Weihnachtswundernacht 2. Группа авторов
Читать онлайн книгу.kommen Sie zum Kern der Sache. Ich habe zu tun. Zeit ist schließlich Geld und somit teuer.«
Ich hoffte, mit diesen Worten unsere Begegnung zu einem raschen Ende zu bringen, obwohl ich ehrlicherweise zugeben muss, dass ich gar nicht so dringend beschäftigt war.
Doch solche merkwürdigen Gespräche sind mir immer unangenehm. Es gibt ja Menschen, die können Bände füllen mit ihren Ausschweifungen, ohne jemals wirklich etwas zu sagen, geschweige denn irgendwann einmal auf den Punkt zu kommen.
Der ältere Herr nickte unmerklich: »Genau deshalb bin ich hier!«, antwortete er mit einem fast feierlichen Unterton.
Jetzt wurde es mir aber doch zu bunt: »Weshalb sind Sie jetzt hier? Weil ich zu tun habe oder weil Zeit Geld ist? Oder weil Sie nicht so viel reden wollen? Ach … sind Sie vielleicht ein Geldbote vom Finanzamt? Natürlich, dass ich nicht gleich darauf gekommen bin! Kommen Sie doch herein. Die letzten Steuerabzüge kamen mir sofort etwas zu hoch vor. Ich zahle ja gerne meinen Teil, aber was zu viel ist, ist zu viel. Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?«
In einem Schwall von Worten und unter wildem Gestikulieren komplimentierte ich den Mann in unser Wohnzimmer und dort auf das Sofa, wo er nun ruhig und gelassen saß.
»Ja, ich trinke gern ein Glas Mineralwasser, wenn Sie so freundlich sind, aber vom Finanzamt komme ich nicht. Ich sagte ja auch nicht ›zurückerstatten‹, sondern ›schenken‹. Sie bekommen etwas geschenkt.«
Die Enttäuschung muss mir im Gesicht gestanden haben, denn Herr Nimmzeit rutschte mit einem entschuldigenden Gesichtsausdruck noch tiefer in das Polster der Wohnzimmergarnitur.
»Ich bin gekommen, um Ihnen etwas zu schenken, oder besser gesagt: Ich möchte Sie auf ein Geschenk aufmerksam machen!«
Nun wurde ich allmählich wirklich wütend. Da hatte sich dieser Alte unter Vorspiegelung falscher Tatsachen in unsere Wohnung führen lassen, besaß ganz nebenbei die Dreistigkeit, von mir etwas zu trinken zu verlangen, und nun wollte er mich lediglich auf ein Geschenk aufmerksam machen. Die ganze Sache war doch eindeutig faul, oberfaul sogar. Man kennt ja solche Typen: Erst erzählen sie einem lange und umständlich was von »Geschenk« und »alles gratis« und »Sie sind der Glückliche« und all dieses Zeug, und zum Schluss hat man dann, ehe man sich versieht, zwei Zeitschriftenabonnements und einen Staubsauger gekauft.
»Also, was ist das nun für ein Geschenk, von dem Sie da dauernd faseln?«, fuhr ich ihn giftig an.
Im selben Augenblick tat es mir schon wieder leid, denn die eben noch lebendigen Augen des alten Mannes schauten mich plötzlich traurig und müde an. Fast flüsternd sagte er: »Das Geschenk, auf das ich Sie aufmerksam machen wollte, ist die Zeit. Ich habe Ihnen Zeit geschenkt, aber Sie haben sie sich eigentlich nie wirklich genommen. Sie sind zu beschäftigt.«
Jetzt war es mir wirklich egal, wie traurig der alte Mann auch aussah, und ich erwiderte mit bestimmtem Unterton in der Stimme: »Sie wollen mir Zeit schenken, dass ich nicht lache! Zeit gestohlen haben Sie mir. Dauernd vergeuden Sie meine Zeit. Ich pfeife auf Ihr Geschenk!«
Herr Nimmzeit saß nun wieder aufrecht auf der vorderen Sitzfläche des Sofas, stützte sich mit den Armen auf die Knie und schaute mich ernst an: »Darin liegt das eigentliche Problem! Dass Sie glauben, Zeit zu besitzen und jederzeit über Zeit verfügen zu können. Sie wissen noch gar nicht, dass die Zeit ein Geschenk ist, sonst würden Sie anders über diese wundervolle Gabe, die ich Ihnen gebracht habe, reden. Jede Sekunde, jede Minute, jede Stunde, jeder Tag, jede Woche, jeder Monat und jedes Jahr ist ein Geschenk. Doch die Menschen haben all das vergessen. Für sie ist die Zeit wie eine Autobahn, die sie einfach gedankenlos benutzen und abfahren. Wie sehr sie dabei das Eigentliche übersehen, merken sie gar nicht. Gibt es wirklich einmal Straßenschäden, dann vertrauen alle darauf, dass die Macken schon wieder repariert werden. Glauben Sie wirklich, Sie seien im Besitz Ihrer Zeit? Sie sind nicht im Besitz Ihrer Zeit, sonst hätten Sie ja viel mehr davon. Sie besitzen eigentlich überhaupt keine Zeit, nicht mal ein kleines bisschen, und deshalb kann Ihnen auch niemand Zeit stehlen. Sie haben ja gar keine!«
Während der alte Mann mit den nun wieder leuchtenden Augen sprach, war ich ins Nachdenken gekommen. Irgendwie hatte er recht. Es war schon seltsam mit der Zeit. Da hatte man eigentlich den ganzen Tag zur Verfügung, vierundzwanzig lange Stunden, und wenn man einmal Zeit brauchte, war nie welche da. Immer gab es Termindruck, immer war irgendwo irgendetwas zu tun, zu verabreden, ja selbst die Freizeitgestaltung war streng durchgeplant. Und das letzte bisschen »freie Zeit« entwich in den sogenannten Entspannungsmomenten, die ich vor dem Fernseher verbrachte, wie im Flug. Ja, der Mann hatte recht, eigentlich hatte ich nie Zeit. In Wirklichkeit verfügte ich ziemlich gedankenlos über meine Lebensgestaltung.
Ich war derart in Gedanken versunken, dass ich fast nicht bemerkt hätte, wie Herr Nimmzeit sich still und heimlich aus unserer Wohnung zurückzog. Ich folgte ihm über die Treppe bis an die Haustür und bat ihn, doch wieder hereinzukommen. Ich wollte gerne noch so viel mehr über dieses Geschenk erfahren.
»Es ist alles gesagt«, lächelte der alte Mann, »das Weitere liegt nun an Ihnen!«
»Ja, aber … aber wie komme ich denn an dieses Geschenk heran? Wer schenkt mir denn nun die Zeit?«, rief ich ihm verzweifelt hinterher.
Herr Nimmzeit drehte sich noch einmal um, schaute mich mit ernster Miene an – obwohl ich heute nicht mehr sicher bin, ob er nicht doch ein hintersinniges Lächeln in den Mundwinkeln hatte – und sagte flüsternd: »Sie ist da. Die Zeit. Sie müssen sie sich nur nehmen. Wer das Geschenk anzunehmen und zu schätzen weiß, der wird immer reicher beschenkt werden!«
CLEMENS BITTLINGER
4. Dezember
Wartenwartenwarten
Wir warten. Immer warten wir. Auf besseres Wetter und bessere Zeiten. Und sagen, wenn sie denn endlich da sind, die besseren Zeiten, dass eigentlich doch früher alles besser gewesen ist.
Wir setzen auf die Zukunft, verklären die Vergangenheit und verpassen dabei die Gegenwart. Oft. Oft genug.
Wenn ich erst einmal das Abitur habe …
Wenn ich erst einmal die neue Wohnung habe …
Wenn ich erst einmal wieder gesund bin …
Wenn ich erst einmal im Ruhestand bin …
Dann!
Und wenn es gar nicht kommt, das »Dann«? Wenn uns nur das Jetzt bleibt?
Oder wenn wir entdecken, dass das Dann auch nicht anders ist als das Jetzt?
Dann warten wir eben weiter …
Warum warten wir eigentlich? Und worauf? Vor allem wohl, weil das Jetzt nicht alle Sehnsüchte stillt. Weil im Jetzt nicht alle Träume Wirklichkeit werden.
Wir warten wie Estragon und Wladimir in Samuel Becketts berühmten Stück »Warten auf Godot«, das 1953 in Paris uraufgeführt wurde.
Zwei Landstreicher warten an einem undefinierbaren Ort. Tag für Tag. Woche für Woche. Monat für Monat. Sie warten auf Godot. Den sie nicht kennen und von dem sie nichts Genaues wissen. Nicht einmal, ob es ihn überhaupt gibt. Am Ende jedes Aktes erscheint ein kleiner Junge und verkündet, dass sich Godots Ankunft weiter verzögert. Doch er kommt nicht. Ein ganzes langes Stück lang nicht. Umsonst gewartet. Umsonst gelebt.
Sind wir Estragon und Wladimir? Manchmal?
Wir warten, dass heil wird, was zerbrochen ist. Dass gesund wird, was krank ist. Dass gelingt, was misslungen ist.
Damit aber warten wir im Grunde auf den Himmel! Auf die Rückkehr des verlorenen Paradieses! Damit warten wir im Grunde – auf Gott!
Als ein kleiner Junge kommt. Ein ganz kleiner Junge. Und verkündet:
Gott