Das Enneagramm. Andreas Ebert W.

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Das Enneagramm - Andreas Ebert W.


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Seelsorge fruchtbar gemacht.3 In den letzten Jahrzehnten wurden Fritz Riemanns „Grundformen der Angst“4 von der christlichen Seelsorge rezipiert, obwohl Riemanns Beschreibung von vier Angsttypen auf astrologischen Vorstellungen aufbaut. Trotz ihrer nichtchristlichen Herkunft haben sich solche Modelle als hilfreiche Werkzeuge der Seelsorge erwiesen. Umso mehr gilt das für das Enneagramm, das genuin christliche Wurzeln hat.

      Am Ende der Bibel malt der Seher Johannes das Bild des neuen Jerusalems, der zukünftigen Gottesstadt. In diesem Zusammenhang schildert er, wie die Völker der Erde ihre Gaben in diese Stadt bringen (Offenbarung 21,26). Dieses Bild besagt, dass alles, was in den Gedanken und Erfahrungen der Völker und Religionen wertvoll ist, dem einen Gott gehört. Wir können diese Gaben dankbar in Anspruch nehmen. Der Weisheitstransfer zwischen den Religionen ist einer der wesentlichsten Beiträge zum Weltfrieden.

      Ich glaube, dass uns das Enneagramm helfen kann, zu einer tieferen und echteren Gottesbeziehung zu finden. Wer Augen hat, kann in ihm zugleich das eigene Angesicht, das Angesicht Gottes und – wie auf einer Ikone – das Angesicht Christi entdecken. Paulus schreibt: „Der Herr ist der Geist; und wo der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit. Wir aber schauen mit unverhülltem Angesicht die Herrlichkeit des Herrn wie in einem Spiegel und werden dadurch in sein Bild verwandelt von einer Herrlichkeit zur andern, wie es vom Herrn des Geistes gegeben wird“ (2. Korinther 3,17 f.).

      Als Spiegel der Seele bleibt das Enneagramm ein Werkzeug, das irgendwann beiseitegelegt werden kann. Das Enneagramm ist ein Wegweiser. Wegweiser zeigen den Weg; gehen aber müssen wir selbst. Es freut mich, dass in den letzten 20 Jahren – soweit mir bekannt ist – niemand der Versuchung erlegen ist, das Enneagramm zu einer neuen absoluten Heilslehre hochzustilisieren oder Enneagrammzirkel mit Sektencharakter ins Leben zu rufen. Denn auch das Enneagramm ist nur ein Erkenntnismodell – wenn auch ein erstaunlich umfassendes. Unser Erkennen aber bleibt zeitlebens „Stückwerk“, wie Paulus sagt (1. Korinther 13). Bis Gott uns und die Welt vollendet, ist es ratsam, das zu erkennen und zu tun, was sich erkennen und tun lässt – und den Rest Gott zu überlassen.

      München, Frühjahr 2009

      Andreas Ebert

       Eine dynamische Typologie

      Das Enneagramm ist eine Typenlehre, die sehr alte Wurzeln hat und neun verschiedene Charaktere beschreibt. Die vergröbernde Reduktion menschlichen Verhaltens auf eine begrenzte Anzahl von Charaktertypen hat es mit vielen anderen Typologien gemeinsam:

      Die Astrologie beschreibt zwölf Menschentypen entsprechend dem Tierkreiszeichen, in dem sich die Sonne während der Geburt befindet. Der griechische Arzt Hippokrates (gestorben 377 v. Chr.) hat seine vier Temperamente (sanguinisch, melancholisch, cholerisch, phlegmatisch) auf verschiedene „Körpersäfte“ (Blut, schwarze Galle, Galle, Schleim) zurückgeführt. In unserem Jahrhundert hat Ernst Kretschmer (1888 – 1964) den Zusammenhang zwischen dem Körperbau und der Neigung zu bestimmten seelischen Leiden untersucht. Er unterscheidet 1. pyknische (untersetzte), 2. leptosome (dünne) und 3. athletische Körpertypen und ordnet ihnen 1. zyklothyme (Neigung zu manisch-depressiver Erkrankung), 2. schizothyme (Neigung zur Schizophrenie) und 3. visköse (Neigung zur Epilepsie) Charakterzüge zu. Carl Gustav Jung (1875 – 1961) geht davon aus, dass es drei Funktionspaare gibt, die bei jedem Menschen unterschiedlich akzentuiert sind: Extraversion – Introversion; Empfinden (sinnliche Wahrnehmung) – Intuition; Denken – Fühlen. Jeder Mensch bevorzugt jeweils eine der beiden Möglichkeiten; daraus ergeben sich acht mögliche Kombinationen oder Typen, zum Beispiel der extravertiert-intuitive Denker oder der introvertiert-empfindsame Fühler. Die Amerikanerin Isabel Briggs Myers hat ein weiteres Funktionspaar hinzugefügt (judging – perceiving, das heißt, Neigung zu schnellen, klaren Urteilen und Entscheidungen gegenüber Empfänglichkeit für viele Einflüsse und Informationen) und in Anlehnung an Jung den Myers-Briggs Type Indicator entwickelt, einen Test, der 16 Typen unterscheidet; in den USA ist er sehr verbreitet.1 Karen Horney (1885 – 1952) diagnostizierte ursprünglich drei unterschiedliche Arten, wie Menschen ihre Lebensangst zu bewältigen versuchen: Unterwerfung (Hinwendung zu anderen Menschen); Feindseligkeit (Aggression gegen andere); Rückzug (Isolation von anderen). Später entwickelte sie ein Modell, in dem sie vier Hauptweisen aufzeigte, durch die Menschen versuchen, sich gegen ihre Grundangst zu schützen: Liebe, Unterwürfigkeit, Macht und Distanzierung. Dieses letzte Modell entspricht in etwa dem Schema, das der Psychoanalytiker und Astrologe Fritz Riemann (1902 – 1979) formuliert hat. Er geht von vier menschlichen Grundängsten aus: 1. Angst vor Nähe, 2. Angst vor Distanz, 3. Angst vor Veränderung, 4. Angst vor Beständigkeit. Daraus ergeben sich vier Grundtypen: der schizoide, depressive, zwanghafte und hysterische.2

      Alle diese Modelle versuchen – unter verschiedenen Voraussetzungen – der Erfahrung Rechnung zu tragen, dass die Menschen zwar verschieden sind, dass es aber zugleich „Typen“ gibt, die sich auffallend ähneln. Jede der erwähnten Typologien lässt sich mit einer Landkarte vergleichen, die das Ziel hat, den Überblick über das Reich der menschlichen Charaktertendenzen und Verhaltensweisen zu erleichtern. Wie es Landkarten mit geologischem, politischem oder verkehrstechnischem Schwerpunkt gibt, so verfolgt auch jede der genannten Typologien ein besonderes Interesse und hat deshalb ihre besonderen Stärken und Schwächen. Keine von ihnen ist allumfassend; keine von ihnen ist die Sache selbst. Das Studium einer Landkarte ersetzt niemals die „Er-Fahrung“ des Landes selbst.

      Alle Typologien haben den Nachteil, dass sie die Einmaligkeit, Originalität und Besonderheit des Individuums notgedrungen vernachlässigen. Deswegen begegnen ihnen viele PsychologInnen mit Vorbehalten. Die Gefahr, sich und andere in die Schublade eines bestimmten Tierkreiszeichens oder eines Enneagrammmusters zu zwängen und auf diese Weise festzulegen, ist unübersehbar. Das biblisch-christliche Menschenbild geht davon aus, dass Gott nur Originale geschaffen hat, keine Abziehbilder oder Schablonen. Niemand ist eine Nummer. Gott hat uns „mit Namen gerufen“. Die Entdeckung von „Gesetzmäßigkeiten“ im menschlichen Verhalten hat nur dann einen Sinn, wenn zugleich die Möglichkeit der Veränderung und der Befreiung vom Zwang der Determiniertheit in den Blick kommt. Diese Möglichkeit eröffnet das Enneagramm in besonderer Weise. Es geht darum, dass die Fixierung in einem „Typus“ gelockert wird, damit das unverwechselbare und einmalige Original ans Licht kommen kann.

      Das Enneagramm beschreibt wie andere Typologien unterschiedliche Charaktermuster. Aber das ist nur der Anfang. Über die Beschreibung von Zuständen hinaus enthält das Enneagramm eine innere Dynamik, die auf Veränderung zielt. Es ist eine ausgesprochen anspruchsvolle Einladung zum seelisch-spirituellen Wachsen und Reifen – jedenfalls wenn es angemessen vermittelt wird. Es ist weit mehr als ein unterhaltsames Selbsterfahrungsspiel. Es geht um Veränderung und Umkehr, um das, was einige spirituelle Traditionen Bekehrung oder Buße nennen, andere Erwachen. Es konfrontiert uns mit den Festlegungen und Gesetzen, unter denen wir unbewusst leben, um uns zu ihrer Überwindung und zu Schritten in den weiten Raum der Freiheit einzuladen.

      Der Ausgangspunkt des Enneagramms sind die Sackgassen, in die wir Menschen bei unserem Versuch geraten, unser Leben vor inneren und äußeren Bedrohungen zu schützen. Der Mensch, so wie ihn Gott geschaffen hat, ist nach biblischer Auffassung seinem Wesen nach „sehr gut“ (1. Mose/​Genesis 1,31). Diese seine Essenz, sein „wahres Selbst“, ist schon während der Schwangerschaft und spätestens vom Augenblick seiner Geburt an dem Ansturm bedrohlicher Kräfte ausgesetzt. Die christliche Lehre von der Erbsünde weist auf diese Tatsache hin, indem sie betont, dass es den unverletzten, freien und „sehr guten“ Menschen zu keinem Zeitpunkt seiner Existenz real gibt. Wir sind von Anfang an destruktiven Einflüssen ausgesetzt und deshalb erlösungsbedürftig. Das genetische Material, aus dem wir zusammengesetzt sind, enthält bereits Programmierungen, die unser Wesen vom Moment der Zeugung an mitbestimmen. Das familiäre System, in das wir hineingeboren werden, legt uns von vornherein Erblasten auf.

      Die Außenwelt begegnet dem Kind zunächst vor allem in Gestalt seiner Eltern und Geschwister, später durch Kameraden, Lehrer, die Werte und Normen


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