Der taube Himmel. Herbjørg Wassmo

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Der taube Himmel - Herbjørg Wassmo


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Himmel war überall so offen. Das war ihr unangenehm. Die Luft war so klar. Alles war durchsichtig und lastete wie ein Druck auf ihr. Jede Nacht jagte sie über den Himmel und hinunter auf die Geröllhalde. Jede Nacht endete sie vor dem offenen Fenster. Der Abfluss war so groß. Während sie dahinraste, spürte sie den Wind auf der Haut. Im Gesicht. War leer wie ein flatterndes Kopfkissen auf der Leine im Wind.

      Sie stand in Frau Karlsens Badewanne. Das Wasser strömte an ihr herunter. Warmes Wasser. Ihr schwindelte in endlosen Augenblicken.

      Langsam seifte sie sich ein. Die Haare. Den Körper. Spülte sich ab und seifte sich erneut ein. Es war schon lange her, dass sie etwas als so wohltuend empfunden hatte. Man konnte sich darin ausruhen. Die Muskeln und die Haut bekamen wieder Leben. Unter dem Wasserstrahl. Sie wärmte sich. Erfrischte sich. Sie war sie selbst, so wie sie es vorher nie gewesen war.

      Ein paarmal spürte sie den Boden unter sich weichen, wenn sie in das Loch sah, durch welches das Seifenwasser mächtig schäumend und ruckweise in den Abfluss gesaugt wurde. Rosa. Sie konnte sich nicht an das viele Blut gewöhnen. Einmal musste doch Schluss sein. Sie sollte sich doch wohl nicht zu Tode bluten.

      Seifengeruch. Sie spülte die Haare, die sich spröde und sauber anfühlten, wenn sie mit den Fingern durchfuhr. Der Dampf stand wie eine Wolke vor dem kleinen halboffenen Fenster hoch oben an der Wand. Der Plastikvorhang mit seinen grellen violetten Blumen hing steif herunter. Alles war fremd, aber schön. Sie hatte das Gefühl, es vorher nie gesehen zu haben.

      Sie trocknete sich sorgfältig ab. Zog frische Wäsche an. Ließ das weite Hemd über den Jeans hängen. Hatte eine richtige Binde im Schritt, als ob sie ganz normal ihre Tage hätte.

      Sie riss das Fenster wegen des Dampfes weit auf, wagte aber nicht, die Tür zur Küche zu öffnen. Frau Karlsen war nur einkaufen gegangen, sie konnte jederzeit zurückkommen. Tora hatte die Erlaubnis zu baden. Trotzdem durfte Frau Karlsen sie nicht im Bad sehen. Es half auch nichts, dass sie angezogen war. Die Spuren könnten sie verraten. Unerwartet. Katastrophal. Nur ein winzig kleines Detail.

      Das Mädchen von der Insel spürte die Blicke im Nacken – auf dem Schulhof, in den Fluren oder auf der Straße. Sie war nie gesprächig gewesen. Aber jetzt schien sie die Sprache vollkommen verloren zu haben. Nur wenn sie die Aufgaben abgefragt wurde, brachte sie eine Art an sich selbst gerichtetes Flüstern zustande. Eine Stimme, die so wenig benutzt wurde, dass sie immer von neuem versuchen musste, einen Klang zu finden. Die Sätze kamen direkt aus dem Buch, durch das Mädchen hindurch und in den Raum. Es war, als ob ein Tonbandgerät in ihrem Magen säße. Aber im Übrigen konnte man von ihr nichts hören.

      Vor allem Anne versuchte, Kontakt zu ihr zu bekommen. Ob sie ins Kino gehen wollten? Ins Café? Tora hatte tausend Entschuldigungen. Man kam nicht an sie heran. Seit sie damals im Herbst ohnmächtig geworden war, war in den Augen der anderen etwas Geheimnisvolles an ihr hängen geblieben. Sie sprach nie über sich selbst. Die anderen wussten kaum, wo sie wohnte. Sie war glatt wie ein Aal. Saß an ihrem Tisch. Ging in den Pausen hinaus. Erhob sich auf Kommando wie ein Soldat und leierte ihre Aufgaben herunter. Schrieb, was ihr diktiert wurde. Alles gleichermaßen ausdruckslos, wie ein Roboter.

      4

      Ingrid wartete auf Post von Tora. Schließlich wusste sie sich keinen anderen Rat mehr, als nach Bekkejordet zu gehen und Simon und Rakel zu fragen, ob sie das Telefon benutzen dürfe.

      Nach Worten suchend, erklärte sie, dass sie Ingrid Toste sei. Toras Mutter. Ob Tora krank sei, weil sie nicht schreibe.

      Frau Karlsen zeigte freundliche Teilnahme. Ja, Tora habe eine unangenehme Grippe gehabt und im Bett gelegen, aber das sei schon eine Woche her. Die Schulaufgaben hätten sie wohl am Schreiben gehindert. Sie sei immer zu Hause, immer ruhig und ordentlich. Ja, die beste Untermieterin, die sie je gehabt habe. Es sei schön, einen Menschen im Haus zu haben, wenn man Witwe geworden sei. Sie habe ja viele Jahre allein gelebt, natürlich, weil der Mann krank und bettlägerig und im Altersheim gewesen sei. Und das sei gutgegangen. Aber es sei doch etwas anderes, zu wissen, dass man allein war. Ingrid machte vorsichtig, aber entschieden Schluss und legte auf.

      »Was hat sie gesagt?«, fragte Rakel und sah die Schwester fragend an.

      »Dass sie Witwe geworden ist.«

      »Witwe?«

      »Ja, Frau Karlsen. Aber die Tora war nicht da. Sie lernt sicher so viel, dass sie keine Zeit zum Schreiben hat … Sie hat die Grippe gehabt …«

      »Aber hat sie dir nicht gesagt, wann die Tora nach Haus kommt?«

      »Ich hab vergessen zu fragen. Sie hat so viel geredet. Ich hab direkt Kopfschmerzen davon.«

      Rakel lachte und schenkte noch mehr Kaffee ein. »Ja, ja, nun kommt sie Ostern wohl, du wirst schon sehn.«

      Ingrid schaute auf die Tischdecke. »Ich glaub fast, dass sie nicht kommt!«

      »Warum sollte sie denn nicht kommen?«

      »Sie ist seit Weihnachten nicht mehr zu Haus gewesen. Ja, sie hat natürlich auch nicht genug Geld, um zu fahren. Geld hat sie von mir nicht grad viel bekommen.«

      »Liebe Ingrid, da hätt sie ja wohl schreiben können, wenn sie blank ist.«

      »Nein, die Tora nich.«

      »Soll ich ihr denn ’n paar Kronen schicken?«

      »Nein, was ich ihr geschickt hab, reicht bestimmt bis Ostern.«

      Rakel fasste Ingrid am Arm. »Aber da haste doch getan, was du konntest. Und wenn sie nur Geld bis Ostern hat, dann muss sie ja nach Haus kommen.«

      »Sie schreibt ja auch nicht.«

      »Vielleicht hat sie sich verliebt.«

      »Die Wirtin hat gesagt, dass sie nie fortgeht. Ich bin ganz unruhig deswegen. Ich denk überhaupt an nichts andres mehr, als was die Tora macht.«

      »Das versteh ich gut.«

      Wie so oft, wenn sie zusammensaßen und redeten, hielt Ingrid den Blick gesenkt. Es irritierte Rakel auch diesmal. Aber sie ließ es sich nicht anmerken. Ingrid hatte ihre Gründe.

      Und Rakels Kümmernisse wurden dagegen zu einer Bagatelle. Wirklich kein Grund, sich wichtig zu machen. Das Geschäft blühte in dieser Saison wie noch nie. Den Schafen ging es gut im Stall, und der Frühling und der Almauftrieb standen bereits vor der Tür.

      Rakel hatte weniger Schmerzen. Sie wusste wohl, dass das Übel noch da saß. Aber die Ärzte hatten ihr Leben und Gesundheit so gut wie versprochen. Sie reiste immer wieder zur Behandlung nach Oslo. Hatte sich schon fast ans Reisen gewöhnt.

      Sie stellte sich vor, es sei eine Ferientour. Versuchte, nicht daran zu denken, dass sie ins Krankenhaus musste, zu Bestrahlung und Untersuchungen, Proben. Übernachtete in Bodø im Hotel, bevor sie das Flugzeug nach Süden nahm. Ging in Geschäfte. Ins Kino. Hatte in sich einen versiegelten Raum, in dem sie alles versteckte, was ekelhaft und krank war. Aber jedes Mal, wenn sie in den breiten Türen des Krankenhauses stand, war die Gerichtsverhandlung im Gange.

      Auf dem Heimweg graute ihr bereits vor der nächsten Tour. Die Sehnsucht nach Simon war ein Garten voller Früchte, von denen sie nicht zu essen wagte. Sie schien sich einzubilden, dass sie dafür bestraft würde. Deshalb kaufte sie sich etwas zum Anziehen, statt ihren Gefühlen freien Lauf zu lassen. Satinblusen. Moderne Faltenröcke mit glattem Hüftteil. Alle Arten von Schuhen. Je mehr Warnungen sie über die Krankheit bekam, umso mehr suchte sie Zuflucht in diesen Nichtigkeiten. Sie war sich selbst klar darüber. Lächelte bitter über ihr eigenes Verhalten.

      Aber wenn sie Ingrids Sorgen sah, ihre Plackerei, damit es vorne und hinten reichte, wurden ihre eigenen Kümmernisse so klein.

      Sie wünschte, sich in Ingrids Schoß ausweinen und Erleichterung finden zu können. Aber das war unmöglich. Ingrid würde auch das noch auf sich nehmen und Rakels Krebs der langen Kette von Schicksalsschlägen hinzufügen, die sie jeden Tag im Tausendheim in sich verschloss. Hätte Ingrid doch etwas mehr Fähigkeit zur Freude gehabt!

      »Soll


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