Die heimliche Geliebte. Ilka Sokolowski
Читать онлайн книгу.schaffte es, das Ding abzusetzen |67|und sich vor den Bauch zu pressen und ließ sich dann schnell auf einen Stuhl fallen, der neben ihr frei wurde.
Da saß sie nun, umklammerte den Rucksack, musterte die anderen, wartete auf einen Hinweis, ein Erkennungszeichen, irgendwas, und kam sich idiotisch vor.
»Kaffee und Kuchen?« Ein junges Mädchen mit weißer Schürze stand plötzlich neben ihr.
Leo bestellte Kaffee. Die Bedienung brachte eine neue Thermoskanne und eine Tasse und leerte den Tonbecher, der auf dem Tisch stand, in ihre Tasche.
»Pro Tasse fünfzig Cent, in den Becher bitte«, sagte sie und stellte ihn zurück auf den Tisch. Dann verschwand sie wieder in der Menge.
Die Leute glaubten hier tatsächlich noch an das Gute im Menschen. Offenbar funktionierte es. Leo ließ Kleingeld in den Becher fallen und spannte sich dann unwillkürlich an.
Da! – War das nicht …? Zwischen den vielen Köpfen schwebte ein Gesicht, das sie kannte.
»Katie!« Sie stand auf und winkte. »Hallo!«
Die Frau sah Katie ziemlich ähnlich, blickte auch in ihre Richtung, zeigte aber keine Reaktion – ganz im Gegensatz zu Leos näherer Umgebung, in der sich alle Köpfe umgewandt hatten. Einige lachten, die meisten musterten sie neugierig. Leo spürte, wie sie errötete, und setzte sich rasch. Die Frau war verschwunden.
Nachdenklich nippte Leo an ihrem Kaffee. Zwei Jahre waren eine lange Zeit. Sie hatte die Katie von damals in Erinnerung, mit blonden Locken und modisch gekleidet. Die Frau, die sie im ersten Moment für ihre Freundin gehalten hatte, musste viel älter sein. Ihr Haar war im Nacken zu einem strengen Knoten geschlungen. Alles in allem hatte Leo sie viel zu flüchtig wahrgenommen. Vielleicht hatte sie sich von einer vagen Ähnlichkeit in der Körperhaltung narren lassen oder von der leuchtenden Haarfarbe.
Sie versuchte sich wieder darauf zu konzentrieren, weshalb sie eigentlich hier war. Ludwig und die Notiz des toten Antiquars. |68|Wen sollte Onkel Ludwig hier treffen? Oder: Wer wollte ihn treffen? Eindringlich musterte Leo die Gesichter der Leute um sie herum und trank in ihrer Nervosität eine Tasse Kaffee nach der anderen, was nicht dazu beitrug, dass sie sich besser fühlte.
Eine Stunde später gab sie auf. Was für ein Blödsinn, hier zu hocken und auf den großen Unbekannten zu warten! Sie warf noch ein paar Münzen in den Becher, nahm ihren Rucksack und kämpfte sich wieder nach draußen.
Im Laden hatte die schlimmste Drängelei nachgelassen. Eine Bedienung kam erschöpft durch einen Hintereingang; sie trug einen großen Kasten mit Rosinenbrötchen vor sich her, kollidierte beinahe mit Leo und schimpfte laut.
»Das ist das letzte Mal, dass ich hier mitmache. Was für eine Hexenküche! Den ganzen Tag auf den Beinen, nur Hetzerei, und das alles für ein paar lausige Euro.«
Die Frau musterte Leo abschätzend und kam offenbar zu dem Schluss, dass sie einen Platz suchte. »Da drinnen ist unter Garantie alles voll. Es gäbe allerdings noch ein Plätzchen draußen im Hof, in der Laube …«, sagte sie mit vertraulich gesenkter Stimme. »Gegen ein kleines Entgelt natürlich, die Chefin sieht es nicht gerne, wenn Fremde da rumlaufen.«
»Oh, ich war schon in der Backstube und wollte gerade gehen.«
Die Frau zuckte die Achseln. »Wie Sie meinen. Es gibt genug Leute, die sich um den Logenplatz reißen.«
»Wieso Logenplatz?« Leo versuchte an ihr vorbei durch die offene Hintertür zu sehen.
»Man blickt direkt durch die Fenster in die Backstube und sitzt dabei lauschig unter Efeugestrüpp. Wollen Sie nicht doch …?«
Richtig, da war eine Laube, efeuumrankt und ziemlich dicht an der Hauswand. Auf dem Tisch stand eine halb geleerte Kaffeetasse. Wenn Onkel Ludwigs Verabredung in der Laube gewartet hatte, dann war sie nun fort. Leo ersparte sich eine Antwort und drängte sich auf die Straße hinaus. Der Himmel hatte inzwischen einen kränklichen Grauton angenommen. Die Marktbesucher kümmerte |69|das nicht, sie machten die zusätzlichen Kältegrade durch Wärme von innen wett. Alle Glühweinstände waren dicht umlagert.
Leo fühlte sich hin- und hergerissen zwischen Enttäuschung und Erleichterung. Sie war ganz dicht dran gewesen und hatte den mysteriösen Unbekannten knapp verpasst. Mit großer Wahrscheinlichkeit hatte er in der Laube gesessen. Und nun?
Nichts zu wissen, bedeutete auch, sich keine Sorgen machen oder mit möglicherweise unangenehmen Zeitgenossen auseinandersetzen zu müssen. Sie hatte es versucht, immerhin. Jetzt konnte sie nach Hause fahren, die ganze Sache vergessen und endlich mal die Umzugskartons auspacken. Sie schlenderte zurück und suchte sich bei den beiden Töpferfrauen eine schöne Tonschale mit blauem Zickzackrand aus. Am Ende der Straße entdeckte sie den berühmten Bitterschnaps. Der musste auch mit, unbedingt. Sorgfältig verstaute sie ihre Schätze in den Packtaschen und warf noch einen Blick zurück. Es dämmerte, aber das kleine Dorf feierte unter der nebligen Haube munter weiter.
Leo würde noch einmal wiederkommen und sich das Museum ansehen. Schon allein, um diesem Kommissar keinen Anlass mehr zu abfälligen Bemerkungen über ihren Wissensstand zu geben. Und tiefer in ihr, mehr Ahnung als Wissen, gab es noch einen anderen Beweggrund. Irgendetwas war an Ludwigs letztem Abend vorgefallen, etwas, das ihn veranlasst hatte, sich zu betrinken. Leo hatte die Spur aufgenommen und würde keine Ruhe geben, bis sie Antworten auf ihre Fragen bekam.
Sie warf einen Blick auf ihre Karte. Sollte sie jetzt noch einen Abstecher zu dieser Seniorenresidenz machen oder nicht? Die Straße führte auf der anderen Seite aus Wiedensahl heraus, über die Felder zur Straße, die aus Münchehagen kam. Anschließend ging es wieder ein Stück durch den Wald. Dann müsste sie nur noch einen kleinen Weiler namens Kreuzhorst passieren und wäre schon so gut wie am Ziel.
Leo wusste nicht, ob es klug war, aber sie hatte Lust, Katie wiederzusehen. Sie malte sich aus, wie sie zusammen lachen würden, |70|wenn sie ihr die verrückte Geschichte von Jablonsky und ihrem Undercovereinsatz in der Backstube erzählte. Waren die Ereignisse, die in der Vergangenheit zwischen ihnen gestanden hatten, nicht längst zu unwichtigen kleinen Schatten verblasst?
***
|71|Wiedensahl, den 20 ten Mai 1853
Wilhelm ist aus Antwerpen zurück und wie schwer gezeichnet. Er war fürwahr ernstlich erkrankt. Hätten seine holländischen Wirtsleute ihn nicht so aufopfernd gepflegt, wer weiß, wie es dann um ihn stünde – ohne Geld, krank und fern der Heimath. Mit einer roten Jacke und drei Orangen als Geschenk brachten sie ihn auf den Weg nach Haus, nachdem er leidlich wieder genesen. Doch es sind wohl auch andere Schläge, an denen er trägt, solche, die das Herz und den Geist schwächen. Die großen Meister wollte er studieren, als er nach Antwerpen gieng, angestachelt von dem Wunsche, es ihnen gleich zu tun. Doch statt sich zu ihnen emporzuschwingen, fiel er unsanft nieder. Er zweifelte an seiner Kunst. Was kümmern mich Rubens oder dieser Brouwer, dessen Name ich zuvor noch nie gehört hatte? Gleichfalls Tenius, oder der Hals, Frans mit Taufnamen, was können sie, daß er nicht kann? Oder es nicht zu können glaubt? Sie sind mir gleich.
Ich für mein Theil vertraue auf ihn. Er wird es schaffen.
Wie lange er wohl bleibt? Ich wollte ihm einen Besuch abstatten, jedoch er war nicht da. Noch habe ich nicht herausbekommen, wo er sich herumtreibt, wenn er nicht zu Hause ist. Wenn er mich nun nicht sehen will?
Trotz der traurigen Umstände bin ich froh, ihn wieder in meiner Nähe zu wissen. So in der Ferne und den Verlockungen der fremden Stadt ausgesetzt … Man weiß, wie Männer sind. Ich muß ein Auge auf ihn haben.
-5-
Sie hätte sich doch lieber auf den Heimweg machen sollen. Am Himmel ballten sich dicke Wolken und Leo befürchtete, genau in eine Regenwand zu fahren.
Im Wald lag die Dämmerung wie ein Mantel über Unterholz und Farnkraut. Was für merkwürdige Schatten Bäume haben konnten! Leo fuhr schneller, erreichte wieder