Bella und Paul. Uwe Kirst
Читать онлайн книгу.das Navigationsgerät kannte sich aus. Indes sprach es deutsch. Quelle größter Heiterkeit, wenn es zum Beispiel aus Cambridge »Kammbriddge« generierte.
Er sah die Gärten, die vielen Mäuerchen und erinnerte sich an John Forbes. Schade, dass er tot war; er hätte jetzt gern seine Meinung gehört zur Lage im Land. Er hatte immer gelassen reflektiert und pointiert geurteilt. Zu Gast in dessen Haus fiel ihm eines Morgens auf, dass tiefe Parallelspuren das um ein Haar perfekte englische Grün durchpflügt hatten.
»Was haben Sie über Nacht mit Ihrem Rasen gemacht?« fragte er seinen Gastgeber.
»Oh«, entgegnete Forbes. »Das war nicht ich, das waren die Diebe, die den Rasentraktor gestohlen haben.« Und ungerührt griff er zum gebutterten Toast, während er die Baked Beans seines Englisch Breakfast löffelte.
Sie war vorbei, diese Zeit. Sein unbewusstes Lächeln trug für einen Beobachter einen wehmütigen Zug. Wir erleben Menschen und merken nicht, dass wir sie im Grunde lieben, dass sie ihren Platz in unserem Alltag wie selbstverständlich besetzen, sich passend einrichten und Teil dieses Lebens bleiben. Immer verdeckt von akutem Handeln, aber stets präsent, glockenklar auftauchend, sobald unser Unterbewusstes die Gelegenheit bekommt, etwas ›nach oben‹ zu schicken, ins geistige Licht. Belangloses, so urteilen wir oft, doch nichts ist ohne Sinn, was uns das Innerste liefert. Passgenau, aber häufig unverständlich, da Verstehen an Einsicht geknüpft ist, die meist erst später kommt. Es heißt, dass wir sie ›gewinnen‹. Das stimmt, denn ständig tobt der Wettkampf mit unserer eigenen Dummheit.
Er erreichte sein Hotel, das, wie erwartet, kein Kasten war aus Glas und Beton, sondern viktorianische Architektur verkörperte. Trotz aller Renovierungsorgien nach wie vor harmonisch, aber mit den Hühnerstiegen, die hier Treppe genannt werden.
Sein Zimmer hatte eine freistehende Badewanne. Geeignet, einer nackten Schönheit im Bade zuzusehen, während man, den alten Sherry im Glas, darauf wartete, bis sie trocken genug war, um ihr beim Schließen der Verschlüsse zu assistieren. Das Badezimmer war kein enges Kabinett, sondern voller Licht und Raum, die Toilette wiederum ungeeignet für korpulente Gäste.
Die altertümliche Schließtechnik der Fenster war respektvoll erhalten worden und nach ihrer Überwindung konnte sein Blick die Stadt erfassen.
Die Kathedrale mit ihrer kantigen Silhouette, die tausend Schornsteine auf Pultdächern, das schwindende Licht, das rötliche Reflexe auf ungezählte Glasscheibchen zauberte.
Er räumte seine wenigen Utensilien in Bad und Schränke, zog die Reisekleidung aus und wählte eine Krawatte zum Hemd, die ihm gefiel. Er war es Middlethorpe Hall schuldig, selbst wenn alle Welt in Jeanslumpen und Fünf-Euro-T-Shirts sogar in Opernpremieren latschte. Er hatte keinen Einblick, wie Letitia, er nannte sie in Gedanken schon bei ihrem Vornamen, gekleidet sein würde. Ein Jeansberuf in einem Cut-away-Land? Was trugen Geschäftsfrauen heute zum Dinner in historischen Mauern?
Seine Gastgeber hatten ein Taxi geschickt; nicht ein solches, wie es für London typisch war, sondern eine moderne Marke südostasiatischer Herkunft und die recht kurze Fahrt endete, wie erwartet, vor dem Eingang, den er kannte. Nach dem Aussteigen hatte er, genau wie vor vielen Jahren, das Gefühl, klein zu sein vor diesem imposanten Haus und zugleich erhobenen Hauptes durch das verzierte Tor gehen zu dürfen, dazuzugehören, ein erwarteter Gast zu sein.
Die Lobby wirkte noch immer wie eine Szene aus Downton Abbey, nur, dass Flachbildschirme auf altem Holz mit den korrekten Sakkos der Angestellten und deren beflissenem Blick konkurrierten.
Leticia Brown stand am Tresen des Portiers und er war froh, dass er nicht die Casual-Variante gewählt hatte, da neben ihr zwei jüngere Männer mit Fliege posierten. Sie war es sicher, denn sobald sich die Tür hinter ihm schloss, kam sie auf ihn zu, mit fragendem Blick, der schnell strahlend wurde, da sie ihn ebenfalls erkannt hatte. Niemand trifft heutzutage irgendwen, den er nicht vorher googelt.
Es wurde ein Dinner, wie er es liebte, mit besten Weinen, wie es heute in England erwartet werden konnte. Er aß mit Appetit und Interesse, denn die englischen Speisen waren besser als ihr Leumund, vor allem, weil ausgesuchte Rohstoffe hier Standard waren und niemand auf die Idee kam, dass ein Stück bestes Fleisch billig zu haben sein müsse.
Seine Gastgeberin kannte sich aus und die Inhalte seiner Vorträge waren bald umrissen. Witzig war sie, vor allem, wenn sich ihre Mitarbeiter, das waren die beiden Herren in ihrer Begleitung, im Gespräch zu weit vorwagten. Er genoss das Geplänkel, denn er war geübt in der behutsamen Hartnäckigkeit, mit der Briten ihren Faden verfolgten, obwohl eine lockere Floskel die andere abzulösen scheint. Das Dessert, ein Crumble, wie es fast nur in England zu bekommen war, bot Gelegenheit, einen schweren Portwein zu kosten.
Dann war alles besprochen und vereinbart und es kam das, was er im Stillen gehofft hatte: Mrs Brown schickte ihre Begleiter nach Hause und lud ihn zu einem Whisky an den Kamin ein.
»Es interessiert mich doch sehr«, lächelte sie, »was Sie damals bei ihrem ersten Besuch in Yorkshire so erlebt haben.«
Das wunderte ihn zwar, aber welche Überschrift diesen Teil des Abends zieren würde, war im egal. Die Hauptsache, er hatte Gelegenheit, ihr weiter einige Zeit zuzuhören und sie zu betrachten, denn er nahm ihre Anziehungskraft wahr, die vom recht vertrauten Grundton herrührte, den sie ihm gegenüber von Anbeginn angeschlagen hatte.
»Aber sehr gern!« Er erhob sich ebenfalls. »Dann sehe ich gleich, ob der Kamin noch derselbe ist, an dem ich damals saß.«
Es waren zwei Sessel reserviert und bald saßen sie einander halb gegenüber, den Blick auf das Feuer gerichtet, das in dem Kamin, der in der Tat derselbe war, vom Personal präzise bei mittlerer Flamme gehalten wurde.
»Was möchten Sie trinken? Wirklich Whisky? Es gibt hier einen 16 Jahre alten Lagavulin; aber ich möchte vorher mit Ihnen noch etwas anderes trinken. Einverstanden?«
Er nickte; ihr Lächeln erinnerte ihn schon den ganzen Abend an irgendetwas.
Sie orderte zwei Champagner, dann erhob sie das Glas, sah ihn lange an und sagte, unvermutet im fast akzentfreien Deutsch: »Ich trinke darauf, dass Sie meinen Vater kannten und heute Abend gesagt haben, dass er wie ein väterlicher Freund für sie war.«
Er wusste zunächst nichts zu sagen, so verblüfft war er über ihren Toast.
»Ihr Vater?« Und auf einmal sah er das Foto vor sich, dass ihm John Forbes damals gezeigt hatte: die Tochter in Deutschland. Die Augen, die Kopfhaltung – sein Witz. »Letitia Forbes? Sie sind Letitia Forbes!«
»Ja, das bin ich. Brown hieß mein Mann.« Ihr Gesicht strahlte. »Und mein Vater hat immer wieder über den jungen Deutschen gesprochen, der garantiert Erfolg damit gehabt hätte, sich in England niederzulassen.«
Sie tranken ihren Champagner und seine verstaubten englischen Geschichten rissen nicht ab, immer wieder ergänzt durch die Ereignisse, die sie beisteuerte.
»Aber wir wollten doch Whisky trinken,« sagte sie, als die Champagnergläser leer waren. »Probieren wir den Lagavulin oder haben Sie einen anderen Wunsch?«
»Sehr gern«, entgegnete er, und erzählte von der Szene mit ihrem Vater an diesem Kamin. »Allerdings weiß ich nicht mehr, wie die Marke hieß, die wir im Glas hatten. Der war für mich das Beste, was ich bis dahin kannte.«
»Das bekommen wir vielleicht heraus.« Sie winkte einem Kellner und erklärte ihm die Geschichte, worauf er in den Nebenraum verschwand. »Er fragt seine Chefin, die hier schon gelernt hat. Sicher kennt sie die üblichen Marken ihres Kellers.«
Die Erwähnte kam und trug eine Flasche mit sich, fast leer und erkennbar alt. »Ich habe noch etwas gefunden von dem, was wir in der damaligen Zeit im Keller hatten. Diese Destille gibt es leider nicht mehr. Das könnte aber noch die Sorte sein, an die Sie sich erinnern.«
Sie freute sich merklich über seine Nachfrage: »Wir haben heutzutage immer seltener Gäste, die sich für Derlei interessieren.«
Sie reichte ihm die Flasche und aufmerksam betrachtete er das Etikett. Es hatte Patina angesetzt und nicht jedes Wort war leicht zu entziffern, nicht