Mai-Schnee. Gertrud Wollschläger
Читать онлайн книгу.nur am Wochenende. Fand das Badevergnügen zwischendurch statt, musste man bestimmt zum Doktor, aber auch dann war es nicht so wichtig. Der Spruch von unserem alten Hausarzt Dr. Eberwein ist mir bis heute in Erinnerung geblieben: „Mir ist ein Bauernbub mit Mist zwischen den Zehen lieber als so ein Herrenbübchen aus der Stadt mit seinen Käsfüßen und einem Pilzgewächs dazwischen.“
Das Ratta-ta, Ratta-ta kommt wieder lauter an mein Ohr. Ich habe Durst. Eine Thermosflasche steckt in meinem Rucksack, den ich in der Gepäckschale über meinem Kopf verstaut habe. Nach ein paar tiefen Zügen aus dem abgeschraubten Deckel wird mir wohler. Ich merke, wie mir die Gedankenpause guttut. Seit Stunden sitze ich schon im ICE Berlin – Stuttgart. Meine Gedanken beschäftigen sich so intensiv mit zu Hause, als würde ich über meine Kindheit in einem spannenden Buch lesen. Spannend und belastend! Die Mitreisenden in meinem Abteil habe ich glatt vergessen. Eine ältere Dame, die mit ihren Zeitschriften beschäftigt ist, und eine junge Frau, die unentwegt auf ihrem Smartphone herumtippt und zwischendurch telefoniert. Zum Glück so leise, dass es mich nicht stört. Nach anfänglich einigen freundlichen Bemerkungen, die von mir recht einsilbig beantwortet wurden, schweigen beide.
Das Ratta-ta, Ratta-ta dringt in Wellen zu mir, mal lauter, mal leiser. Nach jeder Weiche, die der Zug passiert, werde ich in die Gegenwart zurückgeholt. Dann drücke ich mich tiefer in meine Ecke am Fenster. Hinter mir am Haken hängt mein leichter Sommermantel, in den ich mich bei Bedarf einkuschle und wo ich dann auch mal die Augen zumachen kann.
Sobald das Ratta-ta gedämpfter wird und mich einlullt, treten die Bilder und Erinnerungen an die schrecklichen Tage des Jahres 1972 glasklar vor meine Augen. Wieder steht die Mutter vor mir mit ernstem Gesicht. Sie hat damals ihr Möglichstes getan, um in unsere Familie ein Stück Normalität zurückzubringen. Heute sehe ich, wie begrenzt ihre Möglichkeiten waren. Auch sie hatte niemanden zum Reden. Allein gelassen waren damals die Menschen mit ihren Nöten. An wen hätten sie sich auch wenden sollen? Den Pfarrer, den Lehrer, den Doktor? Sie alle waren sprachlos, wussten keine Antworten, kämpften um die eigene Fassung. Ihr ganzes Leben lang schwärte es in ihnen, wie eine Wunde, die nie abheilt.
Wieder sehe ich mich zuhause, am Backtag in unserer Küche. „Geh schon, Barbara, lass dir nicht alles zweimal sagen! Ich brauche die Kirschen jetzt, ich möchte endlich anfangen zu backen. Sonst werde ich heute überhaupt nicht mehr fertig.“ Ich versuchte erst gar nicht zu widersprechen. Diesem energischen Ton der Mutter war einfach nur zu gehorchen. Ich fühlte mich hilflos und ausgeliefert. „Warum tat Mutter das? Mich allein rausschicken zum Kirschenholen. Sie wusste doch, was ich für eine grauenhafte Angst davor hatte, alleine in die Obstanlagen zu gehen.“ Ich spürte wieder, wie mir das Entsetzen den Rücken hoch kroch. Es machte meinen Nacken steif und in meinem Kopf und in den Ohren fühlte sich in diesem Augenblick alles unnatürlich wattig an.
Als es damit bei mir begonnen hatte, sagte der Doktor zur Mutter: „Ihre Seele ist eingefroren, ihr Körper steht still. Aber das wird schon wieder, es braucht halt seine Zeit.“ Dabei sah er mich mitleidig an: „Gell Barbara, mir schaffen das.“ Zur Mutter gewandt meinte er noch: „Man muss des Mädle halt ablenken von der ganzen Sache. So schlimm das auch alles ist, sie kann ja doch daran nichts ändern.“ Die Stimme von Dr. Eberwein klang aber wenig überzeugend in meinen Ohren. Auch dass er meinen Augen unsicher auswich, bemerkte ich instinktiv.
Es war jetzt schon ein Jahr her, dass man sie gefunden hatte, meine Freundin Sonja, womit das Schreckliche, Unfassbare über das kleine Dorf, ihre Familie, die Freunde und Nachbarn, über uns hereingebrochen war. Doch nichts ist besser geworden in dieser Zeit, die nur mühsam überdeckt wurde mit Alltag, mit Lachen, das keines mehr war, und den steten Gedanken, die immer um das Gleiche kreisten: Wer war es? Warum? Wieso Sonja? Meine Sonja, die ganz bestimmt niemals einem Menschen was Unrechtes getan hatte.
Für mich hörte es niemals auf. Das Poltern der Erde auf Sonjas Sarg. Was hat der Pfarrer gesagt? Erde zu Erde! Was sollte das? Was tat Sonja da unten in der dunklen Erde? Zu mir herauf gehörte sie doch. Hier oben in die Sonne, auf die Wege, unser beider Wege zwischen den Wiesen und Kirschbäumen. „Sie wird darüber hinwegkommen.“ Das hat der Doktor auch noch gesagt. Zur Mutter. Er hat aber nicht gesagt, wann. „Keine Ahnung hat der! Vielleicht kommt er ja darüber hinweg, ich nicht.“ Ich wartete Woche um Woche, Monat um Monat. Von wegen ‚darüber hinwegkommen‘. Ich merkte nichts davon.
„Bestimmt macht Mutter das heute mit Absicht“, hadere ich, „damit ich mich wieder daran gewöhne, rauszugehen. Damit ich meine Ängste überwinde und ein normaler Alltag wieder stattfinden kann. Aber weiß sie denn nicht, dass das gar nicht geht? Wie denn? Ihn gibt es doch noch da draußen! Ihn, das Monster, den Unaussprechlichen, das Grauen höchstpersönlich! Der Todstecher meiner besten Freundin. Meiner Sonja!“ ER sollte mein absoluter Alptraum werden, der meine Kindheit schlagartig beendete.
Sie haben ihn einfach nicht gefangen. Er war frei, lief herum, wohnte irgendwo. Aber wo? Kannte ich ihn oder kannten ihn meine Eltern? Wer, wo, warum? War er alt oder jung? Niemand gab Antwort. Ich fühlte ihn überall. Hinter jedem Baum, in der Scheune, im Stall, in jeder dunklen Ecke des Hauses. Mein Zimmer gehörte mir nicht mehr alleine. Es wurde von zweien bewohnt. Von ihm und von mir. So oft fühlte ich ihn hinter mir. Hörte seinen Atem. Fühlte seine Hände auf meinen Schultern, auf meinem Rücken. Dann kroch eine bleierne Lähmung über mich, rauf und runter. Er konnte auftauchen zu jeder Tages- und Nachtzeit. Was für eine Belastung für mein, für unser Leben! Ich hätte der Mutter das alles so gerne gesagt, aber ich hätte sie damit nicht erreichen können. Meine Ängste waren für mich nicht in Worte zu fassen. Das Entsetzen hat seine eigene Sprache, die ich als Kind nicht hinausschreien konnte. Es blieb mir nur Zittern und Weinen.
Ich wehre mich nicht mehr. Nehme hastig das Körbchen, drücke es bebend gegen meine Brust, renne den dunklen Gang entlang zur Haustür. Raus! Renne und renne und heule laut den ganzen Weg entlang, bis zu den Kirschbäumen. Ich habe Angst. Schreckliche Angst! Aber ich pflücke, nein, ich reiße die Kirschen ab. Sie fliegen mit Ästchen und Blättern in meinen Korb. Egal! Nur fertig werden und fort hier! Ich will keinen Kirschkuchen mehr. Nie mehr! Sie sollen ihn selber essen. Alle können ihn essen. Sollen sie doch diese elenden Kirschen verschlingen! Ich will keine mehr sehen. Sie merken doch nicht einmal, wie sauer sie seit einem Jahr geworden sind. Ich renne zurück. Putze die Rotznase in das Kleid, wische mein Gesicht trocken. Sie brauchen es nicht sehen, mein Heulen. Ich haue die Tür zur Küche auf, knalle den Korb auf den Tisch, mache kehrt und renne in meine Kammer, werfe mich aufs Bett.
Mein Körper krümmt sich zusammen wie ein Wurm, und krampfhaftes Schluchzen nimmt mir die Luft zum Atmen. Nach einer Weile kommt meine Mutter. Sie setzt sich auf die Bettkante und nimmt mich ganz ruhig in den Arm. Mutter spricht kein Wort, streicht mir nur immer wieder übers Haar. Ihre Hände sagen ihre Worte. Immer die gleichen Worte, immer gleich, immer dasselbe: „Ist ja gut. Alles wird gut, ist gut, ist ja gut…“ Nichts wird gut! Sie finden ihn einfach nicht. Ein Jahr ist jetzt vorbei und ihn gibt es immer noch da draußen.
Im Herbst kam mein Bruder Tobias zur Welt. Da hatte Mutter was, das sie ablenkte, das menschlich war, das sie lieb haben konnte. Aber ich fühlte mich noch verlassener. Meine Ängste türmten sich auf, hoch und übereinander, wie ein Gebirge, über das keiner drüber kann. „Wieso stellte Mutter den Kinderwagen vors Haus? Einfach so.“ Da lag doch Tobias drin. Wenn sie auf dem Feld war, schob ich den Wagen in den Hausflur zurück, schloss die Tür ab und hockte krampfhaft lauschend auf der Stiege. Jedes Knarren und Knacken, Kettenrasseln und Poltern aus Haus und Stall klang überlaut an mein Ohr und erschreckte mich.
Ich merke, wie das Chaos jener Tage wieder anfängt, meinen Körper zu beherrschen. Frost ist in mir, trotz der Hitze des Sommertages, die sich im Innern des ICE fortsetzt. Meine Hände sind eiskalt geworden. Ein untrügliches Zeichen, dass diese elende bekannte Lähmung wieder meinen Kreislauf bestimmt. „Nimm deine Gedanken an die Leine! Versuche Punkte zu setzen! Dicke Punkte. So etwa wie: Bis hier und nicht weiter! Eventuell auch noch Ausrufezeichen. Vermeide auf jeden Fall Fragezeichen!“ So gescheite Sachen hatte mir mein Therapeut geraten. So viele Jahre habe ich mit dieser Strategie an mir gearbeitet. Aber der Erfolg war nicht allzu groß, auch nach über vierzig Jahren nicht.
Die Fragezeichen drängten sich immer wieder in den Vordergrund. Aufdringlich und vorwitzig