»Wir kriegen euch alle!« Braune Spur durchs Frankenland. Werner Rosenzweig
Читать онлайн книгу.der Zentrale der NEL nicht mehr aus. Er musste raus. Raus an die frische Luft. Ungeduldig wartete er auf den Anruf von Bernd Auerbach. Vor einer Viertelstunde hatte er sich unter die Kunden und Touristen auf dem Marktplatz gemischt. Die Angebote der Händler und das Treiben der Touristen und Einkäufer interessierten ihn nicht. Er wartete nur auf drei banale Worte, die in den Telefonhörer einer öffentlichen Telefonzelle am Nürnberger Hauptbahnhof gesprochen werden sollten. Sie würden ihm Gewissheit verschaffen, dass die Sache geklappt hat: »Oh, Entschuldigung, verwählt.« Auf diesen kurzen Satz wartete er voller Ungeduld und Nervosität. Er sah erneut auf seine Armbanduhr. Zehn Minuten nach neun Uhr. Vielleicht war Bernd Auerbach noch auf der Suche nach einer öffentlichen Telefonzelle? Vielleicht waren gerade alle besetzt? Vielleicht war ein unvorhersehbares Ereignis eingetreten, welches die gesamte Angelegenheit verzögerte? Vielleicht war Bernd Auerbach beim Autodiebstahl beobachtet worden und längst verhaftet? Vielleicht …, vielleicht …, vielleicht ... »Entschuldigung der Herr, haben Sie die genaue Uhrzeit?« Thomas Keller war in seiner Gedankenwelt versunken und zuckte nervös zusammen. Ein altes Mütterchen stand vor ihm und sah ihn fragend an. In der rechten Hand hielt sie eine rote Lederleine, an deren Ende ein Spitz hing, der zu ihm aufblickte und freudig mit dem Schwanz wedelte. Sein zotteliges Fell war blütenweiß. Es harmonierte farblich mit der frischen Dauerwelle seines Frauchens. Auch das kleine rote Mäschchen, welches der kleine Kläffer auf seinem Kopf trug, passte im Farbton hervorragend zum Lodenmantel der Alten. Erneut sah Thomas Keller auf seine Armbanduhr. »Es ist jetzt genau vierzehn Minuten nach neun Uhr, meine Dame«, gab er zur Antwort und versuchte seine Nervosität zu unterdrücken.
»Siehst du, Rasputin«, sprach das Frauchen zu ihrem weißen Putzwedel am Ende der roten Hundeleine, »es gibt doch noch höfliche Menschen, richtige Gentlemen.« Rasputin gab wie zur Bestätigung ein heißeres »Wihau« von sich und setzte eifrig sein Schwanzwedeln fort.
Seine Nervosität stieg. Thomas Keller musste daran denken, wie er früher mit solchen Situationen umgegangen war, als sie an der deutsch-deutschen Grenze nachts auf Lauer lagen und darauf warteten, Republikflüchtlinge zu stoppen. Damals, bei der MfS-Elitetruppe, beim Wachregiment Feliks Dzierzynski. Es war eine harte Zeit. Sie hatten jede Menge Arbeit – Stress total. Er erinnerte sich daran, wie schwierig es für ihn war, seine Sympathie für den Nationalsozialismus zu verbergen. Es gab ihn ja offiziell gar nicht. Er wurde totgeschwiegen, obwohl es von Anbeginn der DDR immer kleine Nazigruppen gab, die die Ansichten des Führers verherrlichten. Ab 1983, es war wie eine Explosion, verfünffachten sich plötzlich die Gewalttaten der Rechtsextremen. Ihm war das egal, in vielen Fällen sogar recht. Auch er trug dazu bei, die Taten totzuschweigen. Es sollte eben nicht wahr sein, was nicht wahr sein durfte. So einfach war das. Ließ sich eine rechtsextremistische Tat nicht mehr verheimlichen, so wurde sie eben dem Klassenfeind im Westen zugeschoben oder als krimineller Handlungsakt und nicht als politisch begründet abgetan. Er verstand das manchmal auch nicht. Die Denkweisen der SED und der Nationalsozialisten lagen gar nicht so weit auseinander: Beide standen für Militarismus, und beide übten sich in der Praxis anders denkende Menschen zu unterdrücken. Hitler-Kult, Gewalt gegen Juden und Hakenkreuzschmierereien gab es schon immer in der DDR. Am besten konnte man die Gewaltbereitschaft der Rechtsextremen auf dem Fußballplatz wahrnehmen, und Angriffe auf Arbeiter aus Asien und Afrika gab es damals doch auch schon. Nicht ohne Grund entstanden eine Fülle an extremen Organisationen, wie die »Lichtenberger Front«, die »NS-Kradstaffel Friedrichshaine«, oder die »Wotanbrüder«. Nicht zu vergessen die »Weimarer Heimatfront« oder die »SS-Division Walter Krüger«. Viele Kollegen im MfS waren damals Mitglieder in einer dieser Organisationen. Als sich dann die Wende vollzog, war es doch nicht verwunderlich, dass viele junge Glatzköpfe sagten, sie seien »nicht angepasst«.
Er erschrak und zuckte zusammen. Sein Mobiltelefon vibrierte in seiner Manteltasche. Nervös kramte er es hervor und wischte mit dem rechten Zeigefinger über das grüne Telefonsymbol. »Ja?«
»Oh, Entschuldigung, verwählt.«
*
Als Bernd Auerbach das Nürnberger Bahnhofgebäude zu Fuß erreichte, hatte er ein viel dringenderes menschliches Bedürfnis, als sofort eine öffentliche Telefonzelle aufzusuchen. Er hetzte die Rolltreppe zum ersten Stockwerk hoch und steckte siebzig Euro-Cent in die Ticket-Maschine der öffentlichen Toilettenanlage. Die Schranke gab den Weg frei. Der ohrenbetäubende Knall der beiden Explosionen dröhnte noch immer in seinen Ohren. Er war in Hochstimmung und ließ den Strahl kräftig in das Pissoir plätschern. Erleichtert nahm er daraufhin wieder den Weg nach unten in die Bahnhofshalle und fand auf Anhieb eine freie Telefonzelle. Er wählte die Nummer eines Mobiltelefons, wartete, bis er ein nervös fragendes »Ja?« vernahm, sprach die drei Worte »Oh, Entschuldigung, verwählt« in die Sprechmuschel und legte wieder auf. Dann begab er sich eilig zum Bahnsteig Nummer zwei und stieg in den bereits wartenden Thüringen-Regionalexpress. Von den Straßen vor dem Bahnhof dröhnte das Geheule von Martinshörnern in einem wilden Durcheinander bis in das Innere des Zuges. »Was na da draußen wieder passiert is?«, rätselte die Frau, die ihm gegenüber saß. »Gott sei Dank hock ich scho im Zug.«
»Bestimmt ein Unfall«, mutmaßte der Ostdeutsche freundlich. Fast hätte er das lang anhaltende Pfeifen auf dem Bahnsteig überhört. Kurz darauf nahmen die Stahlräder in den Fahrwerken der Wagons ächzend Bewegung auf. Die Traktionsmotoren liefen hoch und übertrugen ihr hohes Surren und Vibrieren in den Innenraum. Der Zug beschleunigte, zuerst langsam, dann immer schneller, und hatte nach kurzer Zeit den Nürnberger Hauptbahnhof in Richtung Bamberg verlassen.
Noch immer strömte Adrenalin durch Bernd Auerbachs Adern. Er war innerlich aufgewühlt, wie noch nie in seinem Leben. Noch einmal liefen die letzten dreißig Minuten wie ein Film in seinem Kopf ab: Punkt neun Uhr eins hatte er aus sicherer Entfernung zum Konsulat den roten Knopf der Fernsteuerung gedrückt. Jeder Knall der beiden Explosionen, die Sekundenbruchteile später zu hören waren, war gewaltig. Eine enorme Druckwelle raste durch die Straßen. Im Laufen drehte er sich um und sah den Rauch, der am Ort des Geschehens aufstieg, und den Trümmerregen, der sich über den Dächern der umstehenden Gebäude ausbreitete, dort für Sekundenbruchteile in der Luft hängen zu blieben schien, um darauf die Regensburger Straße und die benachbarten Straßenzüge mit umherfliegenden Teilen regelrecht zu übersäen. Im Moment hatte er keine Ahnung, wie es am Ort der Detonationen aussah und welche Schäden diese angerichtet hatten. Waren Menschen auch betroffen? Und wenn schon. Er konnte es gar nicht abwarten, nach Hause zu kommen, um sich im Fernsehen die Bilder anzusehen. Ob über den Anschlag schon berichtet wurde? Er hatte seine Sache gut gemacht, das wusste er. Profihaft. Thomas Keller würde zufrieden sein. Fünfzehn Minuten später stieg er in Erlangen am Gleis drei aus dem Zug, um wiederum acht Minuten später auf dem Bahnhofvorplatz in den Bus der Linie 205 Erlangen - Höchstadt zu steigen. »Wie soeben mitgeteilt, haben sich in Nürnberg vor dem Türkischen Konsulat zwei schwere Explosionen ereignet. Wer oder was die Explosionen ausgelöst hat, ist derzeit noch unbekannt. Es geht das Gerücht, dass es sich um einen politisch motivierten Anschlag handelt.« Der Busfahrer stellte das Radio auf eine höhere Lautstärke. »Rettungskräfte befinden sich auf dem Weg zur Unglücksstätte. Ob auch Menschen zu Schaden gekommen sind, ist noch nicht bekannt. Wir berichten in Kürze live vom Ort des Geschehens.«
»Tät mi net wundern, wenn des Neonazis gwesen wärn«, kommentierte der Busfahrer. Wie recht der Mann hatte. Bernd Auerbach war happy und freute sich schon auf den nächsten Auftrag. Er würde wieder sein Bestes geben. Gewissensbisse hatte er nicht. Ein Hoch auf die NEL.
14
Vor dem schwer beschädigten Gebäude in der Regensburger Straße 69 herrschte das blanke Chaos. Ein Ort der Verwüstung, des Entsetzens und des Todes. Der Ort des Terrors war durch Polizeikräfte zwischenzeitlich weiträumig abgesperrt worden. Neben den verheerenden Sachschäden waren zehn Tote, sechs zum Teil lebensgefährlich sowie zahlreiche leicht Verletzte zu beklagen. Genau in dem Moment, in dem Adem Gökhan mit einem Besucher des Konsulats aus dem Inneren des Gebäudes auf die Straße trat, explodierten die beiden Sprengsätze in einem gleißenden Inferno. Adem Gökhan und sein Begleiter hatten nicht den Hauch einer Chance. Von den vierzehn Münchner Touristen, die auf dem Weg zum in unmittelbarer Nähe liegenden Historischen Straßenbahndepot waren, wurden acht von den umherfliegenden