Im Osten geht die Sonne unter: 10 Erzählungen aus der DDR-Zeit. Helen Braasch

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Im Osten geht die Sonne unter: 10 Erzählungen aus der DDR-Zeit - Helen Braasch


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verloren und musste ihn wohl noch einmal schicken lassen, diesmal an ihre Privatadresse.

      Schnell und leise schließt sie die Tür.

      Zurück in ihrem Zimmer, sperrt sie ihre Tür von innen ab und legt sich rücklings auf den Fußboden. Sie hat ein wenig Bauchschmerzen und versucht, sich zu entspannen. Dabei kreisen ihre Gedanken in einer Endlosschleife um das eine Thema: Ich muss es ihnen sagen, ja, ich muss. Aber sie hat Angst. Sie atmet tief durch und versucht, ihr Problem von außen zu betrachten. Den Sonderdruck hat sie längst vergessen. Als sie hier eingestellt wurde, hatte ihr Chef sie gefragt: „Wollen Sie sich noch Kinder anschaffen?“ Sie hatte das verneint. Nach Abschluss ihrer Doktorarbeit brauchte sie unbedingt eine Stelle. Ihr Mann studierte noch, und sie war die Haupternährerin der Familie. Sie hatte ja bereits einen Sohn. Doch der Wunsch nach einem zweiten Kind blieb. Sie hatte 16 Jahre lang mit sich selbst gehadert. Musste sie sich an das Versprechen ihrem Chef gegenüber halten? Es kam ihr wie eine Unehrlichkeit vor, ihre Aussage nicht einzuhalten. Und dann waren da noch die jährlichen Auslandsreisen (nach östlichen sozialistischen Ländern), auf die ihr Mann großen Wert legte und die eine Schwangerschaft immer unpassend erscheinen ließen. Und ihr Mann arbeitete in einer anderen Stadt, was es auch nicht leichter machte. Eine ausreichend große Wohnung haben sie immer noch nicht und auch keine Aussicht darauf. Jetzt aber war es passiert, jetzt war es gewollt, jetzt will Hela endlich ein zweites Kind! Ihr Mann will es auch. Ein Mädchen soll es sein. Sie erhoffen es.

      Noch weiß niemand von ihren Kolleginnen und Kollegen etwas über ihre Schwangerschaft. Noch nimmt keiner Rücksicht auf ihren Zustand, und noch scheut sie sich, ihr Geheimnis preiszugeben. Erst wollte sie sicher sein, keine Fehlgeburt zu erleiden. Immerhin hat sie die 40 schon überschritten. Jetzt oder nie, sagte sie sich. Ich will! Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg. Aber noch trägt sie lockere Kleidung, um die wachsende Frucht zu verbergen. Ihre Freundin hat ebenfalls in diesem Alter ein Mädchen geboren. Jetzt will sie unbedingt auch. Bevor es zu spät ist! Wenn es doch nur ein Mädchen würde!

      Hela schließt die Tür leise wieder auf. Niemand hat es bemerkt. Dann geht sie zur Toilette. Als sie zurück kommt, stehen einige Kolleginnen flüsternd auf dem Gang. Sie verschwinden sofort in den Arbeitsräumen, als sie Hela sehen. Die Pförtnerin, an der sie vorbei kommt, winkt Hela heran. Mit ihren strähnigen, schlecht frisierten Haaren wirkt diese etwas ungepflegt.

      „Ich möchte Sie etwas fragen“, spricht sie halblaut, „könnten Sie mir vielleicht 50.- Mark leihen?“

      Hela sieht sie sprachlos an. Borgen bringt Sorgen – geht ihr durch den Kopf. „Und wie wollen Sie das Geld zurückzahlen, wenn es vorne und hinten nicht reicht?“

      „Es ist bloß, ich habe jetzt so viele Ausgaben, und mein Mann verdient auch nicht viel, und jetzt hat er auch noch angefangen zu trinken, weil …“, die Pförtnerin senkt den Kopf.

      „Weil was?“, Hela schaut in das Gesicht der Frau, das blass ist und große Unsicherheit erkennen lässt. Sie ist 42 und ebenfalls schwanger, hat aber schon 3 Kinder. Sie ist schon viel weiter als Hela, und ein beträchtlicher Baby-Bauch wölbt sich unter ihrer einfachen Kleidung. Die Pförtnerin schweigt bedrückt.

      „Will er kein viertes Kind?“, fragt Hela.

      „Nein, es ist, es ist …“, die Pförtnerin zögert, und dann lässt sie es doch heraus: „Das Kind ist mongoloid, aber ich will es behalten, ich will nicht abtreiben.“

      Hela ist verblüfft. „Ist das sicher?“, fragt sie.

      „Ja, ich habe einen Test gemacht.“

      „Aber warum machen Sie einen Test, wenn sie das Kind ohnehin behalten wollen?“

      „Weil es mein Arzt empfohlen hat. Aber ich will es nicht abtreiben. Ich kann es nicht.“

      Hela vergisst, dass die Kollegin sie um Geld gebeten hat. Sie verschwindet abrupt und wortlos in ihrem Zimmer. Dort setzt sie sich auf einen Stuhl, und einen Moment lang ist ihr schwindelig. Diese Frau ist etwa so alt wie sie und erwartet ein Kind mit Down-Syndrom. Das sagt sie einfach so. Und was, wenn ich …? Wie oft passiert das denn? Sie weiß es nicht, aber der Gedanke lässt sie nicht mehr los. Sie weiß nur Eines: Mit dem Alter der Mutter nimmt die Wahrscheinlichkeit zu, ein Kind mit Down-Syndrom zur Welt zu bringen.

      Während des nächsten Besuches beim Gynäkologen spricht sie das Thema an. „Ich möchte eine Untersuchung auf Trisomie.“

      „Das geht zur Zeit nur durch eine Fruchtwasserpunktion, verbunden mit einem kurzen Krankenhausaufenthalt. Lassen Sie doch das arme Kind in Ruhe.“ Der Doktor schaut gleichmütig drein.

      Hela wendet sich dem Doktor verblüfft zu. „Aber ich bin 41, und eine Kollegin von mir bekommt … so ein Kind.“

      „Wenn Sie unbedingt wollen, schreibe ich Ihnen eine Überweisung.“

      Als Hela erleichtert geht, hat sie eine Überweisung und eine Krankschreibung für ein paar Tage in der Tasche. Sie will Gewissheit und ist fest entschlossen, das durchzuziehen. Ihr Mann nimmt es hin, ja, er findet es auch gut, Gewissheit zu haben. Ein Kind mit Down-Syndrom – das kann er sich nicht vorstellen. Telefonisch meldet sich Hela an und bekommt überraschend schnell einen Termin. Das Krankenhaus, in dem als einzigen diese Untersuchung in der DDR durchgeführt wird, befindet sich in einer anderen Stadt. Am Tag vorher soll sie im Krankenhaus anreisen und noch einen Tag nach der Untersuchung dort bleiben. Auf der Bahnfahrt schaut sie zwar aus dem Fenster, nimmt aber nichts wirklich wahr. Die Wälder fliegen vorbei, ohne dass sie die Bäume sieht. Sie muss immer wieder denken: hoffentlich passiert dem Kind nichts. Eine Angst löst die andere ab. Dennoch ist sie im Grunde guten Mutes. Sie wissen, was sie tun.

      Im Krankenhaus liegt eine junge blonde Frau im gleichen Zimmer wie Hela. Sie hat bereits ein Kind mit Down-Syndrom. Sie will das Risiko nicht noch einmal eingehen und schildert ihre Probleme. „Mein Junge hat einen angeborenen Herzfehler und ist sehr krankheitsanfällig. Er spricht auch schlecht. Na ja, und dann die üblichen Merkmale.“ Jetzt stoppt sie ihren Redefluss und weint. Hela leidet mit und fühlt sich durch die Zimmernachbarin noch einmal in ihrem Entschluss zu der Untersuchung bestärkt. Noch am Tag der Aufnahme findet ein ausführliches Gespräch des sympathischen Arztes mit ihr statt. Dieser schildert ihr die Risiken der Untersuchung, meint aber, alles wird sicher gut gehen. Er sei einer der ersten, die in der DDR diese Untersuchung durchführen und hat sich das Wissen in den USA angeeignet. Eine sehr kurze Narkose würde mit Lachgas erzielt. In seiner freundlichen und beruhigenden Art erweckt er Vertrauen bei Hela. Nach langem Redefluss macht er eine kurze Pause und kommt dann zu einem heiklen Punkt. Bei der Untersuchung würde sich zeigen, ob die Frucht männlich oder weiblich sei. Hela hört mit gespannter Aufmerksamkeit zu. „Kann man das erfahren?“

      „Leider nicht. Das Krankenhaus muss sich schützen. Es besteht eine geringe Irrtumswahrscheinlichkeit. Es ist vorgekommen, dass das Krankenhaus eine unrichtige Aussage machte. Die Mutter hatte dann bereits während der Schwangerschaft Kleidung für das Baby in der falschen Farbe eingekauft und verklagte nach der Geburt das Krankenhaus.“

      Hela ist verwundert und enttäuscht, sehr frustriert. So eine Geheimniskrämerei! Wie so manches, wird auch das in der DDR verdunkelt. Sie will doch endlich wissen, ob es ein Mädchen wird. Aber der Arzt bleibt fest bei seiner Ansicht, dass das Geschlecht bis zur Geburt ein Geheimnis bleibt.

      Am nächsten Tag findet bei Hela die Fruchtwasserpunktierung durch die Bauchdecke statt. Sie ist ein bisschen aufgeregt, aber alles geht schnell und gut, und durch die kurze Narkose hat Hela nichts gespürt. Den Befund wird sie später bekommen. Es lässt Hela keine Ruhe, dass sie das Geschlecht des Kindes nicht erfahren soll. So ein Versteckspiel! Andere wissen es, und ihr, der Mutter, wird es vorenthalten. Doch jedes Geheimnis birgt den Reiz der Entdeckung. Auch die Zimmergenossin, die ihre Punktierung ebenfalls gut überstanden hat, findet es ziemlich borniert, dass aus dem Geschlecht des Kindes so ein Mysterium gemacht wird. Beide beraten hin und her und beschließen, mit einer Krankenschwester darüber zu sprechen. Den widrigen Umständen setzen sie ihr Wunschdenken entgegen und übersehen dabei ganz, dass sie an eine Schwesternschülerin geraten, die ihnen ein Angebot macht:

      „Ich könnte versuchen, das Geschlecht des Kindes für Sie herauszubekommen,


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