Die Prinzipien der Kriegspropaganda. Anne Morelli

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Die Prinzipien der Kriegspropaganda - Anne Morelli


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koloniale Vergangenheit Frankreichs schien es nicht zu geben. Und auch sein »Appell an die Nation« vom 3. September 1939 kreiste um die Betonung seines Friedenswillens: »Ich kann guten Gewissens behaupten, rastlos, bis zur letzten Minute, gegen den Krieg angekämpft zu haben.«12

      Wenn alle Staats- und Regierungschefs vom gleichen Friedenswillen beseelt sind, stellt sich natürlich die Frage, warum dennoch immer wieder Kriege ausbrechen! Das zweite Prinzip der Kriegspropaganda begegnet diesem Einwand jedoch sofort: Wir sind zum Krieg gezwungen worden, der Angriff ging vom gegnerischen Lager aus, wir sind gezwungen zu reagieren, aus Notwehr beziehungsweise um unseren internationalen Verpflichtungen nachzukommen.

      Arthur Ponsonby hatte dieses Paradox bereits am Beispiel des Ersten Weltkriegs aufgedeckt, und wahrscheinlich ließe es sich auch auf Kriege davor beziehen: Stets versichert jede Kriegspartei, sie sei zur Kriegserklärung gezwungen gewesen, um den Gegner daran zu hindern, die Welt in Brand zu stecken. Alle Regierungen betonen immer wieder lauthals, daß manchmal Krieg geführt werden müsse, um dem Krieg ein für allemal ein Ende zu bereiten. Dieses sei nun der letzte Krieg, weil mit ihm sämtliche Konfliktursachen beseitigt würden.

      Obwohl sich Paris 1914 klar darüber war, daß die gleichzeitige Mobilmachung Russlands und Frankreichs unweigerlich die Kriegserklärung Deutschlands nach sich ziehen würde, rief Frankreich die allgemeine Mobilmachung aus und wartete auf die dann auch prompt folgende Antwort Deutschlands. Kaum hatte Deutschland den Krieg erklärt, beschworen aber sowohl der französische Staatspräsident als auch der Premierminister in seiner Rede vom 4. August 1914, daß Frankreich völlig überraschend durch die »plötzliche, abscheuliche, heimtückische, beispiellose« Aggression Deutschlands in den Krieg hineingezogen worden sei. Kein Wort natürlich über die geheimen Absprachen Frankreichs mit Russland. Um der Bevölkerung weismachen zu können, daß allein den Deutschen die Schuld am Ausbruch des Ersten Weltkriegs zukomme, wurden aus dem sogenannten »Gelben Buch«, einer Sammlung französischer diplomatischer Schriftstücke, einige Dokumente entfernt, andere bewußt verändert, so daß von den französisch-russischen Vereinbarungen und der russischen Mobilmachung nichts an die Öffentlichkeit dringen konnte.

      Der französische Historiker Ernest Lavisse behauptete am 5. November 1914 in seiner Rede zu Semesterbeginn an der geisteswissenschaftlichen Fakultät der Universität Paris: »Es hätte keinen Krieg gegeben, wenn Deutschland ihn nicht gewollt hätte; allein [Hervorhebung der Autorin] Deutschland hat den Krieg gewollt«. In dasselbe Horn blies Le Matin vom 1. August 1914: »Wir hätten alles getan, was man nur tun kann, um den Krieg zu verhindern. Aber wenn er ausbricht, werden wir ihn mit größten Erwartungen begrüßen.« Und in Le Temps vom 2. August 1914 war zu lesen: »Da uns dieser Krieg aufgezwungen wurde [Hervorhebung der Autorin], werden wir ihn mit aller Leidenschaft führen.«

      Allgemein gilt, daß immer der Nachbar als Aggressor hingestellt wird, obwohl im Moment des Kriegsausbruchs meist gar nicht genau zu ermitteln ist, wer wirklich der Aggressor ist. Tatsächlich jedoch werden Kriege, wie Luigi Sturzo feststellte, fast immer von der Partei ausgelöst, die aufgrund ihrer überlegenen Waffen oder Offensivkraft davon ausgeht, ihn rasch und sicher gewinnen zu können.13

      Darüber hinaus wird dem Feind, dem »anderen«, stets mangelnder Respekt gegenüber Verträgen unterstellt. So behaupteten die Franzosen, daß die Deutschen 1914 die Abmachung von 1839 verletzt hätten, in der die Neutralität Belgiens festgeschrieben war. Aus französischer Sicht waren Verträge für die Deutschen immer nur ein »Fetzen Papier«. Nun besteht jedoch immer nur die Seite auf der strikten Einhaltung von Verträgen, die sie zum eigenen Vorteil brauchen kann, und gelten Verträge immer nur als ein »Fetzen Papier« für die Partei, die sie am liebsten zerreißen würde. Zwar hatten die Deutschen 1914 in der Tat die Neutralität Belgiens verletzt, aber schon 1911 hatte der französische General Michel in einem Bericht seinen Kriegsminister geraten, »einen Großteil unserer Truppen für eine mächtige Offensive in Belgien einzusetzen.«14

      Auch die Engländer rechneten schon seit 1911 damit, daß sie im Fall eines Krieges mit Deutschland als Präventivmaßnahme ihre Truppen nach Flandern schicken würden.15 Eine Vereinbarung mit dem belgischen Generalstab lautete entsprechend.

      In Paris und London war man beinahe erleichtert, als Deutschland seine Truppen im August 1914 durch Belgien marschieren ließ. Damit konnten sich die französische und englische Regierung gegenüber ihren Völkern leicht für den Kriegsbeitritt rechtfertigen. Schließlich hatte Deutschland diesen Krieg provoziert.

      Auch die Vereinigten Staaten begründeten ihren Kriegseintritt am 2. April 1917 mit der notwendigen »Bestrafung der illegalen Aggressionen [Hervorhebung der Autorin] Deutschlands gegen Bürger und Güter Amerikas, die aufgrund der Neutralität des Landes nicht mehr wirksam geschützt werden konnten.«16 Jedes Lager präsentierte seinen Kriegseintritt als Antwort auf eine Aggression.

      Der Versailler Vertrag, der Deutschland 1919 nach seiner Kapitulation auferlegt wurde, führt in Artikel 231 sogar explizit aus, daß Deutschland die alleinige Kriegsschuld übernimmt. Deutschland und seine Verbündeten seien »verantwortlich dafür, sämtliche Verluste und Schäden verursacht zu haben, welche die alliierten und assoziierten Regierungen und ihre Bürger infolge des ihnen durch die Aggression Deutschlands und seiner Verbündeten aufgezwungenen Krieges erlitten haben [Hervorhebung der Autorin].«17

      Einige Zeit nach dem Krieg wurden jedoch auch bei den Alliierten Stimmen laut, die einräumten, daß es nicht nur einen Verantwortlichen für den Ausbruch des Ersten Weltkriegs gab. So äußerte etwa Henri Poincaré 1925: »Ich behaupte nicht, daß Deutschland und Österreich primär die bewußte und lange gereifte Absicht hatten, einen allgemeinen Krieg auszulösen. Es gibt kein Dokument, das zur Annahme berechtigen würde, daß sie damals irgendeinen systematischen Plan verfolgt hätten.« Und Francesco Nitti, der ehemalige italienische Ministerpräsident, gab nach dem Krieg zu, daß die Alleinschuld des Feindes ein Kriegsmythos war: »Ich kann nicht sagen, daß Deutschland und seine Verbündeten die einzig Schuldigen am Krieg waren, der ganz Europa verwüstet hat […]. Wir alle haben das während des Krieges behauptet, als Waffe, wie man sie in jeder Epoche zu Kriegszeiten verwendet hat; jetzt aber, wo der Krieg beendet ist, läßt es sich nicht mehr als ernsthaftes Argument ins Feld führen […]. Wenn es einst möglich sein wird, die Dokumente der Kriegsdiplomatie sorgfältig zu analysieren und wenn die zeitliche Distanz zu den Geschehnissen uns erlauben wird, sie in Ruhe zu beurteilen, wird man erkennen, daß die Haltung Russlands die wirkliche und eigentliche Ursache des weltweiten Konflikts gewesen war.«

      Man sollte meinen, daß dieses Propagandaprinzip 25 Jahre später keine Wirkung mehr auf eine Generation ausüben kann, die von einem weiteren »allerletzten« Krieg kalt erwischt wird. Dennoch wurde es vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs von beiden Lagern wieder bemüht.

      Die Version des alliierten Lagers lautete dabei wie folgt: Die Schicksale des unglücklichen Österreich, das gegen seinen Willen von Deutschland annektiert worden war, der friedliebenden Tschechoslowakei, die man in Stücke zerteilt hatte, des demokratischen Polen, dem man seinen Zugang zum Meer entreißen wollte, stellten Provokationen der Achsenmächte dar, die Frankreich und England dazu zwangen, Deutschland den Krieg zu erklären, um die eigene beschämende Kompromißbereitschaft nicht zu wiederholen, die unter anderem das Sudetenland der deutschen Gefräßigkeit ausgeliefert hatte. Aus diesem englisch-französischen Blickwinkel war die den Tschechen aufgezwungene Abtretung von Bevölkerungen und Gebieten nur durch die Furcht der Alliierten vor dem Reich und die unentschuldbare Schwäche der Politiker zu erklären, von denen die demokratischen Staaten repräsentiert wurden.

      Frankreich hatte sich aus der Perspektive der alliierten Sieger daher nur widerstrebend für den Krieg entschieden, weil es ein unauflösbares Band mit der Tschechoslowakei hatte, an deren Gründung es beteiligt gewesen war. Die französische Regierung konnte ihr Wort nicht brechen, das sie damals mit ihrer Unterschrift und den daraus erwachsenden heiligen Verpflichtungen gegeben hatte.

      In Wirklichkeit aber war etwa Frankreich in Hinblick auf den letztgenannten Punkt


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