Die unverhoffte Genesung der Schildkröte. Marc Bensch

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Die unverhoffte Genesung der Schildkröte - Marc Bensch


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hinter seinen Referatsleitern und Verwaltungsmitarbeitern.

      Hermann Liebenich schaute auf die Uhr. Es war kurz vor sieben. Alles in ihm drängte danach, den Bürgermeister für Allgemeine Verwaltung anzurufen, aber er wusste, dass der an Freitagabenden gern mal einen über den Durst trank. Erst recht, wenn er gestresst war. Und wenn die vierte Gewalt das Rathaus mit Vorwürfen konfrontierte, die einzig auf ihn zurückfallen konnten, steckte er das sicher nicht leichtfertig weg. Zumal: Besonders nervenstark war ihm dieser Politbubi bislang nicht erschienen. Ein Anruf versprach demnach wenig Ertragreiches und wahrscheinlich war es sowieso sinnvoller, dem Bürgermeister von Angesicht zu Angesicht entgegenzutreten.

      Also sprang Hermann Liebenich auf und eilte ins Bad. Zu langes Grübeln galt ihm als Zeichen von Schwäche.

      Es war ein Jahr her, dass dem Boss von Liebenich Acoustics die Ausschreibung für die lukrative Neuausstattung aller Sitzungsräume des Rathauses und einiger Bezirksämter mit zeitgemäßer digitaler Technik auf den Tisch geflattert war und er beschlossen hatte, dass er sich einen solchen Auftrag nicht entgehen lassen konnte. Und wenn ein Hermann Liebenich beschloss, sich einen Auftrag nicht entgehen zu lassen, dann entging er ihm nicht.

      Es war in der Vergangenheit immer mal wieder notwendig gewesen, sich gewisser Mittel zu bedienen, die manche nicht gutheißen würden, aber diese Moralapostel waren entweder Versager oder Ahnungslose, im schlimmsten Fall beides. Jeder Macher von Rang wusste, dass man fraß oder gefressen wurde, immer wieder aufs Neue.

      Warum also sollte er, ein Leistungsträger, der Hunderte von Jobs geschaffen und erhalten hatte, der dafür sorgte, dass diese Menschen sich keine Sorgen um Nahrung, Kleidung und die Heizung im Winter für sich und ihre Familien machen mussten, sich dafür rechtfertigen, wenn er hin und wieder in gewisse Graubereiche abtauchte?

      Wirtschaftsspionage betrieben alle, die einen im Kleinen, die anderen im Großen. Und dass sich mit unschuldigen Geschenken oder kleinen Gefälligkeiten manchmal vieles erreichen ließ, war unter Geschäftsleuten seines Kalibers kein Geheimnis. Moralische Bedenken waren ein Luxus derer, die keine Verantwortung trugen.

      Schon in ihrem ersten Gespräch über die Sache hatte er dem Bürgermeister klargemacht, dass dieser Auftrag unbedingt an ein renommiertes Unternehmen in der Region zu gehen habe, auf keinen Fall an eines aus einer anderen Stadt oder gar dem Ausland. Es ginge schließlich auch um eine Koalition zugunsten des Wirtschaftsstandorts, für dessen Stärke er, Hermann Liebenich, jederzeit bereit sei zu kämpfen, zum Wohle aller Bürger ihrer schönen Region.

      Er kannte den Bürgermeister, einen für sein Amt sehr jungen und sehr blassen Schlacks mit völlig indiskutabler Minipli-Frisur, aus dem Tennisverein und von Veranstaltungen des Lions Clubs und hatte ihn – trotz dieser unsäglichen Blässe, die Hermann Liebenich als Manifestation mangelnder Durchsetzungskraft galt – als einen vernunftbegabten Menschen erlebt, der Win-win-Situationen erkannte. Einen Menschen, der keine Zweifel daran aufkommen ließ, in der Lage zu sein, Strippen gewinnbringend zu ziehen. Der aufsehenerregende Prozess seiner Berufung ins Amt, bei dem einige Vertreter des politischen Gegners das Zünglein an der Waage gespielt hatten, belegte das.

      Nur: Wie vorsichtig war der Bürgermeister bei ihrem gemeinsamen Projekt vorgegangen?

      Falls der Artikel auf ihren Deal anspielte, woran Hermann Liebenich wenig Zweifel hegte, konnte er mit felsenfester Sicherheit ausschließen, dass die undichte Stelle aus seinem Umfeld kam. In diesem Fall hatte es, anders als bei früheren Interventionen, bei denen Aktionen größeren Aufwands nötig gewesen waren, keine Eingeweihten bei Liebenich Acoustics gegeben. Das war seine Herzensangelegenheit, und er hatte sehr gründlich darauf geachtet, keine Spuren zu hinterlassen.

      Wie das auf Seiten des Bürgermeisters aussah, wusste er nicht – lag etwas außerhalb seines Einflussbereichs, pflegte er von den Verantwortlichen Resultate zu erwarten, nicht deren Lösungsweg zu hinterfragen. Womöglich hatten im Auswahlverfahren eindringliche Worte allein nicht ausgereicht, die anderen Jurymitglieder davon zu überzeugen, dass Liebenich Acoustics das wirtschaftlichste Angebot abgegeben hatte. Womöglich hatte der Bürgermeister Nebendeals laufen, für die er nun büßte – und Hermann Liebenich gleich dazu.

      Es führte kein Weg daran vorbei, dem Mann einen Besuch abzustatten und ihn zur Rede zu stellen. Also setzte sich Hermann Liebenich entgegen seiner eigentlichen Pläne in seinen Zweitwagen, fuhr ans andere Ende der Stadt und besorgte auf dem Weg beim Bäcker Brötchen, die noch so heiß waren, dass ihm die Verkäuferin empfahl, die Tüte offen zu lassen. Um ziemlich genau acht Uhr klingelte er an der Haustür seines Mitverschwörers.

      Es dauerte eine halbe Minute, bis der Hausherr auftauchte, in fleckiger Schlafanzughose und schlabberndem T-Shirt. Sein Kopf war leicht nach links gekippt, seine Augen klein. Doch die riss er in Sekundenschnelle auf, als er sah, wer vor ihm stand.

      Der Bürgermeister trat zur Seite, ließ Hermann Liebenich eintreten und unterschätzte beim Zuschlagen der Tür seine Kraft. Das Geräusch, als sie ins Schloss krachte, ließ den Hausherrn zusammenzucken.

      »Haben Sie den Verstand verloren, hier einfach so aufzutauchen?«, flüsterte er, als fürchte er, irgendjemand könnte sie belauschen.

      Seine Frau jedenfalls war nicht da, das war bekannt, die weilte seit zwei Wochen an der Küste, offiziell aus Kurgründen. Bei einem Zusammentreffen im Lions Club, der liebsten Gelegenheit erfolgreicher Männer, ihren Neid auf die noch erfolgreicheren und ihre Schadenfreude über Missgeschicke derselben zur Schau zu tragen, hatte man sich hinter vorgehaltener Hand über den wahren Grund der Abwesenheit ausgetauscht. Es hatte da einen Ausrutscher des Bürgermeisters mit einer aufstrebenden Parteigenossin gegeben, der die werte Gattin dazu bewogen hatte, fürs Erste bei ihrer Schwester abzutauchen.

      »Jetzt werden Sie mal nicht paranoid. Das hier ist kein Agentenfilm«, antwortete Hermann Liebenich und präsentierte die Brötchentüte. »Ich besuche einen Vereinskameraden und Strohwitwer und bringe ihm Frühstück vorbei. Eine völlig harmlose Sache.«

      »Ich nehme an, Sie haben heute schon Zeitung gelesen. Sonst wären Sie nicht hier. Also wissen Sie genau, dass Ihr Besuch alles andere als eine harmlose Sache ist.«

      Hermann Liebenich hielt sein Lächeln aufrecht. Einer musste ja einen kühlen Kopf bewahren. Er war etwa zehn Zentimeter kleiner als sein Gegenüber, doch der fahrige Politiker ließ seine Schultern derart hängen, dass sie sich praktisch auf Augenhöhe begegneten, rein körperlich gesehen. In jeder anderen Beziehung bestand für Hermann Liebenich keinerlei Zweifel, wer über wem thronte.

      »Lassen Sie uns doch erst einmal diesen unwirtlichen Flur verlassen und ins Esszimmer gehen«, schlug er vor und wartete die Antwort gar nicht erst ab, sondern verließ den unwirtlichen Flur. »Haben Sie Marmelade im Haus?«

      Der Zustand des Bürgermeisters besserte sich auch in der darauffolgenden Stunde kaum, was Hermann Liebenich im Sinne der Stadt darauf hoffen ließ, dass er nicht regelmäßig einer Krise wie dieser ausgesetzt war.

      Ja, er könne mit an hundert Prozent grenzender Wahrscheinlichkeit ausschließen, dass es in der jüngeren Vergangenheit einen zweiten vergleichbaren Fall gegeben habe, der Artikel müsse also auf ihre Vereinbarung abzielen.

      Und nein, er könne sich nicht erklären, wie der Journalist an seine Informationen gekommen sei, er zermartere sich schon die ganze Zeit den Kopf. Von der Minute an, in der er zunächst über den Flurfunk im Rathaus von den Vorwürfen erfahren habe, noch bevor der persönliche Referent des Oberbürgermeisters in sein Büro marschiert sei, um ihn offiziell zu unterrichten und sich strengen Blickes zu erkundigen, wie er sich eine solche Presseanfrage erkläre.

      Er konnte sie nicht erklären. Gegenüber dem Referenten nicht und sich selbst gegenüber noch weniger. Er habe eigentlich alle nötigen Vorsichtsmaßnahmen walten lassen.

      »Eigentlich! Und uneigentlich?«

      »Uneigentlich eigentlich auch«, stotterte der Bürgermeister und massierte sich die Stirn. »Ich kann mir wirklich nicht erklären, wie das passieren konnte. Das müssen Sie mir glauben.«

      Es war offensichtlich, dass sich Hermann Liebenich selbst der Sache würde annehmen müssen, dass es an ihm hängenbliebe


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