Katzmann und das verschwundene Kind. Franziska Steinhauer
Читать онлайн книгу.so bleiben.»
«Mir ist die Richtige noch nicht begegnet», behauptete der Sohn.
«Es ist nicht gut für einen Mann, wenn er allein lebt! Das entspricht nicht seiner Natur und führt nicht selten dazu, dass sich Krankheiten einstellen», mahnte die Mutter halsstarrig.
«Syphilis?»
«Konrad!», donnerte die Stimme Wilhelms durch den Raum.
«Nicht in meinem Haus, und nicht gegenüber deiner Mutter!»
«Also wirklich! Müsst ihr denn immerzu in diesem Ton miteinander umgehen? Ich glaube, das Beste wird sein, ich sorge für eine gute Tasse echten Kaffee und ein bisschen Gebäck.» Damit erhob sich die ungewöhnlich große Frau, ordnete ihren seidigschimmernden Rock und stolzierte erhobenen Hauptes zur Tür hinaus.
Wilhelm Katzmann hievte seinen schweren Körper aus dem Plüsch des Sessels und trat hinter seinen Sohn.
«Deine Mutter macht sich ernsthaft Sorgen um dich. Es ist nicht richtig, ihre Ängste ins Lächerliche zu ziehen! Du weißt sehr genau, dass sie es gern ordentlich hat. Und bei dir sieht sie das Fehlen einer weiblichen Hand. Schau dir nur deine Schuhe an! Lotte würde ihren Johannes niemals mit so verschmutzten Schuhen aus dem Haus gehen lassen. Auch die Kinder, immer akkurat. Deine Hose ist ungebügelt, die Schuhe und dein Sakko schmutzig - und die Krawatte passt nicht zum Hemd!»
Konrad schluckte lange an seinem Ärger. Er legte großen Wert darauf, modisch gekleidet zu sein, wusste genau, dass seine Kombinationen exklusiv waren, aber eben nicht dem konservativen Geschmack des Vaters entsprachen. Der war eher von Lottes Mann begeistert, einem Streber, Langweiler, Besserwisser und Petzer, den Konrad schon zu Schulzeiten nicht hatte ausstehen können. Was seine Schwester an ihm fand, war ihm unbegreiflich.
Unerwartet spürte er die Hand seines Vaters, der kein Freund körperlicher Nähe war, auf seiner Schulter. «Komm mit!», forderte Wilhelm Katzmann flüsternd.
Sanfter Druck schob den frischgebackenen Dresdenkorrespondenten aus dem Sessel, die Treppe hinunter und zur Haustür hinaus. Schweigend überquerten sie den Hof, erreichten die Garage. «Mach mal das Tor auf!»
Dort, in der Mitte des Raumes, stand ein seltsam buckliges Ding, verborgen unter einer großen grauen Plane. Überall schien es Beulen zu haben, größere und kleine. An der höchsten Stelle, etwa siebzig Zentimeter vom Boden, zeichneten sich Hörner ab.
«Na, möchtest du nicht nachsehen?», fragte der Vater ungeduldig.
In respektvollem Abstand umschlich der junge Mann das suspekte Objekt, betastete die Plane.
«Deine Mutter und ich haben ehrlich gesagt schon länger mit deinem beruflichen Fortkommen gerechnet. Eigentlich hatte ich gehofft, man würde dir bei einer seriösen Zeitung einen Posten als verantwortlicher Redakteur anbieten, vielleicht für Politik. Aber nun ist es eben, wie es ist. Ausgerechnet bei diesem linken Revolverblatt - daran ist wohl im Moment nichts zu ändern, aber es ist und bleibt enttäuschend. Nun, von alldem einmal abgesehen, dachten wir, es könne nicht schaden, deine Mobilität zu verbessern. Man hat mir versichert, es sei zuverlässig und nützlich.»
Konrad hörte die verletzenden Worte seines Vaters kaum. Nur bei dem Wort «nützlich» zuckte er kurz zusammen. Unter der Plane war demnach nichts zu erwarten, was ihm Freude machte, sondern ihm von Nutzen war. Typisch! So war sein Vater schon immer gewesen.
«Gerade nach den schweren Zugunglücken in letzter Zeit ist deine Mutter stets in großer Sorge um deine Gesundheit. Vor sechs Wochen erst, direkt in Neustadt, gab es wieder einen schrecklichen Unfall. Der D 13 Leipzig—Dresden war auch darin verwickelt. Wie entsetzlich, von 18 Toten und 118 Verletzten lesen zu müssen! Da ist es nur ein geringer Trost, dass man die Verantwortlichen sicher zur Rechenschaft ziehen wird. Eine Farbuntüchtigkeit! Unglaublich, dass das niemandem aufgefallen war! Deine Mutter behauptet, man habe die Erschütterung bis hierher spüren können, wie ein Erdbeben. Und erst der Lärm! Letzte Nacht gab es schon wieder ein Unglück, in Briesen. Ein Auffahrunfall mit 19 Toten und etwa 50 Verletzten! Deine Mutter ist davon überzeugt, dass Zugfahren sehr gefährlich für ihren einzigen Sohn ist.»
Das war ein ungewöhnlich langer Bericht. Wilhelm Katzmann empfand eine heimliche Faszination für die Eisenbahn. Unglücke trafen ihn daher besonders.
Konrad hörte nur mit einem Ohr zu. War es möglich? Dieser Geruch nach Öl und Gummi nährte die irrsinnige Hoffnung, unter dieser Abdeckung könne sich die Erfüllung seines Traumes verbergen.
Mit einem Mal rumpelte sein Herz aufgeregt gegen die Rippen. Das konnte nicht sein! Oder doch?
Konrad ging in die Hocke und hob langsam die Plane an. Reifen! Ihm stockte der Atem. Langsam zog er die Abdeckung herunter.
«Eine NSU 1000!», keuchte er dann. «Mit Beiwagen! Selbst zusammengeschweißt - da hat jemand viel Arbeit und Zeit investiert.»
Auf den ersten Blick verliebt, strich er sanft mit dem Zeigefinger über die Lampe. «Mein Gott, Vater! Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll.»
«Ein einfaches Danke würde sicher genügen. Und vielleicht richtest du es an deine Mutter. Es war ihre Idee.»
«Danke!»
«Sie ist gebraucht, wie du siehst. Es gibt im Moment nicht viele Menschen, die privat solch ein Ding besitzen. Aber man versicherte uns, mit ein bisschen Geschick sei die Reparatur kein Problem.»
Konrad Katzmanns Augen wanderten prüfend über das Wunder. Sicher, ein paar Lackschäden hier und da, aber nicht eine kleine Beule.
«Diese Maschine hat etwas mit dir gemein: Auch sie konnte sich erfolgreich vor dem Dienst an der Front drücken. Asthma hat sie zwar keines, aber der Besitzer hatte sie bei Freunden in der Scheune versteckt.»
Konrad tat so, als habe er diesen boshaften Kommentar nicht gehört. «Ich habe zwar auch ein bisschen Ahnung, aber es ist besser, wenn Klaus sich den Motor ansieht. Der kennt sich mit so was aus», sagte er und versuchte, das Motorrad zu starten. Husten, Qualm, sonst nichts.
Nach dem Kaffee verabschiedete er sich eilig. Er würde noch heute bei Klaus vorbeigehen und ihn fragen, ob er sich die NSU ansehen könne. Beschwingt lief er mit raumgreifenden Schritten in Richtung Elbufer.
Die Augustusbrücke lag am günstigsten. Klaus, der seine Eltern früh verloren hatte, wohnte mit seinen Großeltern in der Adlergasse am Wettiner Bahnhof. Rührend kümmerte er sich um die beiden alten Leute, die ihn damals ohne Zögern aufgenommen, ihn erzogen und für eine gute Ausbildung gesorgt hatten. Ohne sie, das war dem jungen Mechaniker sehr bewusst, hätte er im Leben nicht Fuß fassen können. Klaus liebte Motoren, konnte beinahe alles reparieren. Seine kleine Werkstatt in Übigau war ein echter Geheimtipp.
Ein klebriger dunkler Nebel kroch schon die Auen hoch, Katzmann konnte die anderen Passanten nur noch schemenhaft erkennen. Nicht einmal mehr das Relief am Altstädter Landpfeiler, das angeblich den Baumeister der ersten steinernen Elbbrücke in Dresden, Mathaeus Focius, abbildete, war zu sehen. Es zeigte einen Mann in seltsam verkrampfter Haltung, und böse Zungen behaupteten hartnäckig, es sei entstanden, um daran zu erinnern, wie sehr der Baumeister vom Durchfall geplagt wurde, als er erkannte, er habe die Eisbrecher stromabwärts statt stromaufwärts angebracht. Aber das war natürlich nur ein Gerücht. Doch lustvoll wurde es von einer Generation zur nächsten weitergegeben.
Plötzlich hörte Katzmann ein lautes Platschen. Erschrocken fuhr der junge Mann herum. Mit zu Schlitzen verengten Augen starrte er in die Finsternis, doch sosehr er sich auch anstrengte, er konnte nicht mehr als einen unförmigen Schatten erkennen, der sich hastig entfernte. Was mochte der Kerl da über die Brüstung geschleudert haben?
Katzmann beschloss, das herauszufinden, und lief eilig in Richtung Ufer. Vielleicht konnte er versuchen, es aus dem Wasser der Elbe zu ziehen. In Gedanken formte sich schon eine Geschichte über Verbrechen zu Kriegszeiten, Verstrickungen mit skrupellosen Schieberbanden.
Noch nicht einmal am Ende der Brücke angekommen, vernahm er leise Hilfeschreie, die aus dem Bereich unter der Brücke zu kommen schienen. Die Stimme einer Frau, direkt