Menschen im Krieg – Gone to Soldiers. Marge Piercy

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Menschen im Krieg – Gone to Soldiers - Marge Piercy


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      Auf der Suche nach dem Inbild der Jugend

      14 mai 1939

      Marie Charlotte ist meine absolut beste und liebste Freundin und der einzige Mensch auf der Welt, dem ich meine geheimsten Gedanken und Wünsche anzuvertrauen wage. Suzanne hat bewiesen, was für eine falsche Schlange sie ist, und ich werde nie, nie wieder so dumm sein, ihr zu trauen. Ich schäme mich, dass ich so blöde war, ihr von dem kleinen Gespräch mit Philippe im Musée Carnavalet zu erzählen. Wer hätte auch gedacht, dass sie gleich zu ihm hingeht und mit der für sie typischen lauten, ordinären Stimme, damit es nur ja jeder hört, verkündet: Ich höre, Jacqueline ist jetzt deine Freundin, dein Liebchen.

      Ich bin die unglücklichste Siebzehnjährige in meiner ganzen deuxième classe am lycée Victor Hugo. Marie Charlotte hat nur eine jüngere Schwester, die ihr das Leben schwer macht, aber ich habe zwei: doppelt gemoppelte Plage. Ich kann von Glück sagen, dass Maman nicht geschmacklos ist und den Zwillingen nie diese abscheulichen, gleich aussehenden Kleider anziehen würde. Maman achtet sogar sehr darauf, ihnen immer verschiedene Sachen zu geben, aber die kleinen Biester finden es komisch, die Leute zu verwirren. Heute ist Renée in Nadines Rock und Pullover gegangen, und Nadine trug Renées, und die kleinen Biester fanden es lustig, den ganzen Tag lang so zu tun, als seien sie die andere. Sie verständigen sich mit Grunzlauten wie Wilde oder Hunde und manchmal, könnte ich schwören, durch Gedankenübertragung.

      Maman weigert sich einfach zu verstehen, dass es eine Demütigung ist, diese Bälger mit in den Park schleppen zu müssen oder ins Kino. Sie haben ständig nur Unfug im Sinn und toben herum wie die schlimmsten Gassenbengel und schlagen sich die Knie auf und lachen lauthals. Damit nicht genug, nennen sie sich gegenseitig Rivka und Naomi, solche peinlichen Ghettonamen, dass ich sie ohrfeigen könnte. Am Samstag hat Maman mich gezwungen, sie mitzunehmen, als ich mit Suzanne (diesem Luder) und meiner lieben Marie Charlotte ins L’Étoile gegangen bin. In der Szene, wo Gabrielle ihrem Geliebten François in die Arme sinkt, haben diese Monster geschmatzt und gekichert. Ich war gedemütigt. Ich werde nicht mehr ins Kino gehen, wenn das bedeutet, die Zwillinge mitzunehmen, und das werde ich Maman klarmachen! Manchmal, wenn Marie Charlotte und ich auf unserer Spezialbank im kleinen Park Georges Cain beim lycée sitzen, pirschen sich die kleinen Biester an, um uns zu belauschen.

      Ich glaube an das Allgemeine, nicht an das zufällige Besondere. In diesem Haus in der Rue du Roi de Sicile (deren Namen niederzuschreiben mir zugegebenermaßen immer noch einen vernunftwidrigen Genuss bereitet, wegen seines mit der Wirklichkeit so unvereinbaren romantischen Klanges) im Vierten Arrondissement unweit der Metrostation St. Paul geboren zu sein, ist lediglich eine Sache des Zufalls und hat keine bleibende Bedeutung. Ebenso ist es nicht wahrhaft von Belang, dass ich Jacqueline Lévy-Monot genannt werde und nicht zum Beispiel Marie Charlotte Lepellier. Ich möchte das finden, was im menschlichen Leben wahr, bleibend und allgemeingültig ist, statt in meiner kleinen Ecke zu sitzen und mir immer wieder sogenannte Volksweisheiten, so dumm wie jeder andere Aberglaube, vorzusagen, wie es Maman tut: »Nor a schtejn sol sajn alejn«, nur ein Stein sollte allein bleiben, als wären wir hier nicht zusammengepfercht. Die Etiketten, mit denen wir einander versehen, hindern uns daran, zur Wahrheit vorzudringen, und wir müssen uns die Etiketten nicht nur von den eigenen Gesichtern reißen, sondern sie auch aus unserer Sicht auf andere verbannen. Engstirnigkeit ist der größte Feind des Fortschritts, so glaube ich, und ich habe einen Aufsatz dieses Inhalts geschrieben, der den zweiten Preis gewann, einen Petit Larousse, den ich jeden Tag benutze.

      Ich ringe mit der romantischen Schwäche in mir, die zum Beispiel den Namen unserer engen Straße mag, die letzten Endes nur eine heruntergekommene Durchfahrtsstraße von beträchtlichem Alter, aber geringem architektonischem Wert ist, gesäumt von Läden und Geschäften wie dem Kürschner, bei dem Maman arbeitet, über denen sich kleine, überfüllte Wohnungen wie die unsere häufen. In unserem Erdgeschoss ist eine koschere Fleischerei. Die Straße des Königs von Sizilien, wo höchst königlich die alten, roh gemauerten Eingangsflure, dunkel wie kleine Bergwerksschächte, nach Urin stinken, wo höchst königlich Tag und Nacht Maschinen dröhnen und Nähmaschinen rattern. Der König von Sizilien muss auf abgelaufenen Absätzen gegangen sein und seine Mäntel geflickt haben, wie Maman es mit unseren tut.

      Wie soll ich sie je überleben, diese Wüste aus Zeit, die sich endlos und trostlos vor mir erstreckt, bis ich endlich als Erwachsene für mich sein werde und mich nicht mehr von morgens bis abends meiner Familie erklären muss? Eine Familie ist ein zufällig entstandenes Gebilde, eine Gruppe von Menschen, die der Zufall zusammengeführt und gezwungen hat, auf ungenügendem Raum zusammenzuleben. Wenn ich nicht meine winzige Stube im obersten Stock hätte, eine Treppe höher als unsere Wohnung, ich würde ersticken!

      15 septembre 1939

      Seit zwei Wochen sind wir im Krieg, aber das Leben scheint ziemlich unverändert. Überall werden königsblaue Verdunkelungsvorhänge angebracht, falls Luftangriffe kommen. Maman macht sich Sorgen, dass Papa einberufen wird. Ich habe mit der première classe begonnen. Ich habe zwei Nachhilfeschülerinnen, denen ich nach der Schule Stunden gebe, Immigrantinnen mit mangelhaften Französischkenntnissen, eine süße Zehnjährige und eine dicke Elfjährige, die mit offenen Augen schlafen kann. Noch niemand hat dieses Gehirn aufgeweckt, das in ihrem Schädel ruht wie eine sonnenbadende Schildkröte. Ich beabsichtige, die Schale aufzubrechen! Die Zehnjährige ist meine Kusine, erzählt mir Maman, als kündigte sie eine köstliche Süßspeise an, wohingegen ich mir die größte Mühe gebe, allein aufgrund der von einer Schicksalslaune willkürlich zusammengewürfelten Gene keinerlei Vetternwirtschaft aufkommen zu lassen. Aus Kozienice, sagt Maman mit lächerlicher Aufgeregtheit: irgendein staubiges Nest in Polen, wo Maman zufällig geboren wurde, ein Fehler, den sie intelligent genug war richtigzustellen, indem sie mit sechzehn nach Frankreich ging. Tante Batya sieht älter aus als Maman, obwohl sie die nächstjüngere Schwester ist, und zieht sich unmöglich an, wie eine Bäuerin.

      Manchmal fühle ich mich zur Lehrerin berufen, weil ich die Begabung dafür habe, und ich halte das für eine ebensolche Begabung wie die zur Schauspielerei, die ich gleichfalls zu besitzen glaube. Maman sagt mir, dass alle jungen Mädchen Schauspielerinnen werden wollen, weil sie sich vorstellen, das brächte Glanz und Ruhm. Ich weiß, dass es harte Arbeit ist, eine andere Persönlichkeit anzunehmen. Maman hält mich für naiver, als ich bin. Beide Begabungen erfordern, andere zu verstehen, und beide erfordern eine besondere Art der Demut. Maman meint, es ist Egoismus, der mir den Wunsch eingibt, Schauspielerin zu werden, aber ich sehe es als eine Art Selbstverleugnung, worin meine eigene Persönlichkeit sich dem Charakter einer anderen unterordnet, einer Berenice, einer Phädra, einer Julia.

      Literatur zu unterrichten heißt gewissermaßen, sie darzustellen. Beide Gaben beeinflussen und ergänzen einander, aber ich fürchte, beide Begabungen zu haben ist so schlimm, wie keine zu haben. Maman hat etwas Grausames zu mir gesagt, als ich ihr gegenüber meine Zweifel erwähnte, meiner Berufung zu folgen. Sie sagte, ich nähme mein hübsches Aussehen viel zu ernst. Seitdem habe ich mich einer Selbstdisziplin unterworfen, die wenigstens mir beweisen soll, wie sehr sie sich in ihrer Einschätzung meiner Ernsthaftigkeit irrt. Ich habe mir die ganze Woche lang verboten, in den Spiegel zu schauen. Wenn ich mir die Haare kämme, tue ich es nur mit dem Tastsinn. Niemand in der Familie hat meine neue Disziplin bemerkt, aber das ist mir recht, denn wenn ich sie erklärte, würde ich bestimmt für meine Anstrengungen verspottet werden.

      Ich verstehe nie, was die Leute meinen, wenn sie mich hübsch nennen, denn wenn ich in meine Augen schaue, sehe ich Verzweiflung, Entzücken, Freude, Trauer, eine gründlich forschende Neugier, Mitgefühl, einen distanzierten, fragenden Geist; Chaos und Kampf. Marie Charlotte ist hübsch. Sie hat ein gelassenes, reines Gemüt, in dem unumstößliche Ideen zur Ruhe kommen, und sie ist mit ihnen zufrieden, so wie ich mit den Möbeln in meiner Mansardenkammer zufrieden bin. Aber ich glaube, mein Gesicht ist so wandelbar wie meine Seele. Vielleicht kann ich nur als Schauspielerin diese Tiefen und Höhen enthüllen, diese Stürme, die unsichtbar toben und mich zutiefst durchrütteln. Wenn andere mich hübsch nennen, meinen sie mir zu schmeicheln, aber ich fühle mich geschmälert, unsichtbar hinter der Maske, die sie erschaffen, nicht ich.

      21 février 1940

      Papa hat seinen Gestellungsbefehl, und wir sind alle erschüttert. Er ist sehr fröhlich und sagt,


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