Bella und Paul. Uwe Kirst

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Bella und Paul - Uwe Kirst


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schlüssige Erklärung war das nicht, doch sie wies schon auf die übrigen Kirchenschiffe, mit bekannten Gemälden und Glasmalereien und dann, in der Krypta, die berühmte Poganow-Ikone aus dem 14. Jahrhundert. Gruppen von Schülern hörten ihren Lehrern zu, touristisch anmutende Personen vertieften sich in die Kunstwerke und auf dem Gestühl unter der Kanzel saß eine alte Frau, die betete.

      Ich war beeindruckt, aber nicht völlig bei der Sache; in mir summte die Energie, die mich zum Wanken gebracht hatte. Mein Schritt war unstabil. Da fiel mir auf, dass ich ihre Hand hielt, sie nicht losgelassen hatte, nach dem Ereignis unter der großen Kuppel; sie hatte sie mir nicht entzogen. Ich empfand in dieser Berührung eine Nähe, die sich nicht erklärte, zu einer Fremden, die mir doch von meinen Universitätskollegen erst empfohlen worden war: »Gehen Sie zum Denkmal. Dort wartet Maria auf Sie. Sie hat bei uns studiert und ist sehr vielseitig; sie wird Ihnen die Stadt zeigen, bevor wir morgen mit der Arbeit beginnen.«

      Auf dem Weg nach draußen schien mir die übliche Distanz verschwunden, die es zwischen Menschen gibt, die sich eben erst begegnet sind. Es herrschte ein Vertrautsein, das mich wunderte, denn ich war vorsichtig bei neuen Kontakten, in Ländern, die mir fremd waren. Ich erzählte meist wenig von mir, hörte lieber zu und war auf Distanz bedacht: Herzlich, aber höflich und genau beobachtend. Fehler sind schnell geschehen und der Weg zum Verstehen anderer Lebenswelten ist mit Missverständnissen förmlich gepflastert.

      »Sind Sie Maria?«, sprach ich sie an, am Nachmittag, auf dem Platz, der mir genannt worden war. Sie hatte mich kurz gemustert und dann genickt. Das war keine zwei Stunden her, doch nahm ich sie schon jetzt anders wahr, mit einer präsenten Wärme; einem Vertrautsein ohne Grund.

      »Ich lade Sie zum Essen ein«, lächelte sie mich an. »Oder machen Sie eine Diät? Das ist doch in Deutschland große Mode, habe ich gelesen, oder?«

      »Bestimmt nicht, das würde man mir ansehen«, antwortete ich und eine Mitarbeiterin fiel mir ein, die mit ihrer Trennkost seit ein paar Wochen den halben Betrieb in Atem hielt.

      »Ich möchte Ihnen ein Restaurant zeigen, ein privates, das zwei junge Männer gerade erst gegründet haben. Dort wird traditionell gekocht. Das gefällt Ihnen sicher. Es ist nicht weit.«

      Das bedeutete hierzulande nicht selten einen Fußmarsch von zwanzig Minuten und länger, aber Maria hatte ein Auto, einen kleinen deutschen Wagen, der mehr als Worte davon kündete, dass ihr Geschäft kein Hirngespinst war und etwas abwarf. Kredite gab es nicht und sobald jemand ein Fahrzeug besaß, war das meist bar bezahlt.

      Sie fuhr schnell und wenn mir der hier übliche Fahrstil nicht schon vertraut gewesen wäre, hätte mich das beunruhigt. Doch sie reagierte präzise und hielt den Blick auf der Straße, was mir Gelegenheit gab, sie von der Seite zu mustern. Die Nase war zierlich, die Lippen fein geformt, die Brauen perfekt, ein Hauch von Schminke auf der Haut und an den Ohren bildete ihr schwarzes, dichtes Haar kleine Halbkreise. Der kurze, enge Rock endete über den Knien, ein wenig hochgerutscht durch die Bewegungen beim Kuppeln und Bremsen, schlanke Beine, trotz der Sommerhitze feinbestrumpft.

      Ihr Lächeln zeigte mir, dass sie meine Blicke bemerkte. So schaute ich besser wieder nach vorn und sah jetzt, dass wir in einem anderen Stadtviertel unterwegs waren. Es wirkte sauberer, gepflegt, mit kleineren Häusern, dafür mit weniger frischer Farbe.

      Ich war erstaunt, dass ein solches Lokal fernab vom Touristentrubel in einer eher Wohngegend zu finden war und sagte ihr das. Es war nicht das erste Mal, dass mir Standortentscheidungen für Gastronomiebetriebe und Handelsgeschäfte unverständlich waren und ich rätselte dann, woher denn die Gäste in ausreichender Anzahl und Frequenz kommen sollten, um diese aufwendige Küche wirtschaftlich zu ermöglichen.

      »Hier essen vor allem die, die in dieser Gegend wohnen; zunehmend Geschäftsleute. Ein Geheimtipp.«

      Es war ein langgezogener Raum, erhellt von Wandleuchten. Kleine Tische, mit zwei gegenüber angeordneten Stühlen, reihten sich an den Wänden und erinnerten an die versteckten Pariser Restaurants, wo der Tisch jedes Mal vorgezogen werden musste, für denjenigen, der mit dem Rücken zur Wand saß. Weißes Tuch mit schwerem Besteck, aber elegant, Kristallgläser, hier traditioneller Ausdruck für gehobenen Standard und Festlichkeit.

      Eine Speisekarte mit schlichtem Druck auf dickem Papier und Gerichte, die mir wie eine Mischung aus geheimnisvollem Orient und federleichter, australischer Küche vorkamen.

      Kardamom und Limonen, Honig und Fisch. Der Wein war aus einer Spitzenlage des Landes, bestens beleumdet bei Kennern europäischer Gewächse.

      Unser Gespräch schwebte zwischen den Welten, berührte Literatur wie Geschichte, Religion wie kühne Reden politischer Protagonisten. Das, was wir aßen, bildete den Kontrapunkt.

      »Ich wohne auch nicht weit von hier. Wir können gerne den Kaffee bei mir trinken. Es würde mir Freude machen, Sie dazu einzuladen!« Sie ließ mich nicht zahlen und als ich zum Auto steuerte, lächelte sie: »Es sind nur ein paar Schritte.«

      Nach wenigen Minuten wanderten wir durch Gänge und über Treppen bis zu einer Tür auf einem langen Flur mit vielen solcher Türen. Ich sah kein Namensschild, aber das war hier nicht ungewöhnlich; es erinnerte mich an England, wo meist nur Wohnungsnummern zu sehen waren oder die Häuser klangvolle Namen hatten. Ein Flur mit wenigen Möbeln, hell, mit Bildern an den Wänden, modern, keine Drucke. Sie führte mich in ein Zimmer, das größer als erwartet, freundlich wirkte und warm, wie der Flur nicht überladen, eine Mischung aus Bequemlichkeit und Stil. Ich nahm den Platz, den sie anbot, und kam mir nicht fremd vor.

      Den Kaffee bereitete sie in einer dieser Metallkonstrukte, die man direkt auf die Flamme oder Kochplatte setzte und die eine Art Espresso hervorbrachten, der meist nicht übel war. Zucker stand in einer Schale neben den Tassen, einen kleinen Krug mit klarem, kühlen Wasser stellte sie dazu. Wir saßen an einem viereckigen Tisch aus dunklem, poliertem Holz, auf dem eine Spitzendecke lag. Die Tassen waren klassisch geformt, die zierlichen Löffel wirkten verspielt. In dem sonst modern gestalteten Raum bot dieser Platz, zusammen mit einem garantiert ebenso alten Glasschrank, einen deutlichen Kontrast.

      »Das ist schon lange im Besitz meiner Familie.« Sie hatte die Blicke bemerkt. »Früher gehörte dazu noch ein selbstgemachter Likör. Möchten Sie vielleicht ein Glas probieren?«

      Die Dämmerung war zwar schon in Dunkelheit übergegangen, aber es gab keinen Grund, schnell zu meiner Unterkunft zu kommen, die, sauber und freundlich, doch recht spartanisch eingerichtet war. Außer ein paar Seiten in meinem Buch, in dem ich las, wartete dort nichts auf mich.

      Ich nickte und sie trat zur Vitrine, nahm Gläser mit schlankem Stiel und eine dunkle Flasche ohne Etikett heraus, löste den Korken und goss beide halbvoll. Es war eine dunkelrote, schwere Flüssigkeit und ich war gespannt, was das alte Hausrezept hervorgebracht haben mochte. Sie stand mit dem Rücken zur Vitrine, in jeder Hand ein Glas und lächelte mir zu, so dass ich automatisch aufstand und die zwei Schritte zu ihr ging.

      Sie gab mir eines davon und hob das ihre: »Lassen Sie uns anstoßen und etwas sagen. Es bringt Unglück bei uns, wenn man trinkt und nichts dazu sagt.«

      Ich schaute sie erwartungsvoll an, denn sie war die Gastgeberin. Ihr voller Blick traf meine Augen, da ergriff mich das gleiche Gefühl, wie in der Kathedrale: Ein leichter Schwindel und eine merkwürdige Wärme, die in mir aufstieg.

      »Wenn Menschen sich begegnen, berühren sich immer auch ihre Herzen.«

      Das Kristall klang aneinander und ich nahm einen Schluck. Der bittersüße Geschmack des schweren Likörs erreichte augenblicklich alle Geschmacksknospen. Unsere Blicke lösten sich voneinander, mein Mund wurde trocken; ein inneres Vibrieren kam auf. Ein Lichtreflex, gebrochen durch den tiefroten Inhalt des Glases, zeichnete purpurne Muster auf die helle Haut ihres Dekolletés. Rubin auf Samt. Ihre Lippen schimmerten, benetzt vom Likör; und als sie meinen Mund berührten, atmete ich ihr Parfum.

      Ich erwachte von einem Streicheln. Es war dunkel, das Straßenlicht warf ein rechteckiges Muster auf das Parkett. Sie strich mir über mein Gesicht: »Ich bringe dich zurück.«

      Ich fand die Kleider verteilt um das breite Bett inmitten


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