Totensteige. Christine Lehmann

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Totensteige - Christine Lehmann


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junge Staatsanwältin, die sein Lächeln erwiderte.

      »Und bei solchen Schmätzern«, fuhr Richard fort, »hat die Pest gemeiniglich heftig zugenommen. So hat es ein gewisser Pfarrer Bohemus um sechzehnhundert festgestellt. Auch im ­Hexenhammer, 1486, findet sich ein Bericht von einer Frau, die im Grab ihr Leichentuch verschlinge. Die Pest, heißt es, werde nicht eher enden, als bis die Hexe das Tuch ganz verschlungen habe. Man öffnete das Grab und fand das Tuch durch Mund und Hals schon halb verschlungen. Der Schulze schlug der Toten mit dem Schwert den Kopf ab, und von Stund an hörte die Pest auf.«

      »Mir ist nichts bekannt, dass in Holzgerlingen die Pest grassiert«, bemerkte ich.

      »Das ist doch abartig!«, rief die junge Staatsanwältin. »Worauf Menschen so alles kommen!«

      »Es ist gar nicht so verwunderlich«, erwiderte Richard und wandte sich der in Rot geschlagenen jungen Frau zu. »Damals wusste man nichts über Leichen. Aber in Pestzeiten hat man frische Massengräber immer wieder öffnen müssen. Da sah man halb verweste Leichen und den Bakterienfraß in Leichentüchern und glaubte, sie holten die Lebenden herunter. Tatsächlich starben ja auch reihenweise Menschen.«

      Ein Schauer schüttelte Meisner. »Richard, ich würde gerne noch ein paar Jährchen leben!« Bisher hatte ich geglaubt, die rundliche brünette Staatsanwältin vom Dezernat Tötungsdelikte lasse sich nur von einer Bäckertheke voll süßer Stückle aus der Ruhe bringen. Und Richard wiederum konnte merkwürdig kaltsinnig über historische Kadaver sprechen.

      »Luther hat sich dagegen verwahrt und …«

      »Bleib mir fort mit dem elenden Wüstgläubigen!«, rief ich und bekreuzigte mich.

      »Es ist durchaus bedenkenswert, Lisa, was Luther einem Pfarrer antwortete, der von einem Schmätzer im Grab berichtete, der das halbe Dorf mit in den Tod zöge. Luther meinte, nur wer daran glaube, werde dahingerafft. Es ist der Teufel selbst, der uns Menschen mit Gespenstern narrt. Wer um Vergebung der Sünden betet, wird gerettet.«

      »Folglich ist Juri Katzenjacob kein Protestant«, stellte ich fest.

      Meisner nickte. »Daher auch der Rosenkranz.«

      »Bitte?«

      »Rosenfelds Hände waren mit einem Rosenkranz gefesselt … oder umschlungen, wie man es nimmt.«

      »Ja, wenn man verhindern will, dass einer zum Nachzehrer wird«, mischte sich Richard erneut ein, »muss man ihm den Mund verschließen, die Augen zudrücken und die Hände fesseln. Je Region gibt es dann noch ein paar Besonderheiten. Zum Beispiel …«

      »Knoblauch!«, sagte die junge Staatsanwältin, die von der Aufmerksamkeit des Leitenden Oberstaatsanwalts verleitet wurde, ihre eigene Bedeutung zu überschätzen.

      »So lesen wir es bei Bram Stoker. Töten kann man sie, indem man ihnen den Kopf abschlägt, sie verbrennt oder ihnen einen Eichenpfahl ins Herz rammt. Aber hier geht es darum, wie man verhindert, dass ein Verstorbener zum Nachzehrer wird. Und diese Maßnahmen wendet man bis heute an. Ist Ihnen das schon mal aufgefallen, junge Kollegin?« Richard kriegte sie alle, vor allem jene, die glaubten, sie könnten mitreden, weil der Stellvertreter des Generalstaatsanwalts sie aus dem Kreis herausgelächelt hatte. »Augen zudrücken, Mund schließen, bei den Katholiken noch der Rosenkranz …«

      »Aber Rosenfelds Augen waren nicht einfach zugedrückt, sie waren zugeklebt«, unterbrach ich das patriarchale Kleinen-Mädchen-Angst-Machen. »Sein Mund auch.«

      »Und in seinem Ohrläppchen steckte eine Nadel. Als Reminiszenz ans Pfählen. Da hast du, Gesine, übrigens einen Hinweis auf das Dorf im slawisch-griechischen Verbreitungsraum des Vampirglaubens, aus dem Katzenjacob vermutlich stammt.«

      »Er stammt aus Sigmaringen«, bemerkte ich.

      »Nein«, widersprach Gesine Meisner. »Juri wurde im Alter von sechs Jahren aus Rumänien adoptiert. Er befand sich zuletzt in einem Bukarester Waisenhaus. Wo seine Eltern lebten, ist nicht bekannt. Aber vielleicht …« Sie überlegte. »Haben wir einen Vampirexperten beim LKA?«

      Krautter gab vor, dies ernsthaft zu überlegen.

      »Und der Kies«, fragte ich, »was spielt der für eine Rolle?«

      Staatsanwältin Meisner richtete sich auf. »Da bin ich aber mal gespannt, Richard!«

      »Ein numerologischer Trick. Man kann auch Samen nehmen. Der Nachzehrer muss sie zählen, bevor er andere Seelen verzehren kann. Weil aber ein Nachzehrer des Teufels ist, kommt er niemals über die heilige Zahl 3 hinaus, denn die kann er nicht aussprechen.«

      »Hm.« Meisner legte den Kopf schief. »Und wie soll ein Nachzehrer mit geschlossenen Augen zählen? Ganz abgesehen davon, dass er ja keiner mehr ist, wenn man ihm Augen und Mund verschlossen hat.«

      »Logik ist nicht das Instrument, um dem Aberglauben beizukommen, Gesine.«

      Meisner stöhnte. »Na, wunderbar! Da hat uns Katzenjacob vor einem Vampir gerettet.«

      Richard schmunzelte, als sei er Herr über alle finsteren Mächte dieser Welt.

      »Wieso eigentlich«, überlegte ich laut, »ist Rosenfeld dem Juri Katzenjacob wie ein Nachzehrer vorgekommen? Was sagt er denn dazu?«

      Meisner seufzte. »Er sagt gar nichts.«

      »Habt ihr es schon mal mit dem guten alten rationalen Cui bono probiert?«, fragte Richard. »Wem nützt Rosenfelds Tod?«

      »Unserem Beschuldigten jedenfalls nützt er nichts. Und du wirst jetzt nicht ein neues Fass aufmachen, Richard.«

      »Könnte doch sein, dass Juri nur der Auftragskiller war«, schlug ich vor.

      »Warum sollte er uns dann seinen Auftraggeber nicht nennen?«

      Richard öffnete den Mund, klappte ihn aber wieder zu.

      »Und zu vererben hatte Rosenfeld nur ein paar Tausend Euro«, fuhr Meisner fort. »Seine Frau hat sich vor fünfzehn Jahren von ihm scheiden lassen und in Berlin einen Staatssekretär geheiratet. Die gemeinsame Tochter ist inzwischen eine gut verdienende Journalistin beim rbb in Berlin, sie ist kinderlos und verheiratet mit dem Pressesprecher eines Konzerns. Für Peanuts geben die keinen Mord in Auftrag.«

      »Und die Burg Kalteneck? Wem gehört die?«

      »Einer gewissen Edmund-Gurney-Stiftung.«

      »Ach«, sagte Richard.

      »Rosenfeld hat sie vor zehn Jahren der Stiftung überschrieben, weil er die Renovierung der Burg wegen seiner Scheidung nicht bezahlen konnte. Davor, bis in die Achtziger, gehörte sie einem Ehepaar, das sie wiederum in den Siebzigern von einem Mann erworben hatte, der ebenfalls wegen einer Scheidung den Unterhalt nicht mehr zahlen konnte.«

      »Ein Fluch liegt auf der Burg«, bemerkte ich.

      »Der Mann betreibt heute in Nördlingen einen Drehorgelverleih. Er hatte die Wasserburg in völlig desolatem Zustand erworben und mit den ersten grundlegenden Instandsetzungen beginnen können.«

      »Und dabei hat der Scherzbold in den Raum, wo Rosenfelds Büro untergebracht ist, eine Geheimtür eingebaut.«

      »Wir haben ihn danach gefragt. Der Architekt und die Handwerker wissen auch nichts von einer Geheimtür.«

      »Und wer ist Edmund Gurney?«, fragte ich.

      »Ein englischer Philosoph. Mitbegründer der Society for ­Psychical Research in London. 1882 war das. Die erste gemeinschaftliche Anstrengung unserer Gesellschaft, den unkontrollierbaren Mächten von Zauberei, Magnetismus und Hellseherei Einhalt zu gebieten, sie aus den schummrigen Hinterstuben ins Licht der Labore und der Naturwissenschaft zu holen.« Richard griff zufrieden nach seinem Schorleglas und sagte in einem Ton, als müsse er sein abseitiges Wissen erst mühsam aus den Regalen holen: »Ich meine mich zu erinnern, dass es dieser Gurney war, der erstmals Kriterien für paranormale Erscheinungen aufstellte: Berichte nur aus erster Hand und durch einen Zeugen bestätigt. Besonders interessierte ihn das, was er Krisen-Erscheinungen nannte. Irgendwo befindet sich eine


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