Das Geheimnis vom Oranienburger Thor. Horst Bosetzky
Читать онлайн книгу.kinderlos geblieben war. Und wenn die Königin nun ein Verhältnis mit dem Oberst-Lieutenant von Gontard hatte?
Dr. Stieber beendete das Schweigen. »Gontard soll sich im Jahre 1836 mit Karl Marx getroffen haben.«
»Das ist sechzehn Jahre her«, murmelte Dr. Wermuth.
»Was will das schon heißen? 1836 war Karl Marx an der Friedrich-Wilhelms-Universität eingeschrieben und hat nicht nur Vorlesungen von Friedrich Carl von Savigny, Carl Ritter und Bruno Bauer gehört, sondern auch von Eduard Gans, der Criminalrecht und Preußisches Landrecht gelehrt hat.«
»Und?« Dr. Wermuth konnte sich noch immer keinen Reim auf die Ausführungen Dr. Stiebers machen.
»Eduard Gans und Gontard sind entfernte Verwandte. Es ist also nicht ganz unwahrscheinlich, dass Gontard mit Karl Marx zusammengetroffen ist und sich von dessen staatsfeindlichem Gedankengut hat anstecken lassen.«
Dr. Wermuth wollte keine Entscheidung fällen. »Darf ich vorschlagen, dass wir das mit Gontard vorerst noch offenlassen?«
Gontard hatte an diesem Vormittag eine Verabredung im Café Stehely, zu der er auf keinen Fall zu spät kommen wollte. Schnell fuhr er mit dem rechten Fuß in seinen Stiefel. In derselben Sekunde hallte ein Schmerzensschrei durch das Haus in der Dorotheenstraße, der für einen Soldaten wenig heldenhaft war.
Henriette eilte sofort in die Diele. »Hat dir jemand ins Bein geschossen?«
»Es fühlt sich zumindest so an.« Gontard zog den Fuß wieder aus dem Stiefel. »Da, bitte!« Blut tropfte aus der grauen Socke.
Es stellte sich heraus, dass Paul Quappe die reparaturbedürftigen Stiefel nicht zum Schuster gebracht, sondern sich selbst ans Werk gemacht hatte. Dabei hatte er allerdings viel zu lange Nägel verwendet.
»Das ist ein Mordversuch«, brummte Gontard. »Man müsste den Burschen sofort standrechtlich erschießen.«
»Ach was, das war doch keine Absicht!«
»Mag sein, aber Paul Quappe hat einfach zwei linke Hände und sorgt tagtäglich für ein fürchterliches Durcheinander.« Derzeit lag Gontards Bursche allerdings in seiner Kammer und kurierte seine Gehirnerschütterung aus. »Wenn Kußmaul sagt, dass es eine Gehirnerschütterung ist, wissen wir wenigstens, dass Quappe über so etwas wie ein Gehirn verfügt«, stellte Gontard fest, während er seine Wunde am rechten Fußballen mit einem Stück Mullbinde versorgte und gleichzeitig, auf dem linken Bein humpelnd, nach einem anderen Paar Schuhe suchte.
»Hat man denn den Kerl schon gefunden, der Paul niedergeschlagen hat?«, wollte Henriette wissen.
Gontard schüttelte den Kopf. »Nein. Werpel wartet sicherlich, bis der Mann zwei Dutzend Einbrüche begangen hat – und womöglich noch einen Mord –, damit er umso mehr Ruhm erntet, wenn er den Übeltäter gefangen hat.«
»Du sprühst heute geradezu vor Ironie«, stellte Henriette fest.
Gontard lachte. »Ich hoffe, das bleibt den ganzen Tag so.« Dann küsste er Henriette und machte sich auf den Weg zum Gensdarmen-Markt. Er sah sich dabei mehrfach um, denn er hielt es nicht für ausgeschlossen, dass ihn einer von Dr. Stiebers Leuten verfolgte. Schließlich würde er einen Mann treffen, der in Preußen ganz sicherlich als Staatsfeind galt: Benedikt Waldeck.
Waldeck war am 31. Juli 1802 in Münster geboren worden, hatte in Göttingen studiert, unter anderem bei Jakob Grimm, war ein hervorragender Jurist geworden und 1844 als Obertribunalrath an das höchste preußische Gericht nach Berlin gekommen. Viele Denker seiner Zeit hatten ihn beeinflusst, unter ihnen auch der französische Autor Henri de Saint-Simon.
»Ich gelte zwar als Anführer des fortschrittlichen Lagers, aber das entspricht nicht ganz der Wahrheit«, gestand er Gontard, als sie sich im Café Stehely gegenübersaßen. »Ich bin nie dafür eingetreten, die amerikanische Verfassung auf Deutschland zu übertragen, ich war immer für die konstitutionelle Monarchie. Meiner Meinung nach sollten alle adeligen Privilegien aufgehoben und die Presse- und Versammlungsfreiheit gewährleistet werden, aber mit einem König an der Spitze.«
»Wie passt das zusammen?«, fragte Gontard.
»Wir müssen die Welt so nehmen, wie sie ist, und alles daransetzen, dass sich unser Volk nicht selbst zerfleischt«, erklärte Waldeck. »Darum bin ich auch zur gemäßigten demokratischen Fraktion gestoßen und habe alles getan, um weitere gewalttätige Auseinandersetzungen zu verhindern.«
Gontard nickte. »Ich weiß, zum Beispiel beim Streik der Kanalarbeiter im vergangenen Jahr.«
Waldeck seufzte. »Dreh- und Angelpunkt ist für mich das Parlament. Ich ziehe die Redeschlachten dort den Straßenschlachten allemal vor. Und ein Gefängnis ist auch nicht gerade eine Stätte bürgerlicher Gemütlichkeit.«
Waldeck war im Mai 1849 verhaftet und eingesperrt worden, weil man ihm unter anderem vorgeworfen hatte, ein Attentat auf den König geplant zu haben. Das Gericht hatte ihn allerdings freigesprochen, nicht zuletzt deswegen, weil sich Hinckeldey als Zeuge in Widersprüche verwickelt hatte. Waldeck war anschließend von der Menge frenetisch gefeiert worden und hatte auf seinen Dienstposten beim Obertribunal zurückkehren können.
»Und nun?«, fragte Gontard. »Wie stehen Sie zur Deutschen Frage?«
Waldeck zögerte nicht mit einer Antwort. »Ich halte noch immer nicht viel von der provisorischen Regierung in Frankfurt und glaube, dass wir Preußen das Volk sind, das in Deutschland an der Spitze stehen sollte. Deshalb können nur wir die Einheit Deutschlands herbeiführen, wobei ich Österreich ausschließe. Auch wenn es deswegen Krieg geben sollte.«
Gontard war anderer Meinung, äußerte sich aber nicht, da er an einem der Nebentische einen Spitzel Dr. Stiebers entdeckte hatte. Darum sagte er jetzt so laut, dass der Spitzel es hören musste: »Goethe hat recht, die Politik ist wirklich ein garstiges Lied. Ich mache es so wie Sie, lieber Waldeck, und ziehe mich aus der Öffentlichkeit zurück. Es lebe das Private!«
Franz Böttschendorf war eigentlich Barbier, übte aber auch den traditionellen Beruf des Baders aus, zog also Zähne und versuchte sich bei armen Leuten, für die der Besuch einer Arztpraxis zu teuer war, als Mediciner. Sehr zum Ärger seiner Frau Dorothea. »Wir haben überall Schulden, und du verplemperst deine Zeit mit Leuten, die auf dem Kirchhof besser aufgehoben wären!«
Böttschendorf blieb gelassen. »Der Herr wird’s mir schon einmal danken.«
»Das denkst du! Ich glaube nicht daran.« Doch Böttschendorfs Frau sollte sich geirrt haben …
An einem Freitag suchte Böttschendorf den Kunstmaler und Kupferstecher Martinus Michels auf, um ihn zur Ader zu lassen. Ein Aderlass sollte den Körper von schlechtem Blut befreien, das durch übermäßiges Essen, Sorgen, Ängste oder Enttäuschungen entstanden sein konnte. Böttschendorf glaubte zwar nicht daran, aber mit dem Aderlass ließ sich noch immer Geld verdienen.
Michels hauste in einem verwahrlosten Gebäude in der sogenannten Parochialritze, der äußerst schmalen Parochialstraße, in einem Raum, der gleichzeitig als Atelier sowie als Wohn- und Schlafzimmer diente. Fast hätte man denken können, Carl Spitzweg sei 1839 hier zu Besuch gewesen, um sich Anregungen für sein wunderbares Gemälde Der arme Poet zu holen, nur dass Martinus Michels nicht dichtete, sondern malte. Manche hielten ihn für ein Genie, nur kaufen wollte niemand, was er auf die Leinwand brachte. Auch seine Radierungen und Federzeichnungen fanden keine Abnehmer.
Während Böttschendorf den Schröpfschnepper hervorholte, mit dem er die Haut an Michels linkem Arm anritzen würde, warf er einen Blick auf einige Federzeichnungen, die der Künstler an der Wand befestigt hatte, wohl, um sich an die Barrikadenkämpfe im März 1848 zu erinnern. »Haben Sie selbst auf den Barrikaden gekämpft?«, wollte Böttschendorf wissen.
Voller Stolz fuhr Michels auf. »Selbstredend! Immer mittenmang. Sehen Sie nicht, da stehe ich doch!« Er deutete auf eine der Zeichnungen.
Böttschendorf hätte sich schnell wieder seiner Profession zugewendet, wenn er nicht in diesem Augenblick neben Martinus Michels ein bekanntes Gesicht auf dem Gemälde entdeckt