Die unverhoffte Genesung der Schildkröte. Marc Bensch
Читать онлайн книгу.einer von ihnen zum Mittagessen Knoblauch gespeist, der andere hätte es garantiert gerochen.
»Wie viele Giraffen auf der Welt quälen sich aktuell mit einer Bindehautentzündung herum?«
Sebastian Vogt verzog keine Miene. »Da müsste ich mich erst schlau machen.«
»Was glauben Sie denn?«
»Dass Ihnen niemand diese Frage korrekt beantworten kann. Aber war Ihnen bewusst, dass fast alle Giraffen bisexuell sind?«
Hermann Liebenich verzog keine Miene. »Warum, glauben Sie, haben unsere Liebx3-Lautsprecher so häufig Störungen und generell eine so kurze Lebensdauer?«
»Haben sie das?«
»Lesen Sie denn keine Produktbewertungen im Internet? Wir produzieren praktisch Schrott. Unbrauchbaren Klump.«
»Wir wissen doch beide, was von Bewertungen im Internet zu halten ist. Und wenn einer der renommiertesten Autobauer weltweit seit Jahren auf Ihre Freisprecheinrichtungen und Lautsprecher vertraut, spricht das doch für sich.«
»Wir wissen doch beide, wie schnell auch das Renommee des renommiertesten Autobauers verblassen kann.«
»Und genau deswegen ruhen Sie sich ja auch nicht auf Ihren Lorbeeren aus, sondern investieren in Innovation. Glauben Sie mir, würde ich mir Sorgen um Ihr Renommee machen, ich hätte mich nicht bei Ihnen beworben.«
Hermann Liebenich lehnte sich zurück. Sein Lächeln war für Sebastian Vogt nicht zu deuten, aber er lächelte mit. »Ihnen ist bewusst, dass es sich bei Ihrer Stelle um eine befristete handelt, Herr Mayer?«
»Ein Jahr ist eine lange Zeit, Herr Dr. Liebenich. Da kann sehr vieles passieren.«
»Sie täuschen sich. Ein Jahr verfliegt. Aber diese Naivität schreibe ich Ihrer Jugend zu. Und nun erzählen Sie mir«, er blickte über seine rechte Schulter, »erzählen Sie uns, Herr Mayer, mit welcher Pressekampagnen-Idee Sie unser lahmendes Geschäft wieder in Galopp bringen möchten.«
Sebastian Vogt alias Ludwig Mayer erzählte.
Sebastian Vogt alias Ludwig Mayer bekam den Job, obwohl die Pressesprecherin und die Personalleiterin beide eine andere Kandidatin für geeigneter hielten, den Wunsch des Bosses aber akzeptierten – ohne zu ahnen, dass der einfach nur herausfinden wollte, woher er den jungen Mann kannte, ohne ihn fragen zu müssen.
Sebastian Vogt alias Ludwig Mayer kehrte einige Wochen später an den Ort seines Verbrechens zurück, bezog sein winziges Büro, blätterte in Compliance-Richtlinien, klickte sich durchs Intranet, saugte Informationen auf und malte sich währenddessen nur eines aus: Wie es sich anfühlen würde, die Existenz von Hermann Liebenich unwiederbringlich zu zerstören.
Kapitel drei
Die Polizeireporterin gähnte. Es hatte einen Mord gegeben. Eine halbe Stunde nach Redaktionsschluss. Oder fünfzehn Minuten vor Chopsuey, wie sie quäkend lamentierte. »Ich stand schon vor der verdammten Theke, als dieses Scheißdiensthandy meinte, bimmeln zu müssen.«
Paul Gram unterdrückte ein Schmunzeln. Er lümmelte in seinem Stuhl, die langen Haxen unter dem Konferenztisch ausgestreckt, wirbelte seinen Lieblingsstift von Finger zu Finger und starrte die Sitznachbarin ununterbrochen an, um herauszufinden, ob er sie, die Motzende, irgendwie aus dem Konzept bringen könnte, vielleicht sogar zum Lachen.
Kampfzwerg lautete in der Redaktion der heimliche Spitzname der sehr kleinen, sehr zierlichen Gestalt Ende vierzig, die rumpeln konnte wie eine Dampflok. Ihre dunklen Locken schleuderten dann hin und her wie Pogotänzer im Drogenrausch. Die Vorstellung, ausgerechnet dieses Fräulein berichte über böse, schwere Buben, amüsierte die Menschen. Allerdings längstens so lange, bis sie ihnen entgegentrat. Die Wenigen, die wie Paul Gram ihr wahres Ich kannten, zogen sie für ihre Attitüde gelegentlich auf.
»Dafür ist ein freier Tag fällig, ich sag’s dir«, raunte sie in Richtung des Ressortleiters.
Paul Gram pikste sie unbemerkt von den anderen unterm Tisch in die Hüfte. Sie revanchierte sich mit einem zielsicheren Tritt gegen sein Schienbein, ohne ihn eines Blickes zu würdigen. Stattdessen funkelte sie weiter den Ressortleiter an.
Der aber ging nicht auf die Forderung ein. Er hielt sich an seinem Tablet fest und tat so, als würde er ein weiteres Mal ihren Bericht studieren, der seit halb sechs online stand, mit heißer Nadel gestrickt für die Frühaufsteher unter den Lesern und diejenigen, deren erste Tat des Tages der Griff zum Smartphone war.
Auf dem Tisch lagen frisch gedruckte Ausgaben der Zeitung, fast alle unberührt. Paul Gram konnte es nicht ertragen. Er schnappte sich eine, ließ es rascheln, schlug das Blatt auf und faltete es sich zurecht. Er hatte den Sportteil ohnehin noch nicht gelesen.
Wie jeden Morgen kamen die Lokalredakteure der auflagenstärksten Tageszeitung im Umkreis von hundert Kilometern zur Besprechung und Blattplanung in einem fensterlosen Raum zusammen, den jeder nur »das Loch« nannte – jeder bis auf den Ressortleiter. Zu viel Ablenkung schade der Produktivität, pflegte der zu posaunen, wenn er irritierten neuen Mitarbeitern ganz ernsthaft zu erklären versuchte, warum er die kurz nach der Jahrtausendwende ausrangierte Dunkelkammer als Konferenzzimmer so schätzte. Ein paar gerahmte Titelseiten glorreicher Tage und zwei einsame Urkunden errungener Journalistenpreise zierten die ansonsten kahlen Wände. Wer wie Paul Gram zumindest die letzten Ausläufer der alten Zeiten erlebt hatte und sich anstrengte, dem stieg die Erinnerung an Chemie und die gespannte Ungewissheit des Entwickelns in die Nase und zu Kopf. Alle anderen mussten mit dem überbordenden Karamellduft Vorlieb nehmen, den die miesepetrige Redaktionsassistentin versprühte.
»Gute Arbeit, vielen Dank für deinen Einsatz«, nuschelte der Ressortleiter schließlich und versuchte es mit einem Lächeln, gegen das sich die Polizeireporterin immun zeigte.
»Ich finde, wir sollten über den Tatverdächtigen sprechen«, mischte sich der Volontär ein. »Wir haben jetzt schon ein Dutzend Leserkommentare, weil wir angeblich Informationen unterschlagen. Der Typ, den sie festgenommen haben, ist ja wohl ein Flüchtling.«
Die Polizeireporterin seufzte. »Vernommen haben sie ihn, nicht festgenommen. Er ist offiziell kein Beschuldigter.«
»Aber die Konkurrenz hat …«, setzte der Volontär erneut an. Er war ein Kerl mit langen, schwarzen Haaren, die ständig sein halbes Gesicht verdeckten, ohne dass sie seine geisterhafte Blässe oder sein unkontrollierbares Akne-Problem verschleiern konnten. Paul Gram vermutete, der Volo zähle zu der Art Mensch, die es liebte, gehasst zu werden, weil er darin ein untrügliches Zeichen sah, in den Augen der anderen eine Bedrohung darzustellen. Dabei war er einfach nur furchtbar altklug und überheblich.
Die Polizeireporterin ließ ihn nicht aussprechen. »Ich bin vielleicht altmodisch, aber ich halte mich an Fakten. Punkt. Und jetzt muss ich los zur PK.«
»Gut, du schaffst doch die Online-Aktualisierung bis um zwei, oder? Und die Aufmacher-Reportage morgen, ja?«
Der Ressortleiter war ein Meister darin, Fragen wie Aufforderungen klingen zu lassen. Seine rasende Reporterin ließ die Tür zum Loch ins Schloss krachen, ohne vorher eine Antwort zu geben.
Kaum war sie draußen, schmückte ein Grinsen sein Gesicht. »So oder so. Die neuesten Klickzahlen sind fantastisch.« Das gesagt, schnappte er sich eine Zeitung und blätterte rasch. »Okay, hat noch jemand was zur heutigen Ausgabe? Nicht? Gut. Was machen wir morgen sonst noch?«
Einige schläfrige Kollegen zuckten hoch, als die schrille Stimme der Lifestyle-Beauftragten den Raum erfüllte.
»Im Zoo stellen sie heute die neuen Löwenbabys vor«, rief das Redaktionsnesthäkchen. Seit mittlerweile eineinhalb Jahren vernachlässigte die dauerbeschäftigte freie Mitarbeiterin ihre Magisterarbeit zugunsten ständiger Spät- und Wochenendschichten. Die Aussicht auf ein Volontariat hatte das bislang nicht verbessert. Eine flotte Schreibe und ihre quietschfidele Art zeichneten sie aus. An diesem Vormittag jedoch hatte Paul Gram den Eindruck, als sei sie unsicher und nervös. Immer wieder suchte sie den Augenkontakt mit dem Ressortleiter, der das genauso konsequent ignorierte wie