Er, Sie und Es. Marge Piercy

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Er, Sie und Es - Marge Piercy


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ein Gefühl, als ob alle Räume ihrer Kindheit plötzlich die Plätze tauschten. Sie war ärgerlich, sogar wütend auf Malkah, weil sie sie angelogen hatte, weil sie sie zum Narren gehalten hatte. In Kinderbüchern buken bobes Kekse und strickten; ihre Großmutter tanzte wie eine Primaballerina durch die Spinnennetze der künstlichen Intelligenz und zählte sich mit früheren Liebhabern in den Schlaf.

      Als Shira an diesem Abend im Bett lag, wirbelten ihr Bruchstücke des Tages durch den Kopf. Jetzt verstand sie ihre ungewöhnliche Position bei Y-S. Wenigstens hatte es nicht an ihren Fähigkeiten gelegen, ihren Arbeitsergebnissen. Durch diese Information fühlte sie sich gerechtfertigt, rehabilitiert, aber gleichzeitig wurde ihre ganze Vorstellung von ihrer fremden Mutter auf den Kopf gestellt. Wenn Riva wirklich bald kommen würde, dann konnte das leicht heißen, dass Shira Ari nie zurückgewinnen würde. Ja, wie konnte sie überhaupt hoffen, ihn Y-S abzuringen? Seine Testergebnisse waren jetzt schon glänzend. Noch auf der Pazifika-Plattform würde Y-S damit beginnen, ihn auszubilden, zu erziehen, zu formen. Auf der Pazifika-Plattform würde es für Josh viel schwerer sein, die Marrano-Identität zu bewahren. Er würde den Einfluss auf Ari verlieren. Y-S würde Ari verschlingen und ihn zu einem ihrer faden Klone machen.

      Warum hatte sie Josh nicht lieben können? Es war ihre alte Ruhelosigkeit. Es war der Wurm in ihrem Herzen, der jeden Apfel zerfraß. Was Malkah zu Recht ihren Dybbuk nannte. So würde sie leben, bis sie eine alte, alte Frau war, und immer von dem Leben träumen, das sie mit dreizehn gekannt hatte, und sich immer in ein Paradies zurücksehnen, aus dem sie herausgewachsen war, als sei es ein hübscher Kinderlackschuh, halb so groß wie ihr erwachsener Fuß.

      Malkah wollte sie offensichtlich dahaben und versuchte, es ihr schmackhaft zu machen, indem sie so tat, als glaube sie Avrams astronomische Behauptungen über seine Maschine. Vielleicht war Malkah einsamer, als es schien. Shira war aufgefallen, dass sie Probleme mit den Augen hatte. Die alte Frau versuchte, ihr schwindendes Augenlicht zu verheimlichen, aber sie bewegte sich sehr viel rascher im Hellen und sehr viel langsamer im Halbdunkel. Sie sah nicht immer Gegenstände, die Shira von ihrem angestammten Platz entfernt hatte. Das musste bald, aber taktvoll zur Sprache gebracht werden. Avram und Malkah spielten beide immer wieder auf die Gefahr an, aber Tikva machte nicht den Eindruck einer belagerten Stadt. Sie hatte beide im Verdacht, stark zu dramatisieren, um ihr Interesse zu wecken. Unnötiger Wirbel; sie wusste zurzeit sowieso nicht, wohin sie sonst gehen sollte.

      10

Malkah

      War es gut, das zu tun?

      Als Riva noch ganz klein war, hatte sie schon einen unbändigen Willen. Selbst als Säugling schwoll sie vor Zorn, sie schrie sich krank oder sie hielt den Atem an, bis ich vor Sorge außer mir war. Mit zwei gewöhnte sie sich an, in höchster Lautstärke Nein zu sagen. Ich sehe sie immer noch in der Mitte des Hofes stehen und dieses eine Wort sagen, bis die Wände davon widerhallten, und dann verstummte sie und weigerte sich, auch nur einen Ton von sich zu geben. Wie sind wir dazu gekommen, uns schon so früh in einem Wettkampf des Willens zu verkeilen?

      Sie glich einer Katze darin, dass sie geschlossene Türen hasste. Eine abgeschlossene Schublade, ein unzugänglicher Kasten, ein geschütztes Programm, ein vor ihr verstecktes Buch machten sie unersättlich, so wie andere Kinder nach Bonbons oder Pommes Frites verlangen. Der Tipp, dass etwas ihr Verständnis übersteige, brachte sie dazu, sich jeden Wälzer einzuverleiben. Sie liebte es, sich leise heranzuschleichen, während ich mit anderen schwatzte, nur um Geschichten zu belauschen, die ihr nichts bedeuten konnten, über Leute, die sie kaum kannte. Bereits mit zwölf Jahren wühlte sie in der Basis herum, in jedermanns Personalakte, rein und raus, mein kleiner stupsnasiger Maulwurf. Dann schrie ich sie an: »Das Privatleben ist heilig! Du kannst nicht einfach in anderer Leute Geheimnissen herumstöbern.«

      »Das, was wir nicht wissen, macht uns dumm«, sagte sie dann mit trotzig hochgezogenen Schultern. Sie war nicht bereit, sich zu schämen. Wir sollten alle alles wissen.

      Wenn ich an mich selber mit zwanzig denke, sehe ich ein leidenschaftliches, konfuses Geschöpf, das nach Gefühlen grapschte und nach Ideen schnappte, so ungeduldig wie mein eigenes Kind nach Antworten und Befriedigung ihrer Neugier. Ich versuchte immer wieder, sie davon zu überzeugen, es so zu machen wie ich, versuchte, ihr Gehorsam einzureden. Meine Worte fluteten über sie hinweg, suchten ihre Granitklippen abzutragen. Ich redete und redete; sie stand stumm, verstockt.

      Du hast dich anfangs auch gesträubt zu sprechen. Weißt du noch, Yod? Manche sagen, dass Judahs Golem – was ›Masse, Klumpen‹ bedeutet – nicht sprechen konnte, aber das ist ein Irrtum, der auf anderen Golems der Legende beruht. Er plappert nicht, sondern ist schweigsam, wie es sich für einen Mann aus Lehm gehört. Aber als er in dieser Nacht von Rosch Chodesch im Monat Adar die grauen Augen aufschlägt, fragt er den Maharal: »Vater, war es gut, das zu tun?«

      »Es war notwendig. Und du sollst mich nicht Vater nennen.« Der Maharal hatte mit seinem einzigen Sohn, Bezalel, eine Beziehung durchgemacht, die stürmisch genug war. Bezalels Tod ist im Gefühl des Maharal immer noch ebenso bitter wie unnatürlich. Deswegen ist ihm die Anrede des Golems ein besonderes Ärgernis. Ein Sohn sollte seinen Vater begraben, nicht umgekehrt. Bezalel starb an einer Unpässlichkeit, einem Schnupfen, der auf die Lungen übergriff, genau wie Leah. Es war ein absurder Tod, der den Maharal immer noch grämte. Judah hatte versucht, seinen Sohn zu seinem Nachfolger als Hoher Rabbi von Prag bestimmen zu lassen, aber er war gescheitert, und Bezalel war im Zorn gegangen. Dieses Geschöpf, das er ins Leben gerufen hat, ist nicht sein Sohn. »Du sollst mich Rabbi nennen. Dein Name ist von nun an Joseph.«

      Der Maharal gibt dem Golem den Überwurf, in den er die Tora eingewickelt hatte, um seine Nacktheit zu bedecken, denn die drei haben ihn als Mann geformt. Sie haben es getan, ohne darüber nachzudenken oder zu sprechen. Der Maharal hätte wahrscheinlich gesagt, er glaube nicht, diese Formgebung verbessern zu können. Sie machten einfach einen Mann aus Lehm.

      »Joseph«, wiederholt der Golem gehorsam. Er kommt schwerfällig auf die Füße, schwankt und scheint zu stürzen, während der Maharal Itzak und Jakov vorschickt, ihn von beiden Seiten zu stützen. Sie empfinden offensichtlich Widerwillen, ihn zu berühren. »Kannst du gehen, Joseph? Schau, einen Fuß und dann den anderen. Einfach so.« Der Maharal macht es geduldig vor. »Wir müssen schleunigst vor der Dämmerung ins Ghetto zurück. Kommt, wir müssen ihm helfen. Ich kann die Dämmerung schon riechen. Wir müssen uns beeilen, sonst fangen uns die Wachen.«

      Aber niemand tritt vor, den Golem zu berühren. Der Maharal selbst verspürt einen Widerwillen, seine Hand auf dieses seltsame Fleisch zu legen. Würde er kalt sein wie Lehm? Würde er sich anfühlen, als sei er tot? Der Maharal muss mit gutem Beispiel vorangehen, und er legt einen Arm um das riesige Wesen.

      Der Golem schwankt vorwärts, den Mund leicht geöffnet, das Gesicht zusammengezogen vor Konzentration auf die Anstrengung. Er biegt sich wie eine Eiche in starkem Wind, er ragt über dem Maharal auf. Er hat kurzes rötliches Strubbelhaar und eine erdige Gesichtsfarbe. Der Maharal hat nicht auf Ansehnlichkeit geachtet, als er ihn machte, doch er ist auch nicht missgestaltet. Er hat einen kräftigen Nacken, breite Schultern, einen vierschrötigen Körper und massige, etwas flächige Züge, die an Tataren erinnern.

      Joseph tut zuerst einen Schritt, der ihn aus dem Gleichgewicht bringt, und wieder muss er gestützt werden. Jetzt endlich nehmen Itzak und Jakov auf beiden Seiten Stellung, bieten ihm Halt. Sein Gewicht wirft sie fast zu Boden. Dann tut er einen winzigen Schritt. Das funktioniert. Er tut noch einen winzigen Schritt. Auf die Art werden sie die ganze Nacht brauchen, um aus dem Wald zu gelangen. Ihn zu tragen steht völlig außer Frage, denn er ist größer als jeder von ihnen, und allein das Gewicht seiner Hand auf ihren Schultern verrät den beiden jüngeren Männern, dass er in der Tat schwer ist. »Ein wenig schneller, Freund«, ächzt Itzak unter Josephs Gewicht.

      Schließlich lässt Joseph sie los, und mit ungeschickten, ruckartigen Bewegungen geht er endlich. Schritt für Schritt. Dann stolpert er über einen Baumstamm. Er stürzt vornüber, schlägt mit dem Kinn dumpf auf den Boden. Als sie versuchen, ihn hochzuziehen und er sich müht, auf die Beine zu kommen, kracht er hintenüber.

      Es


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