Verzweifeln oder krank werden ist auch keine Lösung!. Gerhard Seidel
Читать онлайн книгу.Was es braucht, ist Resilienz – für die Unternehmen und für die Mitarbeiter. S. K. Wellensiek definiert in ihrem sehr empfehlenswerten Handbuch „Resilienz-Training“ den Begriff wie folgt:
Die Fähigkeit zu innerer Stärke wird in der Psychologie als Resilienz beschrieben. Resiliente Mitarbeiter können auf die Anforderungen wechselnder Situationen flexibel reagieren – eine lebenswichtige Fähigkeit, vor allem wenn der äußere und innere Belastungsdruck steigt. Im wirtschaftlichen Kontext übersteigt die Definition des Begriffs „Resilienz“ die individuelle Fähigkeit und inkludiert darunter auch die organisatorische Fähigkeit, sich schnell und erfolgreich an ständig verändernde Anforderungen, intern wie extern, anzupassen.
Wenn die Probleme der Psychosozialen Gesundheit zu einer gewaltigen Krise für Unternehmen und Mitarbeiter werden, dann besteht die Herausforderung darin, sie kompetent zu verarbeiten, damit am Ende ein positives Ergebnis herauskommt. Dieses Ergebnis kann die Beseitigung des Dilemmas sein, aber auch eine neue Orientierung oder der Zugewinn von neuen Erfahrungen und Wissen.
Ich glaube nicht an eine „Unternehmens-Schicksal-Verteilungsstelle“, wo die Chefs in einer Reihe stehen und ein Engel oder der Teufel eine Kelle voller Gewinne oder Verluste in den Bilanzierungstopf schöpft.
Auch kann ich nicht akzeptieren, dass Mitarbeiter nur die Opfer der neuen Arbeitswelt sind. Sie sind nicht hilflos ihren Führungskräften ausgeliefert und erst recht nicht den steigenden beruflichen Anforderungen. Es ist nicht ihr Schicksal, dass sie an einer persönlichen Schicksal-Verteilungsstelle eine Schlag Suppe bekommen, die sie auslöffeln müssen.
Ich glaube daran, dass das Schicksal für einen Mitarbeiter nichts anderes bedeutet als der Wind für ein Schiff. Ich kann doch entscheiden, wohin ich mein Lebensschiff steuern will.
Ein Teilnehmer: Sie können sich ja richtig echauffieren! Also, meine Erfahrung ist, dass man häufig sehr wohl den Launen seiner Chefs ausgesetzt ist und die beruflichen Anforderungen immer schwieriger werden.
Antwort : Ich habe nicht behauptet, dass es solche Launen nicht gibt, und ich habe auch nicht bestritten, dass die Anforderungen wachsen. Entscheidend ist, wie wir damit umgehen.
Ich möchte eine berufliche Erfahrung schildern, um Ihnen aufzuzeigen, was ich meine: Einer meiner früheren Chefs war ein Stinkstiefel. Die ganze Belegschaft litt unter seinen Launen und seiner Kritik. Jeder ging ihm aus dem Weg, immer fand er etwas heraus, was er bemängeln konnte, und man musste eine Schimpfkanonade über sich ergehen lassen. Er war einfach ein Blödmann.
Eines Tages stellte er eine Assistentin ein, die so was von gut drauf war – immer gut gelaunt, hilfsbereit, selbstbewusst und freundlich. Die ließ sich von dem schlechten Benehmen ihres Chef nicht beeindrucken und behandelte ihn stets höflich. Sie erledigte trotz kritischer und unberechtigter Belehrungen ihre Aufgaben mit vollem Engagement. Mit der Zeit änderte sich unser Chef und wurde – na sagen wir mal – halbwegs vernünftig. Wissen Sie, wie die Sache ausging? Eines Tages hat er seine Assistentin geheiratet. Diese Mitarbeiterin hat ihr Schicksal selbst in die Hand genommen.
1.5 Sichtweisen
Vielleicht sollte ich Ihnen kurz erklären, dass ich einige Themen, die ich Ihnen hier vortrage, bereits in den von mir verfassten Büchern detailliert beschrieben habe. Damit will ich Sie nicht zum Kauf animieren, sondern nur klarstellen, dass dieser Vortrag Elemente enthält, die für Sie und Ihre Arbeit wichtig sind, aber hier nicht im Detail angesprochen werden, weil ich sie bereits in einem anderen Zusammenhang veröffentlicht habe. Nun ja, ich will mein eigenes Rad ja nicht immer neu erfinden, und es erleichtert natürlich die Arbeit, wenn man auf bereits Erdachtes, Gemachtes, Erprobtes und Beschriebenes zurückgreifen kann.
Das gilt auch für meine jetzt folgenden Ausführungen, die sich mit einem meiner Lieblingsthemen befassen. Hier geht es um die unterschiedlichen Sichtweisen bzw. Interpretationen von dem, was man sieht, erlebt, liest oder hört.
Wenn ich Vorträge halte oder Workshops veranstalte, dann kann ich bei den Teilnehmern oft beobachten, dass einige von ihnen bei bestimmten Passagen den Kopf schütteln und mir damit signalisieren: „Das sehe ich aber ganz anders. Mit dieser Ausführung bin ich nicht einverstanden.“ Doch es gibt auch die andere Gruppe, die zustimmend nickt und damit deutlich macht: „Das sehe ich auch so. Das, lieber Seidel, ist in Ordnung.“ Klar, es gibt auch die, die keine Reaktion zeigen. Diese Gruppe bereitet mir als Referent immer Schwierigkeiten, weil ich sie nicht einschätzen kann.
Ich habe diese verschiedenen Reaktionen auch hier und heute beobachtet. Das ist normal. Und trotzdem möchte ich kurz darauf eingehen.
Ich sehe das nämlich so: Wenn Sie mit den Inhalten meines Vortrages stets einverstanden wären, meine Ausführungen immer mit Ihren Ansichten übereinstimmten, dann brauchten Sie gar nicht zuzuhören, dann wäre Ihre Teilnahme an der Veranstaltung sinnlos. Denn der Zugewinn an neuen Erkenntnissen und Wissen tendiert gegen null. Diese Veranstaltung ist aus meiner Sicht dann gut für Sie, wenn Sie etwas Neues, etwas Anderes hören, Informationen, die Sie verunsichern und verwundern. Wenn ich Dinge vortrage, die Sie bisher vielleicht sogar ganz anders beurteilt haben. In einem Satz: Wenn ich Ihre Erwartungshaltung – die ja durch Ihre Erfahrungen und Ihr Wissen geprägt sind – dadurch erfülle, dass ich Ihnen bisher unbekannte Sichtweisen vortrage.
Ich trage Ihnen meine Sichtweisen vor und verspreche Ihnen, dass alles, was ich behaupte, wahr ist. So habe ich es erkannt und für mich interpretiert. Es sind ganz einfach meine Wahrnehmungen, meine Wahrheiten.
Ich kann aber sehr gut akzeptieren, dass auch Sie eine besondere Sicht der Dinge haben, die mindestens so wahr ist wie meine. Meine Aufgabe besteht in diesem Vortrag darin, Ihr Wissen und Ihre Erfahrungen mit meinen Überlegungen und Schlussfolgerungen in Frage zu stellen, Sie davon zu überzeugen, dass es noch andere Sichtweisen gibt, und Sie dazu zu bewegen, zumindest teilweise zuzulassen, diese Wahrheiten – oder vielleicht besser: Wirklichkeiten; im Sinne von dem, was etwas bewirkt – als mögliche Alternative zu akzeptieren.
Dazu möchte ich ein Beispiel zeigen: Welche Zahl sehen Sie hier? – Es kommt auf den Standpunkt an. Für den einen ist es ganz klar eine „6“, während der andere eindeutig die „9“ erkennt.
Eine gute Metapher, um die Ursachen zu verdeutlichen, weshalb menschliche Ressourcen ungenutzt bleiben: Man versucht zu lange, dem anderen klarzumachen, dass dessen Ansichten falsch sind, anstatt sich zu fragen, wie der Chef oder ein Kollege zu seiner Interpretation und damit zu seiner vollkommen anderen Wahrheit kommt. Oder es werden Aufgaben delegiert, für die der Mitarbeiter keine oder nur bedingt notwendige Ressourcen hat, weil die Mutmaßung des Vorgesetzten falsch ist und er seine Wahrheit betreffend der Möglichkeiten seines Teammitgliedes unterstellt.
Alles, was ich Ihnen vorschlage, sind Möglichkeiten, die erst dann zu konkreten Chancen werden, wenn sich diese mit Ihren persönlichen Erfahrungen und Vorstellungen zu einer Strategie verbinden und Sie entscheiden, in Zukunft diese neuen Erkenntnisse zu berücksichtigen.
Und noch etwas: Konflikte gehören zum Leben. Sie entstehen unweigerlich, weil Menschen unterschiedliche Wahrnehmungen, Sichtweisen und Werte haben. Konflikte sind also die Regel – nicht die Ausnahme. Doch die wenigsten von uns haben gelernt, Konflikte konstruktiv zu lösen. Viel häufiger versuchen wir, mit indirekten Konfliktstrategien zurechtzukommen, indem wir Konflikte nicht wahrnehmen, sie bagatellisieren, den anderen beschuldigen, das Ganze harmonisieren oder einfach weggehen.
Unterschiedliche Sichtweisen gibt es immer. Es ist nur eine Frage der Kommunikation, ob Sie bereit sind, Ihrem Gegenüber zuzuhören und mit ihm gemeinsam nach einer Lösung suchen. Sich die Zeit zu nehmen und Interesse daran zu haben, den Konflikt zu lösen und nicht mit Hilfe von Druck oder gar Erpressung Ihre Meinung durchzusetzen.
Eine Ursache für die Probleme im Zusammenhang mit der Psychosozialen Gesundheit sind auch die unterschiedlichen Sichtweisen von Führung und Mitarbeitern. Ich will hier nicht