich 80 Jahre alt. Ich habe in der Sowjetunion verschiedene Ämter ausgeübt. Aber ich bin in Polen geboren. Damals war die Westukraine ein Teil Polens. Wolhynien ist erst 1939 aus Polen ausgetreten, also habe ich gesehen, wie meine Eltern auf den polnischen Bauerhöfen gearbeitet haben.

       Das heiß, Sie waren von Anfang an ein überzeugter Ukrainer?

      Natürlich, natürlich … Ich war kein Stalinist, weil ich nicht unter Stalin gelebt hatte. Aber als man anfing, die Regierung aufzubauen, und mir, sagen wir es so, eine Führungsrolle


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