Das Akkordeonspiel. Gerald Netsch

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Das Akkordeonspiel - Gerald Netsch


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auch mal wieder den Wischlappen schwingen!“, steigert sich Papa immer weiter hinein.

      „Den Wischlappen hau ich dir gleich in deine dämliche Fresse. Du denkst wohl, ich dreh den ganzen Tag Däumchen?“, wirft sie erregt zurück. „Ich gehe auch arbeiten, solltest du das vergessen haben. Die ganze Woche von sechs bis drei. Ich steck mit den Händen im kalten Wasser, wasche Därme aus, damit du am Abend Wurst fressen kannst, so sieht es aus, du Blödmann. Kannst ja auch mal etwas im Haushalt machen. Warum muss das alles auf meinen Schultern lasten?“, keift sie und weiter: „Hast du deine Mutter nun endlich gefragt, ob sie den Kleinen nehmen? Die sitzt den ganzen Tag zu Hause und könnte uns mal helfen. Der ist doch sowieso lieber bei denen.“

      Ein kurzer Blick von ihr trifft mich wie ein Blitz. „Die wollen mich weggeben, einfach so“, hämmert es in meinem Kopf. „Was hab ich denn getan? Der Große haut mich doch immer. Warum geben sie den nicht weg? Ist doch auch nicht der Sohn vom Papa“, schießt es mir durch mein Gehirn. Verzweifelt schaue ich abwechselnd zu den beiden. Mein Blick schwenkt im Raum wie das Licht vom „dicken gelben Leuchtturm“ aus meinem Lieblingsbuch. Ich bekomme keine Antworten. Traurig kauere ich mich auf dem Sofa zusammen. Ich habe mit der Welt abgeschlossen, denn niemand mag mich.

      Susanne hat die Decke auf dem Bett etwas zur Seite gezogen. Sie will Karl näher sein als auf dem Stuhl neben dem Bett. Wieder und immer wieder küsst sie seine Stirn, die Wangen, die trockenen Lippen. Sachte streicht sie ihm die Haare hinter das Ohr. „Ganz schön lang geworden“, denkt sie.

      „Du musst mal wieder zum Friseur, siehst ja schlimm aus. Nun beeil dich, dass du hier raus kommst aus dem Bett“, appelliert sie.

      Natürlich ist klar, dass keine Reaktion zu erwarten ist. Schon gar nicht, dass Karl plötzlich aus dem Bett springt und zum Friseur rennt. „Aber ich kann es ihm mal sagen, vielleicht hilft es“, redet sie sich ein.

      „Deinen Chef habe ich richtig gemocht. Wenn der einen so ansah, mit den kleinen fröhlichen Augen, wenn er sich wieder etwas ausgedacht hatte, um die Frauen zu beschenken. Er war schon lieb. Einmal, weißt du noch, hatte er die großen Einkaufsbeutel aus Italien verteilt, und erst die Regenschirme! Da ist er extra hoch in sein Zimmer gegangen, hat fünf Stück heruntergebracht zur Auswahl. Ein Gentleman war er, ganz von der alten Schule, immer höflich, aufmerksam, sprühend vor Komplimenten. Er hat ein gutes Leben gelebt, denke ich, und hat sich für seine Firma aufgeopfert. Du auch, nur hast du nichts davon gehabt. Hast geackert von früh bis spät, dir noch Arbeit mit nach Hause genommen, als gehöre dir die Firma. Andere haben Dienst nach Vorschrift gemacht, nur der Karl war 24 Stunden erreichbar. ‚Das musst du verstehen‘, hast du mir immer gesagt. ‚Das ist wichtig für die Firma, das macht es aus im Vergleich zu anderen.‘ Ich habe das nie begriffen. Aber, mein Lieber, reden darüber war zwecklos. Du warst so überzeugt vom Dienst an der Sache, wie du schon immer gewesen bist. Wenn du nicht gerade mal fremdgegangen bist. Oh, entschuldige, das war unfair. Ja, wieso eigentlich? Bist doch ständig fremdgegangen. Na gut, während unserer Zeit nicht mehr so viel, aber es war trotzdem noch eine ganze Menge. Und vor meiner Zeit, das war ja schon krankhaft. Keine Frau war vor dir sicher, die nicht bei drei auf den Bäumen war. Ja, das willst du nicht hören. Das war aber so. Denke nur an unser Haus. Zu Sieglinde bist du ein paar Mal in der Woche gekrochen. Ich habe es meistens mitbekommen, wenn du so sachte an ihre Wohnungstür geklopft hast.

      Deiner Frau hast du weisgemacht, ein Melder wäre gekommen, um dich zu benachrichtigen. Sie hat dir das auch abgekauft, hat dir noch Schnittchen geschmiert und mitgegeben. Du hast dein Fahrrad genommen, bist losgeradelt, als würdest du die Friedensfahrt gewinnen wollen. Bis zur nächsten Ecke, wo du außer Sichtweite warst, dann bist du auf der Hofseite zur Waschhaustreppe zurück, das Fahrrad ab in den Keller. Auf Socken hast du dich ins Treppenhaus geschlichen, vorbei an deiner Wohnung hoch zu Sieglinde. Das habe ich nie kapiert, wie abgebrüht du gewesen bist. Weißt du noch, der Hausfasching im Waschhaus? Du als Mönch bist zu Conni als Nonne und ihr an die Wäsche gegangen. Als das nicht klappte, hast du es bei mir versucht. Hast aber auf Granit gebissen, genauso wie eines Abends, als du bei Sieglinde nicht gelandet bist. ‚Ich zerre dich an den Haaren zu deiner Frau runter und schmeiße dich ihr vor die Füße‘, habe ich dir wütend durch die Tür gerufen. Schleunigst verzogen hast du dich. Ich hab mich immer gefragt, ob du dich nicht geschämt hast für das Niederträchtige, was du deiner Frau, aber auch vielen anderen angetan hast? Einige Male saßen wir auf der Bank vorm Haus, wenn unten im Keller gefeiert wurde. Unterhalten konnten wir uns hervorragend. Das hat wirklich Spaß gemacht. Oft war es tiefgründig, wir haben versucht, die Ehen zu analysieren. Da hattest du mir das erste Mal gesagt, dass das mit den Frauen ein Trieb sei, den du dir nicht erklären könntest. Oft würdest du gar nicht wollen, könntest aber nicht anders. Das Verlangen nach Frauen, Sex oder nur Zärtlichkeit wäre stärker als die Vernunft. Ich habe es damals nicht begriffen, außer dass ich es unwillkürlich mit einer ständigen Jagd nach Trophäen, mit Inbesitznahme verglich, was aber auch keinen Sinn ergab.“

      Susanne unterbricht ihren Monolog über die lange zurückliegende Zeit. Sie macht sich Gedanken über den Sinn dieser einseitigen Unterhaltung. „Was soll ich denn noch erzählen, was wir nicht schon wissen?“, spricht sie insgeheim zu sich. „Die gemeinsamen 34 Jahre waren wahrlich schwierig. Da hat es große Enttäuschung gegeben, Verletzungen, Kränkungen, die tiefe Risse in der Ehe hinterließen, die zwangsläufig zur Scheidung führen mussten. Warum sind wir trotz alledem noch zusammen, was ist das Besondere, was das Band unserer Ehe zusammengehalten hat?“, beginnt Susanne zu grübeln. „Nein, heute will ich nicht darüber nachdenken. Ich habe genügend Schmerz in den letzten Wochen durchlebt. Ich bin noch unwillig, dieses Lebensbuch und seine Kapitel aufzuschlagen“, bricht sie endgültig den Gedankengang ab.

      Ein Ruck geht durch ihren Körper. Sie strafft die Schultern, setzt sich ganz gerade auf die Bettkante und streicht über Karls Hand. Geraume Zeit bleibt sie so sitzen. Längst tun ihr Hand, Arm und Rücken weh. Eine Weile hat sie den Schmerz verdrängt, nicht wahrgenommen, war zu sehr darauf konzentriert, ihren Lebensimpuls von der einen auf die andere Hand zu übertragen.

      Gerade will sie sich aus dieser körperlichen Zwangslage befreien, als Dr. Meissner hereinschaut. Er muss sie durch die große Glasscheibe vom Nachbarzimmer aus gesehen haben.

      „Wie geht es Ihnen, Frau Nebel?“, fragt er, nicht hoffend auf eine ehrliche Antwort.

      Zu gut kennt er solche Situationen, wenn ein schwer Verunglückter, ein lieber Angehöriger, oft der Lebenspartner, hilflos im Bett liegt. Viel Leid hat er schon gesehen, solange er auf dieser Station tätig ist.

      „Es geht so“, antwortet Susanne kraftlos. „Herr Doktor, wie geht es meinem Mann, gibt es etwas Hoffnungsvolles, hat er Fortschritte gemacht?“, fragt sie mit zunehmender Aufregung in der Stimme.

      Sie wünschte sich so sehnsüchtig, endlich Positives zu erfahren. Zu hören, dass es aufwärts geht. Besserung zu erwarten ist.

      Dr. Meissner kann ihren Wunsch an den Augen ablesen, erkennt den Funken Hoffnung auf dem Gesicht, doch er kann keine positive Nachricht geben. Nichts hat sich verändert. Keiner der Werte deutet auf eine Aufwachphase hin. Und wie so oft bleiben ihm nur die Standardphrasen, das Allgemeine, das nicht taugt als Strohhalm, daran sich klammern zu können.

      „Nein, Frau Nebel, es gibt nichts, was uns aus medizinischer Sicht Hoffnung macht. Ein schweres Schädel-Hirn-Trauma lässt sich nicht von heut auf morgen kurieren. Da ist viel Geduld nötig. Ihr unermüdlicher Beistand am Krankenbett ist aber ein sehr wichtiger Baustein auf dem Weg zurück ins Leben. Die Hoffnung müssen Sie sich bewahren, täglich neu aufbauen und niemals aufgeben. Vertrauen Sie mir, Frau Nebel, bestimmt wird der Tag kommen, an dem Sie Ihren Mann wieder wach in die Arme schließen können. Wir werden alles tun, was in unserer Macht steht, doch hier in der Klinik sind uns Grenzen gesetzt. Wir wollen Herrn Nebel nach Bad Aibling verlegen. Dort, in der großen neurologischen Spezialklinik, können Fachärzte für Neurologie in Zusammenarbeit mit Internisten und Intensivmedizinern alle bekannten neurologischen Krankheitsbilder behandeln“, erklärt er ihr einfühlsam und mit Betonung auf jedem Wort, um nicht noch zusätzliche Ängste zu wecken.

      Jetzt rinnen


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