Das Geheimnis vom Oranienburger Thor. Horst Bosetzky
Читать онлайн книгу.Manne, der am 20. März 1606 in Neuhofen an der Krems zur Welt gekommen ist: Georg von Derfflinger. Er war Sohn protestantischer Eltern und wuchs in Armut auf. Sie werden sich nun sicher fragen, wie er es bis zum Heerführer geschafft hat, zumal er nicht die geringste Schulbildung vorweisen konnte. Nun, als Soldat hatte er das Glück, in der Blüte seiner Jahre an den Schlachten des Dreißigjährigen Krieges teilnehmen zu können. Er trat in die Dienste verschiedener Herren und stieg im schwedischen Heer bis zum Reiter-Oberst im Generalsrang auf. Das ist eine beachtliche Leistung. Danach verpflichtete er sich dem Großen Kurfürsten Friedrich Wilhelm von Brandenburg. Derfflinger schuf eine völlig neue brandenburgische Armee, wobei sein Augenmerk der Kavallerie und der Artillerie galt. Der Sieg von 1675 über die Schweden, die unter Karl XI. kämpften, war zum größten Teil sein Verdienst. Es ist als genial zu bezeichnen, wie er den Handstreich gegen Rathenow ausgeführt und die Feinde anschließend verfolgt und über das Kurische Haff gejagt hat.«
Wieder meldete sich Eike von Flieth zu Wort. »Was haben wir unter dem Handstreich gegen Rathenow zu verstehen, Herr Oberst-Lieutenant?«
Gontard musste weit ausholen. »Das Ereignis trug sich am 15. Juni 1675 zu. Der Große Kurfürst und seine Mannen hatten in Erfahrung gebracht, dass der schwedische Oberst Wangelin mit sechs Kompanien seines Dragonerregiments zur Verstärkung der schwedischen Besatzung in der Stadt Rathenow eingerückt war. Wangelin sollte über Rathenow auf dem kürzesten Weg nach Magdeburg vorstoßen und die Stadt einnehmen. Für den Großen Kurfürsten gab es nur eine Lösung: Sein Regiment musste Rathenow unbedingt vor dem Eintreffen des schwedischen Hauptheeres erobern. Doch die Stadt an der Havel wies starke Befestigungen auf, man hätte sie im Kampf niemals erstürmen können. Deshalb wurde eine List ersonnen. Derfflinger, der aufgrund seiner Zeit beim schwedischen Heer gut Schwedisch sprach, ritt mit einigen wenigen Dragonern auf die hochgezogene Brücke der Stadt zu. Dort angekommen, wurde er von der schwedischen Wache angehalten, die nur aus einem Unteroffizier und sechs Mann bestand. ›Wie Volk?‹, wurde er gefragt. Man wollte also wissen, wer er sei und woher er komme. Derfflinger machte den Schweden weis, er sei ein schwedischer Lieutenant vom Regiment Bülow und befinde sich auf der Flucht vor den brandenburgischen Truppen. ›Ich muss dennoch erst Oberst Wangelin fragen, ob Ihr einrücken dürft‹, kam es von jenseits des Grabens. ›Das ist nicht nötig!‹, rief Derfflinger zu den Schweden hinüber. ›Oberst Wangelin ist ein guter Freund von mir, und wenn ich nicht sofort in die Stadt darf, riskiere ich, von den nachrückenden Brandenburgern gehängt zu werden.‹ Da wurde die Zugbrücke tatsächlich herabgelassen. Derfflinger ritt mit seinen Dragonern auf die Wache zu, hieb sie nieder – und Rathenow konnte alsbald vom Großen Kurfürsten eingenommen werden.«
Die jungen Lieutenants in dem Hörsaal brachen in Hurrarufe aus, was bei den Ausführungen zur Ballistik nie geschah, und so konnte Gontard mit dem Gefühl einer tiefen inneren Befriedigung die Stunde beenden.
Auf dem Flur begegnete ihm der Apotheker Gustav Rosengarth, der in diesem Jahr vertretungsweise das Fach Chemie übernommen hatte und sich in Berlin, besonders in der Gegend um das Oranienburger Thor, eines guten Rufes erfreute. Rosengarth war hochgewachsen, hatte ein schmales Gesicht und trug seine Haare lang wie ein Gelehrter. Gontard kannte ihn seit Jahren, und zwischen beiden war eine gewisse Vertrautheit entstanden. »Nun«, fragte Gontard, nachdem sie sich begrüßt hatten, »sind Sie auch auf dem Wege nach London?« Das war eine Anspielung auf Rosengarths Apothekerkollegen Theodor Fontane, von dem es hieß, er siedle Anfang April für einige Zeit auf die britische Insel über.
»Nein.« Rosengarth lachte. »Ich bin nichts weiter als ein einfacher Apotheker – und kein Schriftsteller und Correspondent bei der Centralstelle für Preßangelegenheiten wie Fontane.«
»Es ist meiner Meinung nach ganz schön, wenn man neben seinem Brotberuf noch etwas anderes mit Leidenschaft betreibt«, erklärte Gontard. »So wie ich gern den Criminal-Comissarius spiele.«
»Und Sie haben ja auch schon einige Erfolge aufzuweisen.« Rosengarth schaute auf seine Stiefelspitzen. »Womit könnte ich mich wohl in meiner arbeitsfreien Zeit vergnügen?«
Gontard dachte einen Augenblick nach. »Sammeln Sie etwas, oder erfinden Sie etwas! Als Apotheker könnten Sie doch eine neue Arznei kreieren. Es gibt Hunderte von Krankheiten, welche die Ärzte noch nicht heilen können.« Rosengarth seufzte. »Wenn das so einfach wäre!«
Sie unterhielten sich noch einen Moment und gaben dann ihrer Hoffnung Ausdruck, dass das neue Jahr etwas aufregender werde als 1851, das so unglaublich langweilig gewesen sei. Danach eilte Rosengarth zu seiner Lehrveranstaltung und Gontard zum Kürschner Corduan, um zu sehen, ob sein neuer Pelzmantel schon zur Anprobe auf dem Garderobenständer hing. Doch als er den Laden in der Jägerstraße betrat, war nicht der Kürschner, sondern einer der Gesellen gerade dabei, den rechten Ärmel an den Mantel zu nähen.
»Nanu!«, wunderte sich Gontard und fragte, wo der Meister sei. »Er hat sich doch höchstpersönlich um meinen neuen Pelz kümmern wollen!«
»Herr Corduan ist in der Charité«, antwortete der andere Geselle höchst lakonisch.
»Ist er plötzlich krank geworden?«
»Nein, viel schlimmer. Er ist in der vergangenen Nacht plötzlich zusammengebrochen und gestorben. Es heißt, der Schlag habe ihn getroffen. Jetzt liegt er da, wo die Leichen aufgeschnitten werden.«
Es gab Verlierer der gescheiterten Märzrevolution von 1848 – und es gab Gewinner. Zu Letzteren schien der Jurist Dr. Wilhelm Stieber zu gehören. Am 3. Mai 1818 in Merseburg zur Welt gekommen, wurde er schon als Schüler nach Berlin geschickt, wo er das Abitur am angesehenen Gymnasium zum Grauen Kloster ablegte. Anschließend studierte er an der Friedrich-Wilhelms-Universität Rechtswissenschaften. Er war ab 1844 als Auskultator, also Referendar, beim Berliner Criminalgericht tätig und ging bald – mit einigem Erfolg – gegen politische Oppositionelle vor. Zwar musste er seinen Dienst 1847 quittieren, weil er bei seiner Arbeit mitunter ein wenig gegen Recht und Gesetz verstoßen hatte, doch gerade das sicherte ihm die Gunst einflussreicher Männer, und so durfte er 1850 als Assessor ins Polizeipräsidium einrücken und die Ermittlungen gegen den Bund der Kommunisten leiten. Er war gerade dabei, gemeinsam mit Karl Georg Ludwig Wermuth Steckbriefe für das sogenannte Schwarze Buch zusammenzustellen, dessen voller Titel lautete: Die Communisten-Verschwörungen des neunzehnten Jahrhunderts. Im amtlichen Auftrage zur Benutzung der Polizei-Behörden der sämmtlichen deutschen Bundesstaaten. Erster Theil. Enthaltend: Die historische Darstellung der betreffenden Untersuchungen. Wermuth war der Königliche Hannöversche Polizeidirektor, dem man ein besonders gutes persönliches Verhältnis zu König Georg V. von Hannover nachsagte.
Stieber und Wermuth saßen in Stiebers Bureau im Berliner Polizeipräsidium beisammen, um zu beraten, welche Personen noch ins Schwarze Buch aufzunehmen seien.
»Ich hätte einen ganz interessanten Kandidaten«, begann Dr. Stieber.
»Schießen Sie los!« Dr. Wermuth war gespannt.
»Oberst-Lieutenant Christian Philipp von Gontard von der Vereinigten Artillerie- und Ingenieurschule.«
Dr. Wermuth zeigte sich erstaunt. »Wieso ausgerechnet den? Gontard war öfter zu Gast bei unseren Manövern im Hannoverschen und hat stets einen ausgezeichneten Eindruck hinterlassen.«
»Mag sein, aber das ist alles nur Tarnung. Er präferiert die Staatsform der amerikanischen Republik, und er ist Leuten wie Virchow kordial verbunden.«
»Und dennoch ist er vor nicht allzu langer Zeit zum Oberst-Lieutenant avanciert?« Dem Polizeidirektor aus Hannover fehlte angesichts dieser Informationen das Verständnis für die Beförderung.
»So ist es«, bestätigte Dr. Stieber. »Jemand am Hofe muss seine Hand schützend über ihn halten.«
»Denken Sie an Seine Majestät selbst?«
Dr. Stieber schüttelte den Kopf. »Nein, ich vermute eher, dass es eine der Hofdamen ist, möglicherweise sogar die Königin.«
Beide schwiegen erst einmal, denn was ihnen durch den Kopf ging, war zu heikel, um es auszusprechen. In Berlin wurde schon seit langem gemunkelt, dass Christoph Wilhelm Hufeland, der wohl bedeutendste Arzt der preußischen Residenz, beim