Mai-Schnee. Gertrud Wollschläger

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Mai-Schnee - Gertrud Wollschläger


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den richtigen Mann geschickt hatte. Herbert hieß der, ein sogenannter ‚Stromer‘, der mit seinem Arbeitstrupp quer durch Deutschland unterwegs war. Diese Männer mussten draußen auf dem Land die Stromversorgung sichern. In meiner Erinnerung kletterten die Männer mit ihren Steigbügeln auf die hohen Strommasten, legten neue Leitungen, so dass jeder Haushalt an das öffentliche Stromnetz angeschlossen werden konnte.

      Ob Herbert anfangs ihr Traummann war, weiß keiner. Auf jeden Fall wurde später erzählt, dass Tante Elvira keinen größeren Wunsch gehabt hatte, als vom ‚Berg‘ wegzukommen. Egal wie! Landwirtschaft war das größte Übel, das es für sie gab. Dazu die strengen Eltern, mit denen sie bis zu deren Tod nicht zurechtkam. Dies ließ sie ihren Entschluss „Nur weg hier und zwar so schnell wie möglich!“ von heute auf morgen in die Tat umsetzen. Herbert war sozusagen der ersehnte Retter, der zur richtigen Zeit aufgetaucht war.

      In all den Jahren danach bekam unsere Mutter ab und zu Briefe von ihrer Kusine Elvira oder Postkarten mit Urlaubsgrüßen von irgendwo. Telefonieren kostete damals richtig Geld, also gab es Telefonate nur bei wichtigsten Anlässen. Die Briefe behielt Mutter stets einige Tage in der Tasche ihrer Kittelschürze. Ich nehme an, dass sie der Nachbarschaft vorgelesen wurden. Post aus Berlin, das war was, damit war man dann selber auch schon mit einem Fuß in der großen, weiten Welt. Dagegen bekam Tante Elvira immer mal wieder Zeitungsausschnitte, die Mutter nach Berlin schickte.

      So auch über Neuigkeiten von der schlimmen Tat, die in unserem Heimatort passiert war. Die wurden dann mir und unseren Besuchern regelmäßig vorgelesen und die Tante erklärte später dazu passend, dass darum ‚das Kindchen‘ jetzt bei ihr in Berlin war. „Krank vor Angst ist die Barbara geworden. Weil sie den Kerl ja noch immer nicht geschnappt haben, hat es das Mädchen nicht mehr ausgehalten“, erklärte sie genauestens jedem, der sich nach meiner Herkunft erkundigte.

      Auch Jahre später schwang immer noch eine Spur Mitleid in der Stimme von Elvira mit. „Nachdem der Herbert endlich weg war, habe ich sie gerne bei mir aufgenommen. Ich hab sowieso recht bald gemerkt, dass der Herbert sein Leben wie früher als lediger Stromer weiterführen wollte. Damit hab ich mich lange genug rumgeplagt!“ An ihrer gelassenen Stimme konnte man erkennen, wie endgültig Tante Elvira mit dem Thema ‚Herbert, der Stromer‘ abgeschlossen hatte. „Gell, Kindchen, es war für dich nicht gerade einfach, vom Dorf weg gleich in die Großstadt Berlin zu ziehen. Aber wir haben es geschafft! Und jetzt ist hier dein Zuhause. Ist doch ein ganz anderes Leben hier. Was hätte sie denn auf dem einsamen Berg schon gehabt? Man sieht ja, was sich dort für Gesindel herumtreibt!“ Wenn Tante Elvira endlich eine Redepause einlegte und mir den Arm um die Schultern legte, musste ich zur Bestätigung nur noch mit dem Kopf nicken und die Tante war zufrieden.

      An all das gewöhnte ich mich im Laufe der Jahre. Es schien mir nichts mehr auszumachen, wenn ich von zuhause die neuen Vermutungen und Erkenntnisse der Ermittlungsbeamten mitgeteilt bekam. Nach dem Abitur, das ich mit hervorragenden Noten bestand, fuhr ich zum ersten Mal nach Hause. Fünf Jahre hatte ich bis dahin in Berlin verbracht. Mein Bruder Martin, der älteste von uns Geschwistern, feierte seine Hochzeit, und ich war zusammen mit Tante Elvira eingeladen. Es war für uns beide eine ganz schön aufregende Zeit, die Wochen vor der Reise in die Heimat. Geschenke mussten besorgt und vor allen Dingen die Kleiderfrage musste gelöst werden.

      Es war ein schönes Fest, das wir dann erleben durften, aber beide waren wir auch froh, als der Tag unserer Abreise zurück nach Berlin kam. So recht hatten wir mit den meisten der Hochzeitsgäste nicht wirklich etwas anfangen können. Fremd waren sie mir geworden während der langen Zeit der Trennung. Ihre Themen waren nicht die meinen.

      Ansonsten merkte ich sehr wohl, dass dem Thema ‚Sonja‘ ausgewichen wurde. Es war für alle gewiss nicht einfach, mir hier zu begegnen. War ich doch als deren beste Freundin die lebende Erinnerung an die grausame Tat. Unter der Oberfläche war das Geschehene noch allgegenwärtig. Die Last der Frage „Wer hat das getan?“ drückte noch immer auf ihre Schultern. Sie litten, die Menschen auf dem Berg, jeder für sich, auf seine Weise, und keiner konnte offen darüber reden.

      Weitere Jahre in Berlin folgten, in denen ich mich voll und ganz meinem Jura-Studium widmete, das ich schließlich erfolgreich abschloss. Ohne Mühe bekam ich eine Stelle als selbständig arbeitende Anwältin in einem Berliner Anwaltsbüro. Endlich war genug Geld da für eine eigene Wohnung, ein Auto und Urlaubsreisen mit Freunden in alle Welt. Endlich konnte ich der Mutter mitteilen: „Du musst mich nicht mehr unterstützen, brauchst kein Geld mehr zu schicken an Tante Elvira, für das Wohnen und Essen bei ihr.“

      An jedem Monatsanfang, immer ganz pünktlich, war die abgemachte Summe angekommen. Taschengeld für mich, Unterhaltsgeld für Tante Elvira. Ich konnte mir vorstellen, wie schwer es für Mutter gewesen sein musste, für mich über so viele Jahre regelmäßig Geld nach Berlin zu schicken. Doch jetzt ging es mir finanziell richtig gut! Ich hatte keine Sorgen, war mit meinem Leben mehr als zufrieden. Bis auf einmal, von einem Tag auf den anderen, fast von einer Stunde auf die nächste. Nach über vierzig Jahren fing es wieder an. Das tiefe Fallen ins Dunkle, Bodenlose, wo es kein Auffangen gibt.

      Im Nachhinein zermarterte ich mir immer wieder den Kopf. Was war der Auslöser gewesen? Was hatte in meinem Kopf, in meinen Gedanken mit einem Klick alles verändert? Was war das, was von mir nicht zu steuern war? Ich war doch ein absoluter Verstandesmensch geworden. Hatte gelernt, was mir guttat oder was ich meiden musste. Nach vier Jahrzehnten! Wo doch alles abgehakt schien. Es war einfach wieder da, aus dem Nichts.

      Alle Untersuchungen brachten kein Ergebnis. Der Neurologe bestätigte mir: „Eigentlich alles in Ordnung!“ Es gab nichts, was ein klares Krankheitsbild ergeben hätte. Keine Schilddrüsenerkrankung. Nicht der Kreislauf, der zwar hin und wieder verrücktspielte, aber nicht der Grund sein konnte. Auch die Schlaflosigkeit mit den anstrengenden Albträumen war mit Berufsstress alleine eigentlich nicht zu erklären. „Es ist das Vegetativum. Das ist nicht zu steuern. Mit dem eisernsten Willen nicht! Es ist was in Ihnen, das will heraus! Ihr Körper will es loswerden. Es ist in Ihnen gewachsen, eine Geschwulst aus einer Last, die Sie mit sich herumschleppen. Was es ist, müssen Sie herausfinden!“ Das war die vorläufig letzte Diagnose. „Gehen Sie zu einem Therapeuten, der kann Ihnen helfen“, empfahl mir daher der Hausarzt, der mich und Tante Elvira seit Jahren betreute.

      Doktor Winkler, ein erfahrener, älterer Psychiater, fand dann auch schnell heraus, an was meine Seele litt. Er überzeugte mich davon, dass sich die Ängste meiner Kindheit, die Trennung von zuhause, das Drama um meine Freundin Sonja und der noch immer unaufgeklärte Mord an ihr wieder gemeldet hatten. An mir nagte die Frage: „Hat sich denn niemand richtig um letzte Aufklärung bemüht?“ Ich merkte sehr bald, dass es vor allem diese Frage war, die mit einer neuen, nie gekannten Wucht über mich hereingebrochen war. „Warum hat mich damals eigentlich keiner richtig befragt? Ich hätte doch was gewusst!“ Es hatte nur einige oberflächliche Fragen der Polizei an mich gegeben: „Kannst du was von dem Tag erzählen?“ Und gleich nachgeschoben: „Sicher net! Du warst ja in der Zeit in der Schule im Dorf unten.“ Aber ich hätte doch was gewusst! Von den Tagen vor der Tat hätte ich erzählen können.

      Er nahm sich viel Zeit für mich, der Doktor Winkler, als ich ihn in seiner Praxis besuchte: „Heilung gibt es nur, wenn Sie sich den Geschehnissen endlich stellen! Zudecken hilft nicht! Das Unrecht schreit laut und anklagend bei jeder passenden, vor allem aber unpassenden Gelegenheit unter dem Teppich hervor. Dadurch gibt es auch kein Vergessen! Ein Verbrechen fordert Sühne. Das Opfer verlangt danach. Nur dann ist Ruhe. Für alle!“ Mit ernsten, eindringlichen Worten sprach der Arzt zu mir. Seine Brillengläser blitzten mich bei jeder Bewegung an wie Spiegel. Ich hatte den Eindruck, als leuchte der Doktor mein Innerstes aus und könne in aller Klarheit sehen, was mir fehlte.

      „Ich weiß, dass er Recht hat“, war mir sofort klar. „Er hat die richtige Stelle bei mir getroffen. Ich merke jetzt schon: Das ist die beschädigte Saite. Sie muss ausgewechselt werden, damit das Instrument wieder klingen kann! Ich will heim. Will den Ballast loswerden, egal, was auf mich zukommt.“

      Ich schließe die Augen, lehne mich in die Polster zurück. Sofort sind unvergessene Bilder da. Ich sehe mich zuhause in der Küche sitzen, wo ich der Mutter bei der Arbeit zuschaue. Heimelig und geschützt fühle ich mich hier bei ihr, keine Ängste


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