Totensteige. Christine Lehmann

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Totensteige - Christine Lehmann


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sich mit derselben Wahrscheinlichkeit auch am ersten Tag ereignen oder nach drei Monaten oder nie.«

      Ich hörte nicht mehr hin, bis Meisner rief: »Also, das mit Schrödingers Katze habe ich nie verstanden! Die Katze ist entweder tot oder nicht tot, wenn man den Kasten öffnet. Das ist doch banal.«

      Richards Augen funkelten erregt. »Gar nicht. Der Witz ist, dass die Katze weder tot noch lebendig ist, bevor man reinguckt.«

      »Meine Katze wird auch immer fetter, wenn ich nicht hin­gucke«, bemerkte Meisner.

      Das fanden Richards Sekretärin Roswita Kallweit und die junge Staatsanwältin zum Giggeln komisch, während der Leitende Oberstaatsanwalt Krautter verlegen lächelnd in seinem Kopf kramte, um irgendwas zu finden, was er dazu beisteuern konnte.

      »Schrödingers Katze«, sagte Richard, der zwar nur Apfelschorle trank, aber zu vorgerückter Stunde übermütig wurde, »ist das Gleichnis dafür, dass die Quantenphysiker einen an der Klatsche haben.«

      Meisner lachte. »So kenne ich Sie ja gar nicht … Richard!«

      »Doch, doch«, sagte er. »Der Physiker Erwin Schrödinger selbst«, er schaute belehrend in die Runde der Juristen und meiner ungebildeten Kleinigkeit, »einer der Erfinder der Quantenmechanik, der Theorie von den kleinsten Teilchen im Atom, stellte 1935 fest, dass eine Theorie Schwächen hat, wenn sie davon ausgeht, dass man das Verhalten von Atomen, Elektronen oder Lichtquanten nur erklären kann, wenn man annimmt, dass sie sich beispielsweise gleichzeitig an verschiedenen Orten befinden, bevor … ich betone … bevor man anfängt zu messen. Dann nämlich ändert sich alles. Der Beobachter, also das Messgerät vergibt einen exakten Wert. Was man nicht misst, bleibt unklar. So kann man beispielsweise sagen, wo sich ein Elektron befindet, aber nicht gleichzeitig auch, welche Geschwindigkeit es hat.«

      »Und was ist mit der Katze?«, fragte Roswita Kallweit besorgt. Katzen waren ihr Thema, an allen strategisch wichtigen Stellen ihres Büros befanden sich Katzenfigürchen oder Katzenbilder.

      »Ja, die Katze!« Richard kannte kaum ein größeres Vergnügen, als seine Wissensschatztruhe zu öffnen. »Stellen Sie sich das so vor: Eine Katze sitzt in einer verschlossenen Kiste. Wir sehen sie nicht. Mit ihr in der Kiste befindet sich ein Apparat mit radioaktivem Material, der Zyankaligas freisetzt, sobald ein Atom zerfällt. Man weiß: Innerhalb einer Stunde kann es einen Zerfall geben oder auch keinen. Die Wahrscheinlichkeit liegt genau bei 50 Prozent.«

      Kallweit und die junge Staatsanwältin nickten, LOStA ­Krautter starrte über sein Bier auf die Tischplatte und ließ sich seine Verunsicherung nicht anmerken. Meisner schnorrte bei mir eine Zigarette. »Ich hab’s vor zwanzig Jahren aufgegeben. Aber wenn man fünfzig wird, ist das Grab eh nicht mehr weit.«

      »Da wir in die Kiste nicht hineinschauen können«, redete ­Richard über Meisners Lebenskrise hinweg, »wissen wir nicht, ob die Katze noch lebt oder schon tot ist.«

      »Natürlich wissen wir das nicht«, rief Meisner. »Das ist banal. Wirklich! Prost, Richard!« Alle am Stehtisch hoben die Gläser. »Und wenn wir schon dabei sind … also, ich bin die Gesine. Aber das wissen Sie … das weißt du ja.«

      Meisner hangelte ihren Arm durch den von Weber und die beiden wurden zu Richard und Gesine, was in Kallweit sichtlich die Furcht auslöste, auch sie müsse ihren Chef künftig duzen. Das ist das Gefährliche an Geburtstagen kurz vor Mitternacht.

      Aber der Kelch ging an Roswita vorüber, denn Richard hatte es eilig, in seinem Thema weiterzukommen.

      »Das ist eben nicht banal, Gesine«, sagte er. »Denn die Quantentheorie sagt: Erst in dem Moment, wo wir reinschauen, nimmt die Katze einen der beiden Zustände an. Dann ist sie entweder tot oder lebendig. Bevor wir reinschauen, ist sie beides oder gar nichts davon, sie befindet sich sozusagen in einem Schwebezustand.«

      Das war jetzt nicht banal, dafür aber unvorstellbar.

      »Die arme Katze!«, bemerkte die junge Staatsanwältin.

      Kallweit nickte heftig.

      »Ja«, sagte Richard, »Schrödinger wollte mit diesem Bild darauf aufmerksam machen, dass etwas nicht stimmen kann mit den Quantentheorien. Das fand übrigens auch Einstein.«

      »Gott würfelt nicht!«, rief der Leitende Oberstaatsanwalt Krautter.

      »Sehr richtig!« Richard richtete seine asymmetrischen Augen auf den Chef der Justizverwaltungsangelegenheiten bei der Generalstaatsanwaltschaft, der zu schwitzen begann. »Aber vermutlich wissen Sie nicht, was Einstein damit meinte.«

      »Nun ja, Sie werden es mir bestimmt gleich sagen.«

      Richard lächelte. »Einstein gefiel es nicht, dass die Quantenmechanik den Zustand der Teilchen nur mit Wahrscheinlichkeiten angeben konnte. Er fand, Zufall gehört nicht in die Physik.«

      Mir gefiel das auch nicht.

      »Inzwischen gibt es eine Quantentheorie, die ohne Beobachter auskommt und trotzdem funktioniert. 2004 haben zwei Mathematiker mit neuen mathematischen Gleichungen gezeigt, dass Elektronen und Quarks sehr wohl objektiv existieren. Müssen sie ja auch, denn wie könnten wir, die Beobachter – oder eben die Katze –, sonst objektiv existieren? Wir bestehen letztlich auch nur aus Atomen und …«

      »Gnade!«, rief Gesine Meisner. »Es reicht. Ich weigere mich anzunehmen, dass Rosenfelds Tod irgendetwas mit Quantenphysik und Psi zu tun hat. Ich weiiiigere mich!«

      »Wieso?«, flutschte es mir aus dem Mund, noch bevor ich die Dimension ahnte. Der Tumult der Party zog sich plötzlich hinter eine Lärmschutzwand zurück, die unseren Tisch umfing. Gleichzeitig verloren die Staatsmächte aus den Augen, dass ich nicht dazugehörte und sie mir gegenüber Stillschweigen hätten bewahren müssen.

      »Dann ist also immer noch nicht geklärt, wie der Beschuldigte wieder aus dem Raum hinausgekommen ist«, bemerkte Krautter.

      »Die Operative Fallanalyse arbeitet daran.«

      »Warum hat er Rosenfeld eigentlich das Herz rausgerissen?«, fragte ich.

      Richard ächzte.

      »Und was sagt er zu den Steinchen?«, fragte Krautter.

      »Steinchen?«, wiederholte Kallweit.

      »Ja.« Meisner lehnte sich über den Tisch, der unter ihrem Gewicht wankte. »Es fanden sich Kiessteine im Blut und im offenen Leib. In Rosenfelds Ohrläppchen steckte eine Stecknadel. Verzeihung, Richard.« Sie grinste.

      Er lächelte schmallippig. In der ganzen Stuttgarter Staatsanwaltschaft war bekannt, dass er empfindlich war, wenn es um Leichen ging. Deshalb hatte er sich in Verbrechen mit Zahlen verbissen. »Nun ja«, bemerkte er, um sich vor den Damen keine Blöße zu geben, »was der Kerle mit dem Herzen gemacht hat, ist unschwer zu erraten.«

      Meisners Augen schwammen zu ihm hinüber. »So?«

      »Er hat es zu Asche verbrannt, mit Wasser vermischt und getrunken oder einem anderen zu trinken gegeben.«

      »Iiiih!«, riefen Kallweit und die junge Staatsanwältin.

      »Ein alter Brauch aus Rumänien, aus Transsilvanien, genauer gesagt.«

      »Ich bitte dich, Richard«, stöhnte Meisner mit großer Handbewegung, »erzähl du mir jetzt nicht, dass Rosenfeld ein Vampir war!«

      »In Rumänien sagt man Strigoi. Vor fünf oder sechs Jahren habe ich in der Zeitung gelesen, dass einige Männer in einem Dorf in Rumänien ein Grab aufgemacht, dem Toten das Herz herausgeschnitten, es verbrannt und die Asche in Wasser gelöst getrunken und seinen Verwandten zu trinken gegeben haben.«

      »Und wozu?«, fragte Meisner.

      »Weil ein Strigoi Unglück und Tod über die Lebenden bringt.«

      »Zum Glück sind wir aber in Deutschland«, bemerkte ich.

      »Keine Chance, Lisa!«, antwortete Richard vergnügt. »Hier nennt man sie Nachzehrer. Man kennt sie seit Pestilenzzeiten. Da hat man erfahren, dass tote Leute, sonderlich tote Weibs­personen,


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