Der Lustmörder. Horst Bosetzky

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Der Lustmörder - Horst Bosetzky


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noch det Jas abjedreht!», rief jemand oben aus dem Fenster.

      «Scheibenkleister», murmelte Rylski, der Rentner, der hinter Kappe stand. «Ick wollte ma nachher jrade vajiften. Nicht mal den Spaß jönnen Se eim noch.»

      Kappe bekam eines der letzten Brote, und da sie noch ein bisschen Butter und Marmelade aus Wendisch Rietz im Schrank stehen hatten, konnten sie einigermaßen feudal frühstücken.

      Bei den Trampes, wo ein jedes der drei Kinder in die Kategorie «Fresssack» einzustufen war, gab es schon wieder Tränen. «Mama, ich hab noch so’n Hunger!»

      Trampe zog los, um zu sehen, ob er irgendwo etwas organisieren konnte. Wieder schloss Kappe sich ihm an.

      «Bei so vielen Soldaten auf einem Haufen kann ich die ja gleich mal fragen, ob sie den hier kennen.» Er zeigte Trampe das Photo, auf dem Erna Reczyns heißblütiger Liebhaber zu sehen war.

      «Der hier … genannt Schluchti. Wir haben zwar Streik, aber … Bin ich nun gleich ein Streikbrecher?»

      «An sich schon …»

      Die Stimmung in Berlin schien immer explosiver zu werden. Den ersten Zusammenstoß erlebten sie am Görlitzer Bahnhof. Dort wollte eine Mannschaft der Technischen Nothilfe eine Wasserpumpe reparieren, doch die Anwohner ließen dies nicht zu, weil es sich dabei um deutschnationale Schüler und Studenten handelte.

      «Haut ab hier, ihr Packzeug!» Die ersten Steine flogen.

      Der Fahrer riss eine Pistole hervor und begann zu feuern. Kappe und Trampe schafften es nicht mehr, in den nächstgelegenen Hauseingang zu flüchten.

      An diesem 15. März 1920 und an den nächsten beiden Tagen geschah noch viel in Berlin.

      In der Steglitzer Schloßstraße wurden bei einem Streit zwischen Militär und Zivilisten acht Menschen getötet.

      Am Halleschen Tor überfiel die Menge einen Militärlastwagen. Die Soldaten feuerten, mehrere Tote blieben am Platze, darunter ein junges Mädchen.

      Ein scharfer Zusammenstoß erfolgte an der Ecke Invaliden- und Brunnenstraße. Eine Militärabteilung, die mit klingendem Spiel durch die Straßen zog, wurde von der Menge mit Steinen und Handgranaten beworfen, einigen Soldaten wurden die Waffen entrissen. Truppen mit Maschinengewehren und Flammenwerfern eilten zu Hilfe und eröffneten ein scharfes Gewehrfeuer. Vier Menschen wurden getötet.

      In der Rheinstraße in Friedenau wurden nach einem Streit mit dem Militär vier Zivilisten von einem Maschinengewehr niedergemäht.

      Am Dienstag, dem 16. März, ging es ruhiger zu, und es schien, als kämen alle ein wenig zur Besinnung.

      Der Streik hatte sich noch verschärft. Mit Ausnahme der Milchzüge erreichte kein Fernzug das Berliner Stadtgebiet. Fast alle Verkehrsmittel waren ausgefallen, selbst die «wilden» Fuhrwerke waren diesmal nur spärlich zu sehen. Die meisten wurden zum Umkehren gezwungen, oder die Pferde wurden ihnen ausgespannt. Wenige Droschken fuhren, und dies nur zu horrenden Preisen. Die Elektrizitätsversorgung funktionierte nur mangelhaft, die Gasversorgung in den Häusern stockte gänzlich.

      In den Mittagsstunden wurde der Leutnant Barth, der zur Besatzung der Reichsdruckerei gehörte, überfallen und von der Ritterbrücke ins Wasser geworfen. Es gelang der Polizei, ihn zu retten.

      An der Oranienbrücke wurde der Revolverdreher Baltzuweit, der mit einem Offizier in Streit geraten war, von diesem erschossen.

      Am Friedrich-Wilhelm-Platz warfen zwei Soldaten Handgranaten. Einem Zivilisten wurde bei der Explosion ein Arm zerrissen.

      Am Mittwoch, dem 17. März, kam es zu neuen Auseinandersetzungen zwischen dem Volk und dem Militär, obwohl die Gewissheit zunahm, dass die letzten Stunden der Säbelherrschaft angebrochen waren.

      Ein heftiger Kampf entbrannte am Kottbusser Tor. Gegen neun Uhr versammelten sich hier sechshundert bis siebenhundert Menschen, die an der Admiralstraße eine Barrikade errichteten. Eine Patrouille der Sicherheitspolizei, die die Menge auseinandertreiben wollte, wurde zurückgeschlagen. Daraufhin erschien eine Patrouille der Reichswehr. Schnell war sie von der Menge umringt. Man griff sich einige Soldaten und warf sie in den Landwehrkanal. Hierauf wurde eine starke Abteilung der Reichswehr mit einem Minenwerfer entsandt. Aus fünfhundert Metern Entfernung feuerte das Geschütz eine schwere Mine ab, die unweit der Hochbahn auf das Straßenpflaster fiel und dort explodierte. Zwölf Menschen wurden auf der Stelle zerrissen, acht andere schwer verletzt. Alle, die in der Nähe standen, trugen Verletzungen durch Geschosssplitter davon. Unter furchtbaren Schreien stob die Menge auseinander. Zurück blieben ein Krater auf dem Fahrdamm, verbogene Straßenbahnschienen, herabgerissene Oberleitungen und verformte Träger des Hochbahnviadukts.

      Hermann Kappe und Theodor Trampe umarmten sich auf dem Mariannenplatz. «Hurra, wir haben gesiegt!» Die nur hundert Stunden währende Herrschaft der Putschregierung war beendet, Dr. Wolfgang Kapp und General Freiherr von Lüttwitz waren von ihren Ämtern zurückgetreten.

      «Wann werden die aufrührerischen Truppen abziehen?», fragte Kappe.

      «Na, hoffentlich noch heute.»

      Heute, das war Donnerstag, der 18. März. Nachdem ihnen am Montag die Kugeln dicht am Kopf vorbeigeflogen waren, wagten sie sich erst heute wieder auf die Straße hinunter.

      Möglicherweise zu früh, denn gleich nebenan in der Wrangelkaserne gab es einen gewaltigen Tumult, als einige hundert Kommunisten versuchten, Waffen der dort einquartierten Sicherheitspolizei an sich zu bringen, was aber misslang.

      «Los!», schrie einer beim Vorbeilaufen. «Zum Hermannplatz, da wird noch jekämpft!»

      Kappe und Trampe ließen sich nicht mitreißen. Später erfuhren sie, dass bei den Auseinandersetzungen dort ein Offizier getötet und zwei Soldaten schwer verletzt worden waren.

      Kappe holte das Photo aus der Tasche, das ihm Vera Orschel so liebevoll überlassen hatte. «Ich bin ja immer noch auf der Suche nach diesem Schluchti hier. Wie auch immer er heißt, er soll Soldat bei den Baltikumstruppen sein oder zumindest gewesen sein.»

      «Eilen wir doch zu den Gebäuden, in denen sie untergebracht waren», schlug Trampe vor. «Fragen kostet ja nichts. Du solltest nur nicht sagen, dass du den Mann als Doppelmörder suchst.»

      «Nein, nein, das ist mein Bruder, der als vermisst gemeldet worden ist.»

      Sie machten sich auf den Weg in die Innenstadt. Die Nervosität der Menschen auf den Straßen war geradezu mit Händen greifbar. Zahllose Gerüchte über angeblich bevorstehende Aktionen der Kommunisten schwirrten umher. Die antisemitischen und nationalistischen Wanderredner waren allerdings von den Plätzen verschwunden, was Kappe und Trampe aufatmen ließ. Doch die Döberitzer Putschisten saßen noch immer - wie die beiden schnell feststellen konnten - in den öffentlichen Gebäuden, und ihre Fahnen wehten weiterhin von den Dächern der besetzten Häuser. Wenigstens standen auf dem Potsdamer Platz wieder blaue Schutzleute und keine Kapp-Soldaten mehr.

      «Mir waren die Blauen nie sympathisch», sagte Trampe, «heute aber könnte ich ihnen um den Hals fallen.»

      An der Potsdamer Brücke standen in langen Kolonnen und zum Abmarsch bereit Kanonen, hoch bepackte Lastwagen und mit Pferden bespannte Proviantwagen. Eine große Menschenmenge hatte sich angesammelt und jubelte lauthals. Spott ergoss sich über die Soldaten. Einige verloren die Nerven und schossen über die Köpfe der Leute hinweg.

      Kappe und Trampe warfen sich auf den Boden und verfluchten sich, dass sie nicht zu Hause geblieben waren. Am nördlichen Ufer des Landwehrkanals liefen sie zur Königin-Augusta-Straße, wo die Garnison des Reichsmarineamtes aufmarschierte. Offiziere, den Sturmhelm auf dem Kopf, die Pistolen im Gürtel, gingen an den Reihen der marschfertigen Truppen entlang.

      «Wir ziehen jetzt nach Lichterfelde!», rief einer. «Wenn ihr unterwegs angepöbelt werdet, dann rücksichtslos schießen!»

      Kappe und Trampe machten, dass sie weiterkamen. Irgendwie gelang es ihnen auch, der Menschenmenge, von der sie mitgerissen wurden wie Hölzchen in einem wild schäumenden Gebirgsbach, zu entkommen. Sie strebten ständig zum Rand


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