Die unverhoffte Genesung der Schildkröte. Marc Bensch

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Die unverhoffte Genesung der Schildkröte - Marc Bensch


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wollte aber nicht warten, bis seine Zeit käme. Schon früh übte er sich darin, Gefühle zu unterdrücken, weil er glaubte, das sei eine wichtige Voraussetzung für einen Job bei der Polizei. Zu seinem eigenen Stolz gelang ihm das wunderbar. Bestärkt bewarb er sich für die Ausbildung zum gehobenen Dienst in der Hauptstadt, die weit genug von seinem Elternhaus entfernt lag und obendrein der Ort sein musste, an dem die Arbeit am spannendsten war. Auf den Eignungstest bereitete er sich mit eiserner Disziplin vor.

      Wenige Wochen später wedelte er seinem verdutzten Vater mit der Zulassung vorm Gesicht herum. »Lachst du jetzt immer noch?«

      Es war der glücklichste Tag seines Lebens.

      Den glücklichsten Tag seines Lebens aber hinter sich zu wähnen, wurde für ihn zur Qual. Vergeblich wartete er darauf, dass ein noch glücklicherer kam und den alten ablöste. Er wartete immer panischer, der Mensch zehrt schließlich von der Hoffnung auf mehr. Gern hätte er behauptet, der Tag seiner Hochzeit sei der glücklichste seines Lebens gewesen. Schließlich hob man gemeinhin diesen Tag auf ein Podest, was viel über das Nachfolgende aussagte: die Ehe also. In der konnte es demnach ja nur noch bergab gehen – was in seinem Fall auch zutraf. An seinem Hochzeitstag war er erfüllt von Liebe zu der Frau, deren Namen er sogar annahm. Freilich war das vor allem ein Seitenhieb, nein: ein Schwinger, gegen seinen Vater, dessen Familiennamen er nicht mehr tragen wollte und auch nach der Scheidung nicht zurücknahm. Doch der glücklichste Tag seines Lebens ? Nein, dieses Prädikat erreichte der Hochzeitstag nicht. Und auch nicht der Geburtstag seiner Tochter, deren Nabelschnur er durchschneiden durfte. Noch so ein Kandidat, noch so eine Enttäuschung, denn beide Tage und die vielen anderen, die das Potenzial besaßen, als glücklichster in seinem Leben zu gelten, hatten alle nur eines gemeinsam: den deprimierenden Gedanken, sich das noch eine Spur emotionaler vorgestellt zu haben.

      All das kam ihm in den Sinn, während er den Hinterausgang des Wohnhauses anstarrte und Pistazien in sich hineinstopfte, bis auch seine zweite Großpackung verbraucht war und die Überbleibsel der vernichteten Kerne im Fußraum rechts neben ihm einen Hügel beträchtlichen Ausmaßes bildeten.

      Drei Stunden später wartete Matthias Caspar noch immer vergebens, mittlerweile nicht nur allein auf die Zielperson, sondern auch auf seine Ablösung, die ihn ebenfalls hängen ließ. Er saß in seinem Wagen und kontrollierte alle sechzig Sekunden sein Handy, ohne eine Nachricht vom säumigen Kollegen zu finden. Seine rechte Hand steckte in seiner Hose und er wackelte hin und her, bis er es irgendwann nicht mehr aushielt. Er schnappte sich die leergetrunkene Wasserflasche neben dem Pistazienhügel und gab sein Bestes, nicht daneben zu pinkeln.

      Hinterher fühlte sich Matthias Caspar zwar erleichtert, glaubte nun aber, das Autodach seines Autos müsse ihm jede Sekunde auf den Schädel fallen. Erneut, zum dritten Mal, sah er den Jogginghosenträger eine qualmen. Von der Zielperson fehlte nach wie vor jede Spur.

      Es war ausgeschlossen, dass sie ihre Wohnung verlassen hatte, also saß sie wohl tatsächlich drin, lag womöglich sogar im Bett, ausnahmsweise wirklich krank. Der Chef des Elektrikers hatte Matthias Caspars Detektei beauftragt. Mehrfach hatte sich sein Arbeitnehmer krankgemeldet und war am dritten Tag wieder putzmunter in den Betrieb marschiert, gerade rechtzeitig also, um kein Attest wegen Arbeitsunfähigkeit abliefern zu müssen. Dann war dem Handwerksmeister auch noch zu Ohren gekommen, sein Mitarbeiter arbeite auf eigene Rechnung bei den Kunden, die sich nach einem Kostenvoranschlag nicht wieder gemeldet hatten. Ihn auf frischer Tat beim Blaumachen oder bei der Schwarzarbeit zu erwischen, im besten Fall bei beidem, so lautete die Aufgabe für Matthias Caspar und seine Mitstreiter.

      Nun deutete vieles darauf hin, dass der Auftraggeber eine Fehlinvestition getätigt hatte.

      Früher, als Leiter von Einsätzen zur Beweissicherung bei der Polizei, hatte er jedes Mittel des Gesetzes ausgeschöpft und war manchmal, wenn sich mit Gefahr im Verzug argumentieren ließ, auch einen winzigen Schritt weitergegangen, um einen Verdacht zu erhärten. Als Detektiv, so war seine Annahme gewesen, spielten diese rechtlichen Korsetts eine untergeordnete Rolle, gehörte es doch für einen Schnüffler zum guten Ton, sich im Schatten der Legalität zu bewegen.

      Das Gegenteil aber war der Fall. Matthias Caspars Chef ließ keine Gelegenheit aus, seinen Untergebenen einzubläuen, Persönlichkeitsrechte der Zielpersonen ja zu beachten und bloß keine krummen Dinger mit GPS und dergleichen zu drehen. Der gute Ruf der Detektei stünde schließlich auf dem Spiel.

      Ja wirklich, das Leben als Privatdetektiv hatte sich Matthias Caspar anders vorgestellt.

      Um seinen Observationsbericht zu schreiben, fuhr er nach einer weiteren ereignislosen Stunde in die Detektei. Sie lag in einem vollverglasten Businesscenter in der Innenstadt. »Transparenz ist gut fürs Geschäft«, wurde der Chef nicht müde zu betonen, ein drahtiger Endfünfziger, den man selten lächeln sah und der noch seltener in diesem transparenten Büro anzutreffen war, weil er entweder selbst einem Fall nachging oder auf einen neuen Ultramarathon trainierte.

      Wenigstens verfügte das Businesscenter über eine Tiefgarage. Das ersparte Matthias Caspar die Mühe, sich im Regen aus seinem Auto zu schälen. Er nahm den Aufzug in die siebte Etage, die komplett der Detektei vorbehalten war. Wie üblich an einem Samstagabend war sie die einzige, auf der Menschen arbeiteten, die keinem Reinigungsunternehmen angehörten. Oben angekommen bog er links ab und durchquerte einen Gang, an dessen Seiten nicht wenige der von schmalen Lichtkegeln erhellten Kojen besetzt waren. Die Kollegen überboten sich gegenseitig in der Geschwindigkeit des Tastaturhackens. Viele drängte es nach Hause, zu Partner und Kind. Oder zumindest weg von diesem Ort, an dem es bestialisch stank, weil irgendein Depp wieder Essen vom Asiaten um die Ecke eingeschmuggelt hatte.

      Matthias Caspar kam nicht bis zu seinem Arbeitsplatz. Die Assistentin des Chefs hielt ihn auf.

      »Matthias, warte mal bitte.«

      Er drehte sich um. Überrascht. Erwartungsfroh. Sie war Ende zwanzig und überragte ihn um wenige Zentimeter. Das bedeutete, dass er, wenn er geradeaus schaute, praktisch immer genau auf die beiden winzigen Muttermale in ihrem Gesicht blickte, die er zu gern küssen wollte, eines unter ihrem linken Mundwinkel, das zweite rechts neben ihrem Nasenflügel. Die Schönheitsflecke verliehen ihr in seinen Augen einen besonderen Anreiz, aber er mochte eigentlich alles an ihr.

      Er mochte es, wenn sie auf den Spitzen ihres schulterlangen Haares herumkaute, sobald sie glaubte, unbeobachtet zu sein – unbeobachtet! In einer Detektei!

      Er mochte es, wenn sie beim Mittagsessen im Pausenraum den Mund verzog, weil sie wieder eine neue Diät ausprobierte, die sie schon am ersten Tag ankotzte. Sie hielt ihren Hintern für zu fett. Wenn sie von ihm davonlief und dieser Arsch in ihrer Jeans rhythmisch hin und her wogte, stellte er sich träumerisch vor, in ihn hineinzukneifen oder ihn sanft zu versohlen, ihr Einverständnis vorausgesetzt, versteht sich.

      Er mochte sogar ihre schnippische Art.

      »Was glotzt du denn so?«

      »Du hast doch mich gerufen.«

      »Ja, dein Vater hat angerufen. Du sollst dich melden, unverzüglich, egal zu welcher Uhrzeit.«

      Sie hielt ihm einen Zettel hin.

      Jetzt glotzte er wirklich. »Mein Vater? Bist du sicher?«

      Sie verdrehte die Augen. Wedelte mit dem Zettel. »Du bist der Privatdetektiv, nicht ich. Finde es heraus.«

      Und als sie davonlief, vergaß er völlig, ihr auf den Arsch

      zu starren.

      Gehe ich recht in der Annahme, dass du erraten hast, wer der Vater von Matthias Caspar ist?

      Ich hätte dir natürlich von Anfang an erzählen können, dass er ein Liebenich ist, aber ich wollte, dass du selbst dahinterkommst. Wo bliebe sonst der Spaß? Und außerdem: Wenn sich ein Mosaik Steinchen für Steinchen zusammensetzt, erkennen wir nicht nur die Schönheit des Ganzen, sondern auch die der Einzelteile. Und dir Schönheit, ja Wahrheit zu zeigen, ist meine Verpflichtung.

      Ich weiß, ich schulde dir eine Erklärung, wer ich bin und warum ich zu dir spreche. Ich sagte dir ja schon, dass ich dich durch diese Geschichte navigieren soll. Meine Aufgabe ist es, sicherzustellen, dass du


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