Tatort Heuriger. Sabina Naber
Читать онлайн книгу.unsere Tränen sind längst versiegt.
Aber auch ohne Sarkasmus kann gesagt werden, dass der Heurige nicht immer nur ein friedlicher Ort beziehungsweise die Friedseligkeit nur eine vermeintliche war. Tatsächlich eignete sich der Heurige Dank der von Joseph II. erlassenen Zirkularverordnung und der damit quasi legitimierten Anarchie sehr für Verschwörungen aller Stilrichtungen. Die Heurigenszene war schließlich kaum noch kontrollierbar, jeder, der einen Weingarten besaß, durfte sein Wohnzimmer für ein paar Tage oder Wochen im Jahr zur Ausschank machen – ein Albtraum für Spitzel und von der Obrigkeit gedungene Spione.
Und die Tatsache, dass es sich zwischen Weinreben unerkannt gut flüstern lässt – die amerikanische Redewendung für vage Gerüchte, »I heard it through the grapevines«, hat zwar einen anderen Ursprung, könnte aber nicht besser passen –, nutzten die Wiener Bürger schon seit jeher für Besprechungen der konspirativen Art. So vermutet Hedwig Stoeger in ihrem Buch »Grinzing und seine Weingärten« aus dem Jahr 1923, dass Hadmar von Sunnberg, Heinrich von Kuenring, Paltram Varzo, Otte de Foro, Sigfrid Leubl und andere Edle ihre Weingärten letztlich auch für geheime Unterredungen nutzten, um König Ottokar wieder in Amt und Würden zu setzen.
Und dann kommt natürlich der Faktor Alkohol dazu. Der Heurige ist zwar heute ein Ort, an dem man sich ein Konglomerat aus Nostalgie, gebietstypischen Speisen mit Slow-Food-Appeal, regionalen Weinen und archaischer Gastronomie-Kultur einverleiben kann. Früher – und das ist noch gar nicht so lange her – war er aber vor allem ein Ort, an dem man sich am billigsten und unkompliziertesten einen Rausch umhängen konnte. Noch bis vor ein paar Jahrzehnten spielte das Essen tatsächlich kaum eine Rolle, das brachte man sich von zu Hause mit, besorgte es sich bei Kiosken vor Ort oder verzichtete einfach darauf. Die damals beim Heurigen getrunkenen Mengen sind heute kaum mehr vorstellbar, was natürlich einerseits daran lag, dass die Weine sehr viel leichter waren, andererseits daran, dass der Heurige unter dem Deckmantel der Weinlaubidylle als gesellschaftlich akzeptierte Form von Realitätsflucht galt. Ein soziales Ventil gewissermaßen. Raufereien, Messerstechereien oder andere Gewalttaten gehörten beim Heurigen vielleicht nicht ganz so zur Folklore wie etwa bei Kirtagen oder Bierfesten, dazu gilt die Droge Wein in ihrer Wirkung als zu »sozial«, werden aber wohl auch vorgekommen sein.
Jedenfalls ging einer der grausamsten und bizarrsten Mordfälle der Wiener Kriminalgeschichte als sogenannter »Heurigenmord« in die Chronik ein: 1952 beschäftigte Wiener Zeitungen und deren Leser der gewaltsame Mord am sogenannten »Schokoladekönig vom Alsergrund« Johann »Hans« Arthold. Er wurde in der Nacht zum 22. November 1952 mit eingeschlagenem Schädel und durchtrennter Kehle in seinem Geschäft auf der Alser Straße vorgefunden, intensive Ermittlungen ergaben recht bald, dass er den Abend davor mit der um einundzwanzig Jahre jüngeren Adrienne Eckhardt bei einem Heurigen in Grinzing verbracht hatte. Nachdem zwischenzeitlich noch von einem geheimnisvollen Fremden als Mörder gesprochen worden war, gestand das dreiundzwanzigjährige Animiermädchen nach zweiwöchigem Verhör, dass sie die Gelegenheit von Artholds Einladung zum Heurigen genutzt hatte, um sich an ihm dafür zu rächen, dass er ihr einige Zeit davor das Angebot gemacht hatte, mit einer Prostituierten »widernatürliche« Sachen zu machen. Sie deponierte zu diesem Zweck einen Fleischwolf Marke »Alexanderwerk« in seinem Geschäft, und als man sich nach dem Heurigenbesuch dorthin begab, um noch Bier aus Pappbechern zu trinken, zog sie ihm den Fleischwolf ein paar Mal über den Schädel. Und weil ihr der Röchelnde leidtat, holte sie ein Messer aus dem vorderen Teil des Ladens, um dem Leiden ein Ende zu machen. Die nach einem spektakulären Prozess ursprünglich auf lebenslänglich festgelegte Haftdauer wurde letztlich auf zwanzig Jahre reduziert, Adrienne Eckhardt, die »Mörderin mit dem Fleischwolf« oder auch »Mörderin mit dem Engelsgesicht«, wurde 1967 entlassen.
Der Heurige, der kann’s also schon auch. Die vermeintliche Idylle, in der niemand mit Bösem rechnet, in der niemand die Hand am Feitl hat, ist natürlich trügerisch; die mitunter entrische Lage am Stadtrand, bei den Weinbergen, mit kaum Zeugen, vor allem keine nüchternen, wirkt für manche ermutigend; der Wiener Gemischte Satz, der zwar nicht gerade als Rabiatperle bekannt ist, aber in der richtigen Dosierung wohl auch schon enthemmend wirken und Aggressionspotenzial verstärken kann, trägt das seine bei; die mitunter tausend Jahre alten Gewölbe und Weinkeller unter den Heurigen, kaum ausgeleuchtet und auch nur wirklich ganz selten besucht, scheinen der ideale Ort für Verbrechen der düsteren Art. Und dann singt der Typ an der Zither auch noch die ganze Zeit vom Tod. Wer da nicht auf Gedanken kommt …
Florian Holzer ist Lokalkritiker bei der Wiener Stadtzeitung „Falter“ und der Tageszeitung „Kurier“ sowie Redakteur des Lokalführers „Wien, wie es isst“ im Falter Verlag. Er schreibt für Gourmet-Magazine im In- und Ausland und ist stellvertretender Chefredakteur bei „Gault Millau“.
Lisa Lercher ~ Stürmische Tage
Lisa Lercher
Stürmische Tage
Das Leben ist ungerecht
Nichts währt ewig. Das letzte Jahr hatte ihm seine Grenzen gezeigt. Wie bittere Medizin hatte er die Erkenntnis seiner eigenen Endlichkeit hinuntergewürgt, begonnen, sich in das Unvermeidliche zu fügen. Doch nun war alles anders. Er war wie Phoenix aus der Asche aufgestiegen, hatte unverhofft eine zweite Chance bekommen. Die würde er nützen, auch würde er einiges ändern. Das hatte er sich fest vorgenommen.
Er betrachtete die Frau an seiner Seite. Bald würden sie ihre Silberhochzeit feiern. Große Sonnenbrillen verbargen ihre Augen. Er lächelte sie an, wollte, dass sie diesen Tag genoss. Wie viel er ihr zu verdanken hatte, war ihm erst in seinen dunklen Stunden bewusst geworden. Er war sich nicht sicher, ob er an ihrer Stelle auch durchgehalten hätte.
Das Tor mit den metallenen Gitterstäben stand einladend offen. In steinernen Umrandungen blühten Dahlien, Astern und Tagetes. Zypressen warfen schmale Schatten auf den Weg.
Die Zwerchbreitelngasse trennte den alten vom neuen Teil des Friedhofs. Sein Blick fiel auf den Komposthaufen, auf dem Kränze und Bouquets verrotteten. Gleich gegenüber, ein paar Meter vom Eingang zum neuen Teil des Friedhofs entfernt, stand eine mächtige Platane, deren gezackte Blätter sich bereits verfärbten. Die Ausbuchtungen an ihrem schuppigen Stamm weckten Erinnerungen – an Eiterbeulen, Krankheit und Tod. Er schob sie energisch zur Seite, schritt rascher aus. Er hätte ihr diesen Abstecher ausreden sollen.
Das Familiengrab lag ganz oben, direkt vor dem vermorschten Bretterzaun, der sich zwischen Totenacker und Weinreben schob. Seine Frau nahm ein Grablicht aus ihrer Handtasche, entzündete den Docht mit ihrem Feuerzeug und stellte es in die Laterne.
Die in schwarzen Marmor gravierten Namen glitzerten golden. Vor ziemlich genau einem Jahr noch hatte er damit rechnen müssen, die kommenden Allerheiligen hier in Gesellschaft seiner verstorbenen Verwandten zu verbringen. Er wandte sich schaudernd ab. Seine Frau verschränkte die Finger ineinander und hielt den Kopf gesenkt. Betete sie?
Er ging die paar Schritte zum Hauptweg zurück, ließ, um auf andere Gedanken zu kommen, den fantastischen Ausblick auf sich wirken. Wie eine Kuppel wölbte sich das klare Herbstlicht über der Stadt. Im Vordergrund das zarte Gelb des Kirchturms und die hellroten Ziegeldächer der umliegenden Häuser, weiter hinten am Horizont schlängelte sich der Marchfeldkanal durch enges Grün. Neben der UNO-City stach der Donauturm in den Himmel, die Hochhäuser auf der Platte im Süden wirkten in der Weite des Beckens verloren. Schade, dass er den Fotoapparat zu Hause gelassen hatte.
Der Wind wehte Musikfetzen von der Kellergasse herüber. Er sehnte sich nach dem Trubel, der dort stattfand. Er hätte gern laut hinausgeschrien, dass er wieder da war, endlich wieder dazugehörte.
»Komm jetzt!«, sagte er und wippte ungeduldig mit dem Fuß. Seine Frau nickte, bückte sich und zupfte an einem Grashalm, der neben der Steinschale mit den Stiefmütterchen aus dem weißen Kies ragte.
Er deutete auf die Reklametafel, die die Stammersdorfer Kellergasse