Das Enneagramm. Andreas Ebert W.

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Das Enneagramm - Andreas Ebert W.


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die an dieser Arbeit maßgeblich beteiligt war, hat das „Endprodukt“ wesentliche Impulse zu verdanken.

      Schließlich ist das Feedback einer ersten deutschen Enneagrammtagung in das Buch eingeflossen, die vom 1989 in Schloss Craheim/​Unterfranken stattfand. Fast 70 TeilnehmerInnen, darunter eine Reihe von PfarrerInnen und TherapeutInnen, unterzogen das Konzept einer kritischen Sichtung und gaben mir wertvolle Rückmeldungen.

      Besonderen Dank verdient Marion Küstenmacher, die damalige Lektorin des Claudius Verlages. Sie hat die Entstehung des Buches von Anfang an begleitet und mich mit ihrem Enthusiasmus immer wieder angespornt. Inzwischen ist sie selbst eine international geachtete Enneagrammautorin und -lehrerin.

      Ich wünsche dem Buch heute wie damals LeserInnen, die bereit sind, den aufregenden und auch mühevollen Weg der Selbsterkenntnis und Umkehr zu wagen. Ich sehe durchaus die Gefahr, dass ein Modell wie das Enneagramm dazu missbraucht werden kann, sich und andere auf platte Art in eine Schublade zu zwängen und so gerade nicht zu wachsen, sondern zu erstarren. Missbräuchlich angewandt, kann das Enneagramm mehr Fluch als Segen bewirken. Das hat es mit vielen bedeutenden Entdeckungen und Konzepten gemein.

      Selbsterkenntnis hat etwas mit innerer Arbeit zu tun, die anspruchsvoll und schmerzhaft ist; Veränderung vollzieht sich unter Geburtswehen. Es gehört Mut dazu, solch einen Weg zu beschreiten. Viele vermeiden den Weg der Selbsterkenntnis, weil sie Angst haben, die eigenen Abgründe könnten sie verschlingen. ChristInnen vertrauen darauf, dass Christus alle Abgründe des Menschseins durchlebt hat und mit uns geht, wenn wir die ehrliche Auseinandersetzung mit uns selbst wagen. Weil Gott uns bedingungslos liebt – samt unserer dunklen Seiten –, brauchen wir uns selbst nicht auszuweichen. Im Licht dieser Liebe kann der Schmerz der Selbsterkenntnis der Beginn unserer Heilung sein.

      Die MeisterInnen und SeelenführerInnen aller bedeutenden spirituellen Traditionen des Westens und des Ostens haben gewusst, dass wirkliche Selbsterkenntnis Voraussetzung einer genuinen „inneren Reise“ ist. Teresa von Avila, die große christliche Mystikerin, schreibt in ihrem Hauptwerk „Die innere Burg“:

      „Nicht wenig Elend und Verwirrung kommen daher, dass wir durch eigene Schuld uns selber nicht verstehen und nicht wissen, wer wir sind. Erschiene es nicht als eine schreckliche Unwissenheit, wenn jemand keine Antwort wüsste auf die Frage, wer er ist, wer seine Eltern sind und aus welchem Lande er stammt? Wäre dies ein Zeichen viehischen Unverstands, so herrschte in uns ein noch unvergleichlich schlimmerer Stumpfsinn, wenn wir uns nicht darum kümmerten zu erfahren, was wir sind, sondern uns mit diesen Leibern zufriedengäben und folglich nur so obenhin, vom Hörensagen, weil der Glaube es uns lehrt, davon wüssten, dass wir eine Seele haben. Aber welche Güter diese Seele in sich bergen mag, wer in ihr wohnt und welch großen Wert sie hat, das bedenken wir selten, und darum ist man so wenig darauf bedacht, ihre Schönheit mit aller Sorgfalt zu bewahren.“1

      Das Enneagramm entspringt einer Sichtweise der menschlichen Seelenstrebungen, deren Wurzeln zumindest bis ins frühe Mönchtum der „Wüstenväter“ zurückreichen, vielleicht sogar in vorchristliche Zeit (Pythagoras). Möglicherweise wurde es später durch die islamische Weisheitstradition des Sufismus mündlich weitertradiert. Beweise dafür gibt es allerdings bis heute nicht. Obwohl es also genuin christlich sein dürfte, speist es sich auch aus vorchristlichen Quellen und hat vermutlich seinerseits außerchristliche mystische Traditionen beeinflusst. Gerade die sogenannten mystischen Strömungen der großen Religionen kommen sich sowohl im Blick auf die religiösen Erfahrungen, die sie vermitteln, als auch im Blick auf die Deutungen und Einsichten, die sie formulieren, erstaunlich nah. Das ist einer der Gründe, weshalb es heute EnneagrammanhängerInnen mit dem unterschiedlichsten weltanschaulich-religiösen Hintergrund gibt. Das Enneagramm scheint ein Instrument zu sein, das eine Verständigungssprache zur Verfügung stellt, die nicht konfessionell vorbelastet ist. Es kann eine Brücke sein, die man von unterschiedlichen Seiten aus begehen und in deren Mitte man sich begegnen kann. Zahlreiche internationale Enneagrammtagungen mit VertreterInnen diverser psychologischer und weltanschaulicher Schulen haben das in den letzten zwei Jahrzehnten eindrücklich bestätigt. So dient das Enneagramm auch dem interkulturellen und interreligiösen Dialog.

      Das mystische Menschenbild lässt sich in etwa so formulieren: Der Mensch baut vor allem in seiner ersten Lebenshälfte sein „empirisches Ich“ auf, das auch als die Summe seiner Einstellungen und Verhaltensmechanismen verstanden werden kann. Die Überidentifikation mit solchen Rollen, Angewohnheiten und Charakterzügen ist das Haupthindernis bei der Suche des Menschen nach seinem (wahren) „Selbst“.

      Alle mystischen Wege bieten Methoden an, dieses illusionäre, falsche Ich zu entlarven und sich von ihm zu lösen – sei es durch Erkenntnis, Askese, gute Werke oder Meditation. Immer geht es dabei um ein Nicht-Anhaften, um Des-Identifikation und Loslassen. Ein Text des deutschen Mystikers Johannes Tauler bringt es auf den Punkt:

      „Wenn der Mensch in der Übung der inneren Einkehr steht, hat das menschliche Ich für sich selbst nichts. Das Ich hätte gerne etwas und es wüsste gerne etwas und es wollte gerne etwas. Bis dieses dreifache, Etwas‘ in ihm stirbt, kommt es den Menschen gar sauer an. Das geht nicht an einem Tag und auch nicht in kurzer Zeit. Sondern man muss sich hineinzwängen und sich daran gewöhnen mit emsigem Fleiß. Man muss dabei aushalten, dann wird es zuletzt leicht und lustvoll.“

      Das Neue Testament ruft zur „Prüfung der Geister“ (1. Johannes 4,1) auf. „Prüfet alles und das Gute behaltet“, sagt Paulus (1. Thessalonicher 5,21). Er traut seiner Gemeinde die Fähigkeit zu, zu entscheiden, was sie sich kritisch aneignen kann und was nicht. ChristInnen steht prinzipiell die ganze Welt und alles, was in ihr gut, wahr und schön ist, zur Verfügung: „Alles gehört euch – ihr aber gehört Christus!“ (1. Korinther 3,21 ff.).

      Paulus selbst und der Evangelist Johannes haben in ihren Schriften Vorstellungen und Bilder der gängigen griechischen Religionsphilosophie übernommen und „getauft“.2 So beschreibt Johannes Christus als den inkarnierten Logos (Johannes 1). Die Vorstellung vom Logos besagte, dass es eine Art Weltvernunft gibt, die hinter allem Sichtbaren steht und in allem waltet. Logos bezeichnet ziemlich genau das, was Esoteriker „höheres Bewusstsein“ nennen. Johannes scheut sich nicht, diesen damals „esoterisch vorbelasteten“ Begriff zu übernehmen. Er besetzt ihn neu und erklärt so seinen ZeitgenossInnen das Evangelium in sprachlichen Kategorien, die sie verstehen.

      Im Christentum wird die Erlösung vom falschen Ich als Gnadengeschenk Gottes verstanden; umstritten ist, inwieweit der Mensch sich selbst vorbereiten, disponieren, öffnen oder auf diese Gnade einstellen kann. Dieses Problem wird meist so gelöst, dass gesagt wird: Der Mensch soll so tun, als hinge alles von ihm ab. Im Nachhinein wird er verstehen, dass Gottes Geist es war und nicht er selbst, der ihn motiviert und befähigt hat zu suchen, zu kämpfen und zu beten („vorlaufende Gnade“). Paulus hat dieses unauflösbare Ineinander und Miteinander von eigenem Kampf und Gottes Gnade formuliert: „Arbeitet an eurer Erlösung mit Furcht und Zittern! Denn Gott ist es, der in seiner Gnade beides in euch bewirkt: das Wollen und das Vollbringen.“ (Philipper 2,12 f.).

      In den östlichen Religionen wird der Anteil des Menschen an seiner Erlösung stärker betont, obwohl der Aspekt der Gnade – zum Beispiel im Buddhismus – durchaus vorhanden ist. Die pauschale Behauptung vieler ChristInnen, die östlichen Wege seien nichts als Selbsterlösung, zeugt von grober Unkenntnis. ChristInnen neigen dazu, sehr vollmundig von der allein wirksamen Gnade zu reden, suchenden Menschen aber eine Antwort schuldig zu bleiben, wenn sie nach Wegen fragen, wie sie diese lebensverändernde und erlösende Gnade erfahren können. Heute berichten viele Menschen davon, dass Wege des Ostens ihnen geholfen haben, ihren verschütteten Glauben neu zu entdecken oder ihr Gebetsleben zu vertiefen. Seriöse spirituelle LehrerInnen des Ostens wie der Dalai Lama verweisen ihre Adepten an die eigene christliche Tradition zurück. Viele müssen erst Umwege machen, um dann staunend zu entdecken, dass es auch in der christlichen Tradition all das zu entdecken gibt, was östliche Weisheit lehrt.

      Übrigens hat die Kirche zu allen Zeiten außerchristliche Sichtweisen „getauft“: Im 20. Jahrhundert waren es vor allem humanwissenschaftliche Erkenntnisse, die sich zum Verstehen innerseelischer (und gesellschaftlicher) Vorgänge als hilfreich erwiesen haben. Schon 1927 hat der konservative


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