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      »Ich find, du solltest das hier nicht so schwernehmen. Du wirst schon sehn, da ist irgendein Grund. Mach dir doch nicht solche Sorgen. Davon wird’s auch nicht besser.«

      »Du hast gut reden«, murmelte Ingrid. Sie zog sich den verschlissenen Mantel an. »Du hast kein Kind, an das du denken musst.«

      »Nein, da haste recht, Ingrid«, sagte Rakel mit flammenden Wangen.

      Es erstaunte sie jedes Mal, wenn Ingrid sie verletzte. Es war jedes Mal der gleiche Schock. Sie glaubte immer, es sei unmöglich, so etwas von Ingrid gesagt zu bekommen. Aber sie konnte ihr nicht widersprechen. Konnte es nicht, weil sie überzeugt war, dass die andere gar nicht ahnte, was sie Schlimmes gesagt hatte. Manche Menschen merkten nie, dass sie eine tödliche Lawine auslösen konnten.

      Und Rakel, die sonst über alles ungeniert redete, sank in sich zusammen und verbarg ihre Wunden vor ihrer einzigen Schwester.

      Rakel legte den Napfkuchen auf einen geblümten Teller mit gebogenem Rand. Sie hielt den Teller gegen das Licht und betrachtete ihn einen Augenblick. Als ob sie ihn auf Katzenhaare oder eine andere Unreinlichkeit hin inspizieren wollte. Dann stellte sie ihn entschlossen ab.

      »Der Henrik sagt, das ist der Dank dafür, dass ich sie auf die Schule nach Breiland schick. Es steigt ihr zu Kopf. Zu Haus ist ihr nichts mehr gut genug. Er meint, dass sie schon Weihnachten bockig und trotzig war«, murmelte Ingrid.

      »Ach so, der Henrik sagt das.« Rakel grinste nicht einmal.

      Ingrid verstand trotzdem die Spitze und senkte den Kopf. Hatte gelernt, den Kopf zu beugen. Das konnte sie am besten.

      »Ja, ich weiß, was du vom Henrik hältst. Er trägt in alle Zukunft einen Stempel. Aber du kannst ihm ja wohl gönnen, eine Meinung über die Sache zu haben.«

      »Ich gönn dem Henrik alles Gute, meine Liebe. Und ich hab den Henrik bis zum Geht-nicht-mehr verteidigt, ob das nun bei dem Gerichtsverfahren war oder zu Haus, wenn ich mit dem Simon gestritten hab. Jetzt will ich davon nichts mehr hören. Aber ich hab nie gesehn, dass der Henrik sich bemüht hätte, anderen das Leben zu erleichtern. Das muss ich doch mal sagen, wenn wir schon dabei sind.«

      »Was meinste?«

      »Stell dich nicht so dumm! Hat er jemals auch nur den kleinen Finger gerührt, um für dich oder Tora irgendetwas zu tun? Das weißte wohl. Wie ihr miteinander auskommt, wenn ihr allein seid, das geht mich nichts an … Ich mein nur, du solltest dich von ihm scheiden lassen!«

      Sie hatte es ausgesprochen. Ohne Einleitung. Hart. Ohne Umschweife. Der Nachklang war das Schlimmste.

      Von Ingrid kam kein Laut.

      »Ja! Liebste ihn denn etwa?«

      Rakel schrie es heraus wie eine Anklage. Stand da, die Hände in die Seiten gestemmt. Mit halb offenem Mund. Bereit, den nächsten Satz herauszuschleudern. Bereit, Ingrid in Grund und Boden zu reden, wenn sie sich verteidigte. Sie zu überzeugen. Sie von sich selbst zu erlösen. Zum ersten Mal störte sie die schnurrende Katze auf der Torfkiste.

      Ingrid legte den Kopf auf den Tisch, schützte ihn mit ihren dünnen Armen, so gut sie konnte.

      Rakel betrachtete sich selbst. Sie fühlte sich nicht wohl in ihrer Haut. Sie schämte sich so, dass ihre Wangen brannten. Wusste nicht, was schwerer wog: ihr eigener Hochmut – oder dass sie ihn dazu benutzt hatte, sich für einen gedankenlosen Satz über ihre Kinderlosigkeit zu rächen. Es ging ihr auf, dass es vielleicht nur wenige gab, die bereit waren, Mensch für andere Menschen zu sein. Dass sie da keine Ausnahme bildete. Aber sie war nicht fähig, die Hand auszustrecken und Ingrid zu berühren. Es war, als ob etwas sie festhielte.

      Sie ging zögernd durch den Raum und wischte die Krümel vom Küchenschrank, um Zeit zu gewinnen.

      »Kümmer dich nicht um das, was ich sag, Ingrid.«

      »Ich weiß nicht, was mit mir los ist, dass ich so wenig aushalte …« Ingrid hielt die Tränen zurück und zog ein Taschentuch hervor.

      »Du hast es nicht gut, Ingrid. Du hast zu viel Verantwortung, zu viel Schinderei. Du solltest einen Mann haben, der ’n bisschen auf dich aufpasst, nicht einen, der kritisiert, dass die Tora auf die Schule geht, und der dir das Leben sauer macht.«

      »Der Henrik hat’s auch nicht so leicht …«

      Rakel hat plötzlich das ekelhafte Gefühl, sich zu langweilen. Sie weiß, dass sie ein paar tröstende Worte finden müsste. Ablenken davon, dass Tora weit weg und Henrik ewig schlechter Laune ist – bis irgendetwas Ingrids Stimmung wieder aufhellt. Aber sie steht einfach da und langweilt sich. Hat das Gefühl, dass sie mit Ingrid nicht wie mit einer Ebenbürtigen reden kann. Weiß nicht, warum sie sich doppelt so alt fühlt, obwohl Ingrid älter ist und viel, viel mehr erlebt hat. Sie hat immer mit Erstaunen festgestellt, dass Ingrid nie etwas aus all dem lernt, durch das sie hindurchmuss. Ingrid wird nur immer tüchtiger bei ihrer Arbeit. Hat keinen Drang zur Auflehnung, keinen Trotz, schluckt Hass und Groll herunter – und lässt sich immer wieder schlagen.

      Ingrid raffte den alten Mantel um sich, stand auf und war bei der Tür. Sie sah Rakel mit einem seltsamen Blick an. »Nein, ich muss jetzt machen, dass ich wegkomm, es ist schon spät …«

      Ihre Stimme klang wie gewöhnlich.

      Rakel blieb stehen.

      Sie sah, wie Ingrid die Gartentür öffnete und wieder schloss, ohne ein Auge auf das Haus oder das Küchenfenster zu werfen. Sah sie die Hügel hinuntergehen. Langsam. Stetig. Alles war gesagt.

      Nichts war gesagt. Nichts war entschieden.

      Kurz bevor Ingrid in dem Wäldchen verschwand, kam Rakel zu sich. Sie riss die Tür zum Windfang auf und ergriff das erste Beste, was sie da draußen fand. Simons Stalljacke. Schlüpfte in ein Paar abgeschnittene Stiefel und stürmte taumelnd auf dem matschigen Weg Ingrid nach. Erreichte sie schnell. Sprang sie von hinten an und hielt sie fest.

      »Ich bin einfach schrecklich, Ingrid!«

      Ingrid fuhr sich mit steifen Händen über das Gesicht. »Du willst doch nur in allem Ordnung haben. Ordnung …«

      Rakel begleitete Ingrid die Hügel hinunter bis zu den ersten Häusern. Da kehrte sie um, weil sie nur die Stalljacke und die abgeschnittenen Stiefel anhatte. Sie zeigte an sich hinunter und lachte. Sie lachten beide ein wenig.

      »Ich versuch, mehr über Tora zu erfahren, dann komm ich zu dir runter.«

      Ingrid nickte. »Ich bin’s ja nur, die sich aufregt. Du hast ja recht. Was soll denn hier auf der Insel aus Tora werden? Ich bin auch mal von hier geflohn … Danach war’s zu spät. Es ist, als ob alles mich erstickt hätte – und es mir ermöglichte zu leben, ohne zu atmen.«

      Sie hob die Hand zum Gruß. Eine schwerelose Bewegung. Ein heimliches Verstehen. Wie damals, als sie junge Mädchen gewesen waren und sich stritten, aber genötigt gewesen waren, wieder Freundinnen zu werden, weil sie nur einander hatten. Gemeinsamen Kummer. Gemeinsame Geheimnisse. Gemeinsame Schrammen und Träume.

      Der Schnee war trotz allem zusammengeschrumpft auf den Wiesen und Äckern. Er schmolz am Waldrand und in den Gräben. Aber der Frost biss Rakel in die Ohren.

      5

      Jeden Tag brach sie eine Scheibe Brot in Stücke und legte sie auf die Fensterbank. Winzig kleine Bissen. Dann setzte sie sich auf einen Hocker und wartete. Die schwarze Krähe. Die schimmernde, glänzende Elster. Sie kamen. Drehten jäh im Flug ab, wenn sie sie sahen. Verstanden, dass sie Wache hielt. Dass die Bröckchen nicht für sie waren. Es war nicht deren Junges, das sie in die Geröllhalde gelegt hatte.

      Oh nein, wirklich nicht. Sie wussten sicher, mit wem sie die Bröckchen teilen wollte.

      Sie zog langsam das Gummi von ihrem Pferdeschwanz und schüttelte die Haare aus. Sie lüftete sie, während sie dasaß. Sie wartete wohl auf ein Rotkehlchen. Oder einen Finken. Einen Wintervogel. Einen, der nicht vor dem Winter flüchtete.

      Sie aß ihr eigenes Brot und trank


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