Im Osten geht die Sonne unter: 10 Erzählungen aus der DDR-Zeit. Helen Braasch

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Im Osten geht die Sonne unter: 10 Erzählungen aus der DDR-Zeit - Helen Braasch


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Sie uns ein Telegramm mit folgendem Inhalt: ‚Er lässt Sie grüßen’, wenn es ein Junge ist, oder ‚Sie lässt Sie grüßen’, wenn es ein Mädchen ist. Wir werden uns dann bei Ihnen bedanken. Abgemacht?“

      „Abgemacht.“

      Die Zimmergenossin ist auch einverstanden, obwohl sie hauptsächlich auf das Ergebnis der Untersuchung zum Down-Syndrom wartet und das Geschlecht für sie nur zweitrangig ist.

      Erleichtert verlässt Hela am nächsten Tag das Krankenhaus und gibt sich einer Illusion hin, die sie monatelang verfolgen wird. Sie fährt mit dem Zug nach Hause und fühlt sich gut. Seltsamerweise glaubt sie zu fühlen, dass sie ein gesundes Kind unter dem Herzen trägt.

      Dennoch sieht Hela den Befunden und dem Telegramm mit großer Spannung und ein bisschen Angst entgegen. Sie arbeitet wieder, will aber den Befund abwarten, bevor sie im Institut etwas preisgibt. Dann ist es endlich so weit. Sie öffnet mit zitternden Händen das Telegramm. Wird alles gut sein? Es ist das Telegramm der Klinik. Der Befund ist da: Hurra, sie erwartet ein gesundes Kind! Über das Geschlecht des Kindes schweigt man sich aus. Hela ist trotzdem in Hochstimmung. Jetzt steht der Bekanntgabe ihrer Schwangerschaft nichts mehr im Wege. Die Geheimnistuerei hat ein Ende. Die werden Augen machen! Als erstes geht sie zur Kaderleiterin, die als Frau mit eigenen Kindern wohl etwas Verständnis aufbringen wird. Trotzdem, sie gehört zu denen, die andere bespitzeln, wenn ihr auch eine gewisse Menschlichkeit nicht abgeht. Sie ist eine Frau schon fortgeschrittenen Alters, gibt sich überrascht, aber zeigt oder heuchelt auch Freude, als Hela ihre Schwangerschaft offenbart. Das muss sie schließlich auch, denn der Staat braucht Kinder. Aber Hela wird mindestens ein Jahr ausfallen. Darüber wird jedoch jetzt nicht gesprochen. Als das Bekenntnis über ihre Lippen ist, fühlt Hela Erleichterung. Sie braucht weiter nichts zu tun. Wie ein Lauffeuer wird sich die Nachricht im Haus verbreiten. Da ist sie sicher. Hier wird gern getratscht. Ob denn das Telegramm mit der Nachricht ‚Er’ oder ‚Sie’ nun auch bald eintrifft?

      Lange braucht Hela nicht mehr auszuharren. Als ihr kurz darauf abermals ein Telegramm ausgehändigt wird, zittern ihr zum zweiten Male die Hände. Sie wünscht sich so sehr ein Mädchen! Die Spannung steigt ins Unermessliche, als sie das Telegramm öffnet. Und da steht es schwarz auf weiß: ’Er lässt Sie grüßen.’ Hela glaubt, ihr würde schwindlig. Sie setzt sich. Noch ein Junge! Ihr Mann versucht sie zu beschwichtigen, aber in ihrem Kopf hämmert es: Ein Junge, ein Junge. Wie kann sie nur so denken! Sagt man nicht immer: Hauptsache, das Kind ist gesund. Aber es hämmert: Ein Junge, ein Junge, kein Mädchen. Sie kauft noch gutes Konfekt und bedankt sich damit bei der Schwesternschülerin. Aber dieser Tag fordert sie noch mehr. Sie hat einen Vortrag zu halten, und während sie spricht, hämmert es fortlaufend in ihrem Kopf: Ein Junge, ein Junge! Sie hat die größten Schwierigkeiten, sich zu konzentrieren. Sie ist traurig und kann es kaum verbergen. Doch sie darf und will sich ihre Enttäuschung nicht anmerken lassen. Ihr Mann nimmt es gelassen. Dann eben noch ein Junge.

      Der Winter kommt, und Hela geht es besser. Alles ist in Ordnung mit ihrer Gesundheit und dem Kind, sie muss nur aufpassen, dass sie auf glattem Eis auf dem Weg zur Arbeit nicht hinfällt. Manchmal hakt eine Kollegin sie unter. Sie weiß nicht wirklich, wie die Kolleginnen und Kollegen ihre späte Schwangerschaft aufnehmen. Es wird eine Menge getuschelt. Was wohl? Sie will es nicht wirklich wissen. Scheinfreundlichkeit ist auch eine Art Freundlichkeit. Hela reist auch dienstlich, wenn notwendig, obwohl der Chef ihre Schwangerschaft zum Vorwand nimmt, sie von westlichen Kontakten fernzuhalten. Sind auf einer Veranstaltung Wissenschaftler aus Westdeutschland anwesend, wird ihr mit der Begründung Schwangerschaft die Teilnahme verweigert. Einmal umgeht sie das, nimmt ihren Haushaltstag und reist privat. Was denkt sich dieser Parteimensch von Chef, dass man nur im eigenen Sud kochen kann und trotzdem Ergebnisse bringt?

      Als es so weit ist, kann Hela sechs Wochen vor dem Geburtstermin daheim bleiben. Sie genießt diese wunderbare Zeit. Das Frühjahr sprießt wie die Frucht in ihrem Leib. Die Natur erwacht, der Schnee schmilzt, und die Tage werden länger. Friede zieht in ihr Gemüt ein. Sie hat sich mit dem Jungen abgefunden, wenn auch das Bedauern nicht ganz aus ihrer Seele gewichen ist. Sie will ihn lieb haben, nein, sie hat ihn schon lieb, den kleinen ungeborenen Jungen. Alles wird gut werden. Der Arzt entscheidet, sie wegen ihres Alters zwei Wochen vor dem Geburtstermin in die Klinik einzuweisen. Vorsicht schadet nicht. Aber für Hela ist das eine schrecklich langweilige Zeit. Schleppend ziehen sich die Tage dahin. Jeden Tag Untersuchungen, dabei sind ihre Laborwerte hervorragend. Musste das wirklich sein? Sie hilft in der Küche, um sich Bewegung zu verschaffen, läuft die Gänge im Krankenhaus auf und ab.

      Die junge Stationsärztin will die Geburt künstlich einleiten. Das passt in ihr Promotionsthema. Eine Woche vor dem Geburtstermin gewährt sie jedoch Hela einen Wochenendaufenthalt daheim. Hela kümmert sich um den Haushalt und geht fleißig im Park spazieren, begrüßt dort die Frühjahrsblüher und erfreut sich ihrer Familie. Am Montagmorgen jedoch, als die Rückkehr ins Krankenhaus bevorsteht, hat sie die ersten Wehen. Ihr Sohn bringt sie zur Station. Die junge Ärztin, die Hela betreut, ist regelrecht ärgerlich, dass die Wehen natürlich einsetzten. Sie wollte doch im Rahmen ihrer Doktorarbeit die Geburt künstlich einleiten. Vielleicht hatte sie sogar recht, denn die Wehen kommen nur zögerlich. Als es zu lange dauert, entscheiden sich die Ärzte, erst einmal Mittagessen zu gehen. Als sie nach einer Stunde zurück kommen, berichtet die Schwester ärgerlich: „Gerade mal drei Wehen hat sie in der Zwischenzeit gehabt.“ Hela kommt sich getadelt und herabgewürdigt vor. Hier mangelt es an Freundlichkeit und Unterstützung. Eine Entbindung nach der anderen. Stumpft das ab?

      Als nach weiteren Stunden und fast unerträglichen Schmerzen das Kind endlich da ist, sinkt Hela erschöpft zurück. Das Kind gibt einen Schrei von sich. So muss es sein. Der Arzt, der inzwischen anwesend ist, legt ihr das Kind nicht auf den Körper, eine übliche Verhaltensweise in Geburtenkliniken der DDR. Es wird den Schwestern zum Waschen und Ankleiden übergeben. Inzwischen wird Hela nach dem Namen für das Kind gefragt. Sie zögert.

      „Wollen Sie denn gar nicht wissen, was es ist?“, fragt der Arzt.

      „Ich weiß es schon, ein Junge“, antwortet Hela.

      „Und woher wissen Sie das?“

      Hela erzählt dem Arzt die ganze Geschichte, während er ihr einen vorsorglich durchgeführten Dammschnitt näht.

      „Sie vertrauen einer Schwesternschülerin? Unglaublich! Es ist ein Mädchen!“

      Hela ist fassungslos. Ein Mädchen! Ein Mädchen! Ihr Wunsch geht in Erfüllung, nachdem sie all die Monate an einen Jungen geglaubt hat, manchmal sogar darunter gelitten hat. Der Arzt will den Namen der Schwesternschülerin wissen. Hela kann im Angesicht ihres Glückes niemanden anklagen und gibt nichts preis. Das Kind erhält sofort ein Armband mit seinem Namen. Verwechslung ausgeschlossen! Hela hält es kurz in ihren Armen, dann bringt man es ins Kinderzimmer der Station. In ihren sterilen Bettchen schreien die Kinder dort vergeblich nach der Mutter. Hela wird auf einem Rollstuhl zur Station gefahren. Alle überstandenen Schmerzen verlieren an Bedeutung. Ihr Mann wartet schon, und als erstes erfreut sie ihn mit dieser umwerfenden Nachricht: Ein Mädchen, ein Mädchen!

      Am zweiten Tag nach der Geburt ein großer Schock. Die Säuglinge, die zu DDR-Zeiten getrennt von den Müttern gebettet sind, werden zum Stillen zu den Müttern gebracht. Auf einem Wagen rollen sie, wie Brote nebeneinander geschichtet, an. Hela’s Kind fehlt.

      „Wo ist mein Kind?“ Kindesdiebstahl und Menschenhandel – gibt es das wirklich? Hela ist außer sich. Oder lebt ihr Kind nicht mehr? Angst durchflutet sie.

      „Wir haben es wegen Neugeborenen-Gelbsucht in die Kinderklinik gebracht“, erfährt sie von der Schwester.

      „Was? Ohne mich zu informieren? Ich verlange meine sofortige Entlassung. Und bestellen Sie mir ein Taxi!“ Hela ist empört, aber verliert die Fassung nicht. Kontenance bewahren! Die Sehnsucht nach ihrem Kind ist übermächtig. Eine übernatürliche Kraft scheint in ihr zu wachsen. Sie setzt sich durch. Nach Erledigung aller Formalitäten schleppt sie sich mit ihrem Gepäck zum Ausgang, besteigt das Taxi.

      Die Sonne geht schon unter, als sie die Kinderklinik erreicht. „Wo ist mein Kind?“

      Ihr kleines Mädchen liegt nackt und


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