Er, Sie und Es. Marge Piercy

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Er, Sie und Es - Marge Piercy


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vor kurzem war Shira eingefallen, dass er damals wahrscheinlich ihr Liebhaber war. Shira war zu der Zeit zu jung, um es zu verstehen, neun, zehn, elf; und Malkah war diskret. Kein Mann hatte je in diesem Haus gewohnt. Malkah hatte nie geheiratet. Wenn du heiratetest und ein Mann tat dir weh, so erkannte Shira, dann hattest du keinen Ort, an den du dich flüchten konntest, keinen Ort, an dem du dich verstecken und deinen Schmerz verheilen lassen konntest.

      Malkah gab ihr ein großes Taschentuch. »Ich muss nach meiner Suppe sehen. Hast du deinen Freund da gefüttert?«

      »Noch nicht.« Sie hatte es vergessen, und Hermes hatte sie nicht daran erinnert. Jetzt stand er auf, streckte und reckte sich, machte sich auf den Weg zur Küche und schaute sich erwartungsvoll nach ihr um.

      Sie wischte sich das Gesicht ab. Wie konnte sie mit so viel Schmerz leben? Sie konnte sich nicht vorstellen, wie sie weitermachen sollte.

      Sie aß die Suppe doch. Malkah hatte recht: Sie besänftigte auf kleine Weise. Sie war froh, dass Malkah heute Abend gekocht hatte. An den meisten Abenden holte eine von ihnen die Mahlzeit aus der Allmende-Kantine; manchmal aßen sie dort mit der halben Stadt. An anderen Abenden kochte Malkah, und hin und wieder ließ sie Shira durch das Haus bitten, abends zu kochen. Malkah tat das manchmal, wenn sie wusste, dass Gadi zum Abendessen kam. Ein anderer Teil von Shiras Leben, der nun brachlag, so zerstört wie die weiten Flächen toter Bäume, die einmal Ahornbäume waren, vor dem sauren Regen, bevor das Klima zu warm für sie wurde. Würde ihn jetzt Hannah zum Abendessen nach Hause mitnehmen? Wie kam er nur auf Hannah?

      »Sind heute nicht deine Versteigerungsergebnisse gekommen?«

      »Oh.« Shira blinzelte. »Was habe ich bloß damit gemacht? Ich hatte sie dabei, als ich … ich hole sie. Ich habe sie im Hof fallen lassen.« Sie stand vom Tisch auf und lief den Ausdruck suchen.

      Malkah nahm ihn ihr aus der Hand, überflog ihn. »Offensichtlich war es nicht das, was dich so erschüttert hat.«

      Shira schaute in ihre leere Suppenschüssel. »Mir geht’s wieder gut.«

      »Dein junger Mann also.«

      »Er ist nicht meiner. Nicht mehr.«

      »Shira, ihr seid zu jung, um euer Lebtag zusammengeschweißt zu bleiben. Du hast nie auf mich gehört, wenn es um Gadi ging, und du wirst jetzt nicht damit anfangen, ich weiß. Ich konnte dich nicht davon abhalten. Niemand kann verliebte Kinder davon abhalten, nur räumliche Trennung. Aber du wirst nie erwachsen werden, wenn ihr einander nicht loslasst.«

      »Ich will nicht darüber reden.« Shira stand auf. »Ich räume jetzt den Tisch ab, wenn du mit Essen fertig bist.«

      »Trotzdem, irgendwann müssen wir reden.« Malkah fixierte sie mit ihrem dunklen Blick, einem Strahl aus Energie und Willenskraft. »Wir müssen auch über die Versteigerung entscheiden.«

      »Was kümmert mich das noch?«

      »Gadi wäre nie in die gleichen Universitäten gelangt, die sich um dich reißen, Shira. Du wirst dafür bezahlt, dass du hingehst. Avram wird für ihn bezahlen müssen.«

      »Er ist gescheit! Er ist genauso klug wie ich.«

      »Aber fauler. Und verzettelt.«

      »Aber er ist begabter als wir alle … Nein, ich will ihn nicht mehr verteidigen, ich will ihn nicht erklären. Ich hasse ihn!« Shira begann abzuräumen.

      »Du liebst zu heftig. Das besetzt die Mitte und zwängt deine Stärke hinaus. Wenn du in deiner Mitte arbeitest und am Rand liebst, wirst du am Ende besser lieben, Shira. Du wirst großzügiger geben ohne aufzurechnen, und was du bekommst, wirst du genießen.«

      Malkah wusste nicht, was Liebe war. Shira weigerte sich, weiter darüber zu reden.

      Nach dem Abendessen saßen beide schweigend im letzten Ebenholzzwielicht des Hofes. Malkah war im Netz, hatte sich eingestöpselt in die totale Projektion. Alle in Tikva waren mit Schnittstellen ausgestattet. Sie hatten nicht die üppigen Stimmiespektakel, für die andere Städte sich begeisterten, sie hatten keine Hochempfindlichkeitsfolien oder Windkabinen, aber jedes Kind, das der Stadt geboren wurde, war ausgestattet für direkten Zugriff zum Netz, war Erbe des gesamten Wissens aller Zeitalter.

      Das Netz war eine öffentliche Einrichtung, an die Gemeinwesen, Konzerne, Städte, sogar Einzelpersonen angeschlossen waren. Es enthielt die allseitige Information der Welt, lebende Sprachen und viele tote. Es hatte Inhaltsverzeichnisse aller zugänglichen Bibliotheken und bot entweder den vollständigen Text an oder Zusammenfassungen von Büchern und Aufsätzen. Es war das allgemeine Kommunikationsmittel und akzeptierte Bilder, Code oder Stimme. Es war auch ein Spielplatz, ein Irrgarten von Spielen und von Knotenpunkten für Spezialinteressen, ein großes Clubhaus mit vielen tausend Räumen, ein Ort, wo Menschen sich begegneten, ohne sich jemals zu sehen, außer sie zogen es vor, ein Abbild von sich zu zeigen – das ihrem tatsächlichen Aussehen entsprechen mochte oder auch nicht.

      Shira hatte ebenfalls die Augen geschlossen. Hermes lag ungeschickt auf ihrem Schoß, für den er viel zu groß war, während sie vorgab zu lernen. Stattdessen war sie angeschlossen an ein Netzprogramm aus Farben und Figuren, die sich vor ihren geschlossenen Augen bildeten, an Wasser erinnerten, schimmernde Grau-, Grün- und Brauntöne. Sie war nicht total projiziert, sondern distanziert, schaute von außen, ließ den Schmerz sanft in sich hineinströmen wie fließendes Wasser.

      Plötzlich, um zwanzig Uhr dreißig, kündigte das Haus Gadi an. Shira schoss empor, der Kater verlor den Halt. Die Buchse wurde aus dem Anschluss in ihrer Schläfe gerissen, ihr wurde übel von der plötzlichen Unterbrechung. Das Haus war seit Jahren programmiert, Gadi zu erkennen und einzulassen, also hatte es ihm einfach aufgemacht. Dummes Haus!

      Shira beschloss, in würdigem Schweigen dazustehen und abzuwarten. Aber sowie er mit lockeren, langen Schritten in den Hof geschlendert kam, brach es aus ihr heraus: »Was hast du hier zu suchen? Wieso bist du nicht bei ihr?«

      Malkah war da, aber nicht mit ihrem Bewusstsein, blind und taub, total in das Netz projiziert. Gadi warf ihr einen Blick zu, erkannte ihren Zustand, und beide verhielten sich, als sei sie ein Möbelstück.

      »Ach komm, das hatte nichts zu bedeuten«, begann Gadi in einem Tonfall, als gelte es, ein krötiges Kind zu besänftigen. »Hier bin ich, bei dir wie immer. Wärst du heute nicht so reingeplatzt, würdest du dich überhaupt nicht aufregen.«

      »Ach, du kannst alles machen und es ist meine Schuld, wenn ich es rausbekomme!«

      »Sind wir verheiratet? So benimmst du dich. Seit unserem siebenten Lebensjahr sind wir verheiratet, das reinste Gefängnis!«

      »Wenn du denkst, ich halte dich gefangen, dann flieh doch! Die Tür steht offen. Bedien dich.«

      »Das habe ich auch vor. Ich habe ein Recht zu leben, andere Menschen kennenzulernen, zu erkunden, wer ich bin und wer sie sind.«

      »Und, war es eine transzendentale Erfahrung, Hannahs Möse zu erkunden?«

      »Shira, wir sind siebzehn Jahre alt. Frag Malkah, ob wir nicht offen sein sollten, andere Menschen kennenzulernen.«

      Beide schauten zu Malkah – versunken, die Augen geschlossen. Vielleicht stellte sie Nachforschungen an, vielleicht hielt sie ein Seminar ab mit zwanzig anderen projizierten Teilnehmern, vielleicht flirtete sie mit jemand oder diskutierte.

      Shira zitterte vor Empörung. »Ach, auf einmal regiert der gesunde Menschenverstand, die Erwachsenen haben recht, komm, wir vergessen einfach, dass wir uns lieben, und spielen Bilderbuch-Teenies.«

      »Wieso kamst du überhaupt rübergerast? Weil du deine Versteigerungsergebnisse hattest, stimmt’s?«

      »Ich wollte darüber reden, was wir mit der Universität machen.«

      »Wir? Zeig mir mal deine Versteigerungsergebnisse. Na los, zeig sie mir.«

      »Dir zeige ich überhaupt nichts.«

      »Sie reißen sich doch um dich, oder? Sie glauben, sie können dich zu Geld machen. Schufte einfach vier Jahre so weiter, und dann kriegen sie einen guten Preis


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