Drei Dekaden. Hermann Ritter
Читать онлайн книгу.ohne sie zu erklären. Auch das klassische So etwas tut man nicht! ist eine Art Tabu, weil hier eine Regel vorgeführt, aber nicht erklärt wird.
Unser Problem als Heiden ist jedoch nicht die passive Vermittlung. In ihr schwingen – wenn auch oft mystisch verblümt – Erinnerungen an eine heidnisch-mystische Weltsicht mit (Beispiele sind z.B. der Kult um die heiligen drei Könige, das Hufeisen als Glücksbringer, das toi-toi-toi, die Räucherung von heiligen Stätten mit Weihrauch etc.).
Die Schwierigkeiten tauchen in dem Bereich der aktiven Vermittlung von Regeln auf (z.B. beim Schulfach Religion). Hier sollte unser Wunsch nach Veränderung dahingehend wirken, dass die unumstößlichen oder undiskutierbaren Regeln, welche von den diesen Bereich dominierenden gesellschaftlichen Gruppen stammen, durch Alternativen flankiert werden. Wahlfreiheit und Zensur schließen sich gegenseitig aus!
Aber es macht keinen Sinn, jetzt den Versuch zu unternehmen, dies auf allen Ebenen zugleich zu wiederholen. Durch das Anrennen gegen bestimmte Gruppen von Regeln – jenen Bereich nämlich, welcher das streift, was wir heilig oder mystisch nennen – kommt es dort zu obskuren Bündnissen im Esoterik-Bereich. Freunde freier Energien, UFO-Kontaktler, Revisionisten, Atlanter, Magier und Heiden treffen sich in einem Topf wieder, in den zumindest die Heiden ganz bestimmt nicht wollen.
Unter anderem deswegen sollte man sich auf Bereiche konzentrieren, in denen man als Heide bessere Alternativen anbieten kann. Dieser Bereich umfasst meiner Ansicht nach Religion (Kult) und Magie. Die Erstellung daraus folgender Regeln resultiert in den beiden Hauptaufgaben dieser Themen: Der Vermittlung (und Suche) nach Sinn und der Vermittlung (und Suche) nach Beziehungen zwischen den Dingen.
Sinnstiftung geschieht durch Religion. Die Verantwortung der heidnischen Religion steht hier in Konkurrenz zur staatlichen (mit-)organisierten Sinnvermittlung der christlichen Kirche. Heiden müssen Sinn stiften und Alternativen bieten. Dabei muss man sich – die geringen gesellschaftlichen Kräfte des Heidentums in Deutschland eingedenk – auf Bereiche konzentrieren, in denen ein Engagement nötig (!) ist.
Sinnvermittlung, ja Sinnstiftung ist nötig zu heiligen Terminen (Geburt, Volljährigkeit [Geschlechtsreife, Mannbarkeit], Ehe, Tod; zur Priesterweihe und zu den Festterminen im Jahreslauf), aber auch zu existentiellen Fragen (Tod und Krankheit, aber auch Familienplanung und Beruf) und kultischen Fragen (Leben im Mythos).
Aber Vorsicht: Im Gegensatz zum Kultischen, das bei den christlichen Kirchen sehr ausgearbeitet ist, steht bei Heiden meiner Ansicht nach das Primat des Göttlichen im Vordergrund. Die (Wieder-)Belebung heidnischer Religionen muss zuerst das Wesen der Gottheiten, ihren anderen Charakter klar machen. Der Boom des Heidentums im 20. Jahrhundert begann nicht in einem vom Christentum unterschiedenen Kultus, sondern in der Erarbeitung bzw. Wiederbelebung anderer religiöser Grundlagen, die wiederum ein anderes Menschen- und Naturverständnis als die christlichen Kirchen propagierten. Der Aufbau dieser neuen Religion erfolgte von oben, nicht von unten her – obwohl in diesem Fall das Fundament des Glaubens jener Teil ist, der eigentlich am höchsten angesiedelt ist (im innersten Bezirk der Heiligkeit …).
Magie steht für die Erfassung und Nutzung der (Ver-)Bindungen zwischen den Dingen. Die Kräfte, welche alles verbinden, will der Magier nutzen. Um sie zu nutzen muss er zwischen sich als Wirkendem und dem zu bezaubernden Wesen oder Ding eine Verbindung schaffen. Verbindung verlangt Bindung, Bindung bedingt Verbindung. Bindungen schaffen auch Muster und stiften Sinn.
Das Weben, das Knüpfen sind klassische Bilder der Magie – nicht nur das Schicksal wird gewoben, bildet einen Teppich, sondern der Zaubernde verknüpft unterschiedliche Fäden zu einem Bild, das vorher nur in seiner Phantasie existiert hat.
Während die heidnische Religion mit den christlichen Kirchen um Gelände kämpft, streitet sich die Magie meist mit den Sozial- und Geisteswissenschaften um Terrain.
Aus der Situation als unterlegene Richtung kann das Heidentum Fehler der großen Religionen aufzeigen, selbst vermeiden und Alternativen anbieten. Doch auch hier gilt, dass Macht korrumpiert – wenn das Heidentum die gesellschaftlich bestimmende Religion wäre, dann wären die Rollen in Bezug auf die blinden Flecken wahrscheinlich anders verteilt. Die Gestaltungsmöglichkeiten, welche sich aus Sinn und Glauben ergeben, müssen durch unsere Möglichkeiten (Zeit, Personal, Ressourcen) auf das Mögliche und Gewünschte eingeschränkt werden.
Zwei Fragen sind es, die klären helfen sollen, welche Gestaltungsmöglichkeiten man ergreift:
1. Man sollte Themen gestalten, die einem als Heide wichtig sind.
2. Man sollte Themen gestalten, in denen nach dem Abwiegen der eigenen Ressourcen und des zu erwartenden Widerstandes eine Alternative Sinn macht.
Nur wenn beide Fragen mit ja beantwortet werden, macht es Sinn, Energie einzusetzen.
Zu 1.
Was ist wichtig? Das entscheidende Element ist für mich erneut die Frage nach dem Mythos (unter Berücksichtigung der Grundannahme eines Primats des Göttlichen). Ich muss mir überlegen, was ich glaube, muss den Dingen im Himmel und unter der Erde Namen und Titel geben, um mit ihnen kommunizieren zu können (der händeringende Ruf an die namenlosen Götter ist uns Menschen weniger nahe als das Gebet an den namenstragenden Gott).
Handelt es sich um ein bekanntes Pantheon (z.B. den nordischen oder griechischen Götterhimmel)? Ist es der Mythos von Göttin und Gott im Jahreslauf? Gibt es eine Vorhersage für die Zukunft, einen Zeithorizont (z.B. den Untergang der Welt in einem Ragnarök oder ein kommendes Zeitalter?). Welche Punkte des Mythos sind wichtig, welche sind weniger wichtig? Wie korrespondieren Punkte des Mythos mit möglichen Festen und Festterminen?
Ein Mythos muss kein zusammenhängendes Relikt sein, er kann auch aus einem Sagen- und Märchen-Konvolut bestehen (als Quellen sind hier z.B. Tolkien, Andersen, die Gebrüder Grimm, aber auch Hauff denkbar – wobei man sich die Frage stellen könnte, ob sich manche modernen Hexentraditionen nicht sowieso aus einem Fantasy-Phantastik-Mix nähren).
Die im Heidnischen geschilderte Göttlichkeit ist von den monotheistischen Religionen geschieden. Es gibt im Heidentum keine einzelne (Erst-)Vermittlung von Religion durch Einzelne (Religionsstifter), keinen Alleinvertretungsanspruch, dafür eine Koppelung des Mythos an einen lebendigen und beeinflussbaren Kult(us). Der veränderliche Kultus als Inneres der Religion muss aber auch durch eine flexible Gestaltung des Äußeren flankiert werden. Um es etwas plump auszudrücken: Wenn ich den Mythos verändere, muss ich auch die Feste verändern.
Zu 2.
Man sollte Alternativen nicht mit kleinen Entwürfen zeichnen, sondern mit großen, kraftvollen Strichen einen Rahmen vorgeben, in dem die Veränderung stattfinden soll. Es macht nichts, wenn dieses Bild unfertig erscheint – das ist es ja auch. Aber es ist einfacher, erst mit groben Strichen Glauben und Mythos zu skizzieren, bevor man an die Ausarbeitung der Details geht. Es macht wenig Sinn, erst die Farbe der Zotteln am Mantel der Priester zu definieren, bevor man sich über Charakter, Namen und Hintergrund der verehrten Gottheit einig ist. Wir wachsen als Heiden nicht in einer heidnischen Gesellschaft auf, sondern wir wählen als Erwachsene. Wir sollten diese Wahlfreiheit auch nutzen, um mit Verstand zu wählen und zu entscheiden.
Ich glaube weiterhin, dass die richtige Kombination der Entwurf des Göttlichen samt einer Anknüpfung an die heiligen Termine, existentiellen und kultischen Fragen ist. Bei diesen Punkten dürfte klar sein, dass sie von eigener, persönlicher Bedeutung sind. Ich hoffe darauf, dass durch das Anbieten von Alternativen in lebenswichtigen Fragen die verändernden, heilsamen Kräfte des Heidentums, der Magie am ehesten zum Einsatz kommen.
Und noch etwas: Auch wenn die eigenen Ressourcen nicht ausreichen, um alles zu gestalten – Bündnisse machen nicht immer Sinn. Der Heide sollte aufhören, um jeden Preis Bündnisse zu schließen und sich auf das konzentrieren, was realistisch zu erreichen ist. Das Unmögliche zu fordern bleibt weiterhin Programm, aber das Unmögliche beginnt mit dem ersten Schritt.
LOKI, LOKI, SHINING BRIGHT!
I. Die kurze